Wenn die Rheinischen Philharmoniker im Kölner Kronleuchtersaal auftreten, wird das kein Schlosskonzert. Sondern das genaue Gegenteil. Wer besagten Saal betreten will, stolziert keine barocke Prunktreppe hinauf. Er zwängt sich durch ein enges gemauertes Stiegenhaus, das sich unter einer gruftähnlichen Stahlklappe versteckt, die wiederum an einer Ecke der Grünanlage am Theodor-Heuss-Ring in der nördlichen Kölner Neustadt liegt. Und er nimmt sich besser einen der kleinen Pfefferminzstrauchzweige mit, die eine freundliche Dame mit den Empfehlungen der Kölner Stadtentwässerungsbetriebe am Eingang zum Orkus anreicht.
Der gemauerte Saal am Ende des Ganges wurde 1890 eingeweiht. Eine verzierte Gedenktafel an der Stirnwand erinnert an die für den Bau verantwortlichen Stadtoberen. Zwei Abwassersammelkanäle treffen dort zusammen, um vereint in Richtung Klärwerk weiterzufließen. Auf einer kleinen, an einen Bahnsteig erinnernden Plattform in dem etwa viereinhalb Meter hohen Tonnengewölbe ist genug Platz für etwa fünf Dutzend Klappstühle und vier Musiker.
Kronleuchtersaal heißt diese Höhle, weil auch Wilhelm II. sich das brandmoderne Bauwerk im Jahr seiner Einweihung anschauen wollte und man aus diesem Anlass zwei Kronleuchter unter die gemauerte Decke hängte. Der Saal ist also einer der ganz wenigen Orte, die selbst ein Kaiser zu Fuß aufsucht.
Und er riecht auch ganz genau so. Die Abwässer fließen munter plätschernd in braunem Strome hinter einem etwa kniehohen Mäuerchen vorbei. Gelegentlich dringt lautes Wasserplatschen ans Ohr, wenn in einem der größeren Wohnblöcke in der Nachbarschaft ein Sammelbehälter seine Pforten öffnet. Ja, das ist alles live, meine Damen und Herren.
Warum um alles in der Welt finden an so einem Ort klassische Konzerte statt? Ganz einfach: Die Akustik in dem Raum mit den drei Röhren ist einzigartig. Und so sitzt an diesem schönen warmen Sommerabend ein etwas flach atmendes, festlich gekleidetes Publikum auf den Holzstühlen mehrere Meter unter dem Erdboden, lauscht Bach-Klängen und versucht gleichzeitig, so gut es eben geht, die Bach-Geräusche und -Gerüche zu ignorieren.
Klassik in der Kanalisation. Samt einer Zugabe, die sich – mit Einverständnis des Publikums – nicht allzusehr in die Länge zog. Ein wahrlich unterirdisches Konzert. Musik, die man noch Tage später im Ohr hat, ist schon selten genug. Diese hier hatte man auch tagelang noch in der Nase.
Es ist Samstag, es ist früher Nachmittag, ich sitze wieder vor dem Bildschirm. Mal wieder. Seit geschätzten zwei Wochen schlage ich mich Tag für Tag, Nacht für Nacht mit einem der beliebtesten Luxusprobleme des frühen 21. Jahrhunderts herum: Was für eine neue Kamera soll ich mir nur kaufen?
Für einen mit der Bedienung des Internets vertrauten Menschen ist die Anschaffung eines neuen technischen Produkts normalerweise eine Sache von höchstens zwei, drei mehr oder weniger vergnüglichen Abenden am Rechner. In erster, grober Vorauswahl legt man sich auf eine Produktkategorie fest, definiert ein paar der wichtigsten Anforderungen und Must-Haves auf einer Stichpunktliste und stürzt sich alsdann mit Wonne in die schöne bunte Welt der Fachseiten, Testberichte und Amazon-Rezensionen. Schnell kristallisieren sich die ersten Favoriten heraus, die dann noch einmal einer genaueren Gegenüberstellung mit Hilfe einer Pro-und-Contra-Aufstellung unterzogen werden. Hat sich schließlich der Sieger herausgeschält, wirft man Idealo & Co an, um den günstigsten Preis herauszufinden und bestellt zuletzt beim Onlineversand seines Vertrauens oder schaut – wenn der örtliche Einzelhandel preislich halbwegs mithalten kann, was zu hoffen ist – im Fachgeschäft vorbei. Am Ende kommt der DHL-Mann, Zettel im Briefkasten („heute jedoch nicht!“), Abholakt auf dem Amt, fertig.
Nicht so ich, nicht so in puncto Kamera. Anlass der Kaufblockade ist eine bevorstehende Indonesienreise im Herbst, die ich zum Anlass genommen habe, meine bildtechnische Ausstattung einmal einer Revision zu unterziehen. Es folgt der Aufmarsch der Gladiatoren, symbolisiert durch Testbilder vom abendlichen Balkon:
Fotografiert mit Fuji Finepix S9500
Da wäre zum ersten die treue Bridgekamera Fuji S9500 von 2006. Jahrelang hat sie mir treu Tausende von Fotos für Zeitungen und mein Blog produziert. Ihr 10-Megapixel-Festobjektiv zoomt mit beeindruckenden 28 bis 300 Millimetern. Dank ihres ausklappbaren Displays habe ich als frischgebackener Jungredakteur zum ersten Mal Fotos aus ungewohnter Perspektive schießen können und die angenehme neue Erfahrung machen dürfen, statt „Herr Heckert hat ja manchmal ein bisschen Probleme mit dem Fotografieren“ hören zu dürfen: „hey, schönes Bild“. Aber die Bildqualität selbst hat mich noch nie wirklich umgehauen – ich fand die Fotos grundsätzlich zu verrauscht. Zehn Zentimeter weniger Zoom, dafür etwas mehr Lichtstärke wären fein gewesen.
Fotografiert Canon Powershot A2000 IS
Die handliche Pocket Canon A2000 IS, angeschafft 2008, hat sich vor allem auf Touren und als tägliche Alltagsknipse gut bewährt. Bei ihr und der Fuji war die Kaufvoraussetzung, dass sie mit handelsüblichen 1,5-Volt-AA-Batterien laufen – die man zur Not selbst in Timbuktu in jedem Gemischtwarenladen nachkaufen kann. Ihr Display ist allerdings nicht schwenkbar, was Aufnahmen über Kopf und aus der Froschperspektive erschwert. Außerdem haben sich auf dem Sensor offenbar Staubkörner abgesetzt, was bei geblitzten Aufnahmen im Dunklen arg stört. Die Bilder sind okay und deutlich lichtstärker als die der Fuji, wobei die A2000 IS einen gewissen Hang zu romantischer Verklärung hat. Siehe oben.
Fotografiert mit Canon EOS 300D
Der Dritte im Bunde ist eine Canon EOS 300D von 2003, meine erste digitale Spiegelreflex. Wunderbar geeignet zum Üben von Belichtung, Blende und ISO-Werten. Besonders schweres, wertiges Gehäuse. Liegt von allen dreien am besten in der Hand. Ihre Nachteile: Die Auflösung ist mit 6 Megapixeln eher gering. Das relativ kleine Display bietet keine LiveView-Vorschau und lässt sich ebenfalls nicht herausklappen oder -schwenken. Dafür sind die Bilder am besten. Hier noch ein zweites – man beachte, wie schön das Rot der Blumen im Vordergrund noch leuchtet:
Fotografiert mit Canon EOS 300D
Soweit der Ist-Zustand. Eigentlich sollte es doch nicht schwer sein, im selbstgesteckten Preisrahmen von 500 bis 800 Euro einen halbwegs geeigneten aktuellen Nachfolger zu finden. Zumal viele Versandhändler und Elektronikmärkte 0%-Finanzierungen anbieten und die beiden größten Hersteller Nikon und Canon im Juli mit Cashback-Aktionen den Käufern zwischen 50 und 80 Euro per Scheck zurückerstatten.
Doch schon bei der ersten grundsätzlichen Entscheidung für den Kameratypen drehe ich mich jetzt seit zwei Wochen im Kreis. Dann so alternativlos wie noch vor drei, vier Jahren sind die Einsteiger-Spiegelreflexkameras von Nikon, Canon & Co. gar nicht mehr. Die neue Klasse der Systemkameras macht ihnen ganz schön Dampf unter den Bodys. Und auch die High-End-Pocketkameras von Canon und Nikon kratzen an der Tür zur Oberstufe. Drei ganz verschiedene Kameraklassen stehen also zur Debatte.
Fangen wir mit den klassischen Kompakten an. Sagte nicht schon Konfuzius: „Die beste Kamera ist die, die man dabei hat“? Darum wollte ich mir schon vor Jahren eine Canon Powershot G12 als Universalknipse zulegen. „Built like a tank“ hieß es über ihre Verarbeitungsqualität gerne in amerikanischen Vergleichstests; mittlerweile ist sie allerdings unter anderem von der G1X mit einem größeren Sensor überholt worden (der direkte Nachfolger G15 hat kein Schwenkdisplay mehr und scheidet daher aus). Nikon schickt die P7700 ins Rennen, die im Gegensatz zum Vorgänger P7100 nun endlich auch ein bewegliches Display hat.
Reizvolle Alternativen sind die günstigeren Samsung-Modelle EX1 und vor allem EX2F: Die beiden Koreaner sind noch kompakter, aber ähnlich wertig verarbeitet wie die Platzhirsche aus Japan. Die EX2F bietet 12 Megapixel und ist mit Bord-WLAN und NFC besonders gut vernetzt.
Eins aber können alle Kompakten nicht: den Spiegelreflex- und Systemkameras das Wasser reichen. Alle Tester sind sich einig: Ganz oben auf der Qualitätsskala spielen die Fotos der Festobjektivkameras nicht mit. Die eierlegende Wollmilchsau gibt es nicht. Wechselobjektive für verschiedene Motivanforderungen logischerweise auch nicht – one size fits all. Aber wenn wir schon 500 Euro und mehr ausgeben, sollte da nicht die Bildqualität eine der wichtigsten Anforderungen sein?
Was uns zur spannendsten der drei Geräteklassen bringt: den Systemkameras. Viele Vergleichsreihen bescheinigen etwa der NEX-Reihe von Sony deutlich bessere Bilder als mancher Mittelklasse-DSLR. Warum also noch einen voluminösen Klappspiegelmechanismus in einem noch voluminöseren Gehäuse mit sich herumschleppen, wenn am Ende das selbe 16 Megapixel-JPG herauskommt? Also überspringen einfach wir das Zeitalter der Dinosaurier mit ihren steinzeitlichen mechanischen Spiegeln! Denken wir in neuen Kategorien!
An der Spitze der Systemkamera-Bestenlisten stehen die Sonys NEX-Modelle. Die NEX-6 etwa war im Dezember 2012 „Editor’s Choice“ bei CNet. Die etwas günstigere NEX-5R ist mit ihrem 16-50er-Objektiv flach genug für jede Tasche und schon für knapp unter 600 Euro zu haben. Ihr Display ist wunschgemäß klappbar, sogar WLAN hat sie dabei. Bingo!
Bingo? Gegen die NEX-5 spricht, dass sie keinen eingebauten Blitz hat, nur einen zum Aufstecken. Die Kit-Objektive 18-55 und 16-50 mm bleiben, wie alle Kit-Scherben, hinter den Möglichkeiten der Kamera zurück. Wirklich viele Wechselobjektive gibt es für Sonys E-Bajonett auch noch nicht. Das Bedienmenü wird als arg unübersichtlich kritisiert.
Und noch ein Gedanke: Für die allermeisten Schnappschüsse ist doch eigentlich schon bei weitem ausreichend, was heute jedes moderne Smartphone an Bord hat. Braucht man da wirklich zwei Kameras in der Jackentasche? Schon beim vorletzten Segelfluglager in Feurs habe ich die Canon A2000 IS zu Hause gelassen und nur mit meinem iPhone 4 fotografiert. Die Fuji nehme ich schon seit Jahren nicht mehr auf Reisen mit: Der Qualitätsvorsprung gegenüber der kleinen Canon, soweit überhaupt vorhanden, rechtfertigt das Mehrgewicht und die störende große Kameratasche nicht.
Bleibt noch die gute, alte Königsklasse: die Spiegelreflexkamera. Angenehm schwer liegt sie in der Hand, das Gehäuse verträgt schon mal einen Schlag und leicht lassen sich mit so einem schwarzen Klotz in der Hand beim Pressetermin Bürgermeister, Geschäftsführer und Vereinsvorsitzender zum Klassenfoto herumscheuchen (was für einen Journalisten tatsächlich ein nicht von der Hand zu weisendes Kaufkriterium sein kann). Die Modelle der Marktführer sind um Dutzende von Objektiven und Blitzgeräten erweiterbar und erfreuen mit erwiesenermaßen hervorragender Bildqualität. DSLR: das ist zwar Technik aus dem 19. Jahrhundert, aber eben auch absolut ausgereift. Eine nachhaltige Entscheidung für viele Jahre – da weiß man, was man hat, guten Abend.
Oberhalb der absoluten Einsteigergeräte in diese Klasse liegen die beliebten EOS 700D von Canon und D5200 von Nikon. Die Nikon mit ihrem 24-Megapixel-Sensor liegt in allen Vergleichstests vorne, die Canon kann dafür als einzige DSLR mit einem Touch-Display beeindrucken – als Smartphone-Nutzer ahnt man, was das für den tatsächlichen Einsatz bedeutet. Ansonsten tun sich die beiden Standardkameras im unteren Preissegment im direkten Vergleich nicht viel. Zufriedenheit ist bei beiden quasi garantiert.
Aber: Nimmt man so ein schweres Teil denn auch wirklich noch mit auf Touren? Hat man nicht im Gedränge immer Angst um die Tasche mit ihrem teuren Inhalt? Olympus wirbt für seine PEN-Systemkameras mit der Aussage: „90,2% der Zeit bleiben DSLR-Kameras in der Schublade“.
Klares Patt also. Und dann waren da noch die Quereinsteiger im Spiel: Die Panasonic Lumix G6 etwa, eine neue Systemkamera mit hervorragender Bildqualität, WLAN und NFC. Kaum kleiner als eine Spiegelreflexkamera allerdings – dafür sicher gut zu handhaben. Oder die Spiegelreflex Sony Alpha SLT-A57, die mit ihrem halbtransparenten Spiegelsystem von der Bildqualität her ganz oben mitspielt.
Besuche im Elektronikmarkt sollten Klarheit bringen. Doch sie warfen nur alle Erkenntnisse wieder über den Haufen. Betrat ich das Gebäude mit der Nikon D5200 als Favoriten, verließ ich es mit der Canon EOS 700D im Kopf. Zu schlecht ließ sich das Nikon-Gehäuse mit der rechten Hand halten, vor allem die Auflagefläche für den Daumen ist viel zu klein. Die Systemkamera Sony NEX-5R wiederum, auf die ich besonders gespannt war, entpuppte sich als so zierlich und fragil, dass ich vor allem ihrem Klappdisplay jahrelangen härteren Einsatz nicht zutrauen mochte.
Dafür tauchten plötzlich völlig neue Sterne am Himmel auf: Die Canon EOS 60D zum Beispiel, eine schon etwas in die Jahre gekommene Mittelklasse-Spiegelreflex von 2010, deren 18-MP-Sensor aber noch bis in die aktuelle 700D hinein verbaut ist. Der Youngtimer kann mit einem spritzwassergeschützten Gehäuse aufwarten, das rechts auf der Oberseite über dem Handgriff eine klassische – und sogar beleuchtete – Digitalanzeige für die Kameraeinstellungen hat. WiFi, GPS, einen Touchscreen oder gar NFC sucht man dagegen vergebens.
Als ich sie in die Hand nahm, wusste ich: So muss sich eine Kamera anfühlen. Über den mit 799 Euro (inklusive 18-55er Kitobjektiv) erstaunlich günstigen Preis im Markt (die neue EOS 700D kostet dort, mit allerdings neuerem Objektiv, 719 Euro) wunderte ich mich nur so lange, bis Google mir zu Hause verriet, dass vor nicht einmal zwei Wochen der Nachfolger 70D vorgestellt worden ist. Worüber mich der freundliche Canon-Berater im Markt mit einem nebulösen „ein Nachfolgemodell wird natürlich in Vorbereitung sein, aber genaueres kann ich Ihnen auch nicht sagen“ klar im Unklaren gelassen hatte. Die 70D selbst fällt mit ihrem angekündigten Preis von 1200 bis 1500 Euro je nach Kit-Objektiv übrigens ebenso klar aus dem selbstgesteckten Preisrahmen heraus. Die 60D dagegen gibt’s im Zuge der aktuellen Cashback-Aktion schon ab 680 Euro mit dem 18-55er-Kit-Objektiv.
Und dann ist da noch die kleine Systemkamera Samsung NX300. Ein weiterer Überraschungsgast an der Spitze des Pelotons, der wie aus dem Nichts nach dem Gelben Trikot greift. Der Blick auf ein Samsung-Verkaufsdisplay im Laden mit mehreren Kameras und Tablet-PC war lohnend. Die NX300 besticht mit einem überaus edlen Gehäusefinish, liegt sehr angenehm in der Hand, hat ein durchaus solide wirkendes Klappdisplay und eine ganze Palette an Vernetzungsmöglichkeiten von WLAN über NFC bis zur direkten Anbindung von E-Mail- und Facebook-Account. Whow. Wenn Systemkamera, dann so, gerade wenn man gerne multimedial unterwegs ist.
Also immer noch keine Entscheidung, nicht einmal für die Kameraklasse. Wer weiß, welches Modell sich morgen in mein sehnendes Hirn schiebt? Die Panasonic Lumix G6? Die Olympus PEN E-PL5?
Geh mir weg mit deiner Lösung!
Sie wär der Tod für mein Problem.
Jetzt lass mich weiter drüber reden
– ist schließlich mein Problem
und nicht dein Problem. (Annett Louisan)
Es ist Sonntag, es ist drei Uhr nachts, ich sitze immer noch vor dem Bildschirm. Danke für Eure Aufmerksamkeit.
Nicht, dass Ihr glaubt, hier passiert nichts. Das Blogrecycling geht munter weiter: 30 neue alte Beiträge von 2011 bis 2008 sind übers Wochenende liebevoll hierhin umgetopft worden. Zum Beispiel:
Was zu lesen? Bitteschön: Der Reisebericht zur dritten Schottlandfahrt 2009 ist jetzt hier zu lesen. Ja, es hat etwas gedauert, aber dafür könnt Ihr dem Moorbraunen jetzt mit Hilfe von fast 70 Bildern über die rund 4200 Kilometer in zwölf Tagen folgen, die das Ganze damals gedauert hat.
Ihr seht, hier wird gerade gebaut. Die alten Seiten Moorbraun.de und Pilotblog.de werden hier schrittweise unter Marc-Heckert.de zusammengeführt. Ich wollte schon längst auf WordPress umstellen – Moorbraun lag seit 2005 bei Twoday.net, und in diesen sieben Jahren hat sich am System dort praktisch nichts verändert. Nicht einmal die kaputten Links aus dem Bezahlformular wurden repariert. Und weil die Twoday-Seiten langsam immer langsamer laden, wurde mir langsam Angst und Bange.
Die neue Seite hier ist mit WordPress 3.4.1 gebaut und liegt bei Alfahosting. An dieser Stelle herzlichen Dank an die zahlreichen stets freundlichen und kompetenten Mitarbeiter der Hotline: Danke, so guten Service erlebt man nur selten.
In den nächsten Tagen und Wochen wird sich hier noch einiges tun. Ich möchte viele Beiträge von Moorbraun und Pilotblog samt Fotos, Links und Kommentaren hier herüberbeamen, was eine etwas fisselige Arbeit werden wird und eine Zeit dauern kann. Einiges wird rausfliegen, einiges überarbeitet und aktualisiert, einiges vielleicht zusammengeführt. Über Feedback freue ich mich.
Update am 22.8.: Pilotblog.de ist jetzt (weitgehend komplett) umgezogen. Alle Artikel sind unter ihren ursprünglichen Erscheinungsdaten und mit Kommentaren hier eingestellt.
Und dann waren da noch die Piraten. Kamen vor ein paar Jahren wie aus dem Nichts gesegelt, um bei den Wahlen reichlich Beute zu machen – und dann ebenso flott wieder ins Nichts abzutauchen, unter die Wasserlinie der politischen Wahrnehmung. Doch jetzt reiben sich die Beobachter wieder erstaunt die Augen: Für die Senatswahl in Berlin am Sonntag werden der Internetpartei bis zu 6,5 Prozent vorausgesagt. Damit käme kein Wahlgewinner an ihnen vorbei. Sind die Freibeuter dabei, im Handstreich den Platz der untergehenden FDP im Parteienspektrum zu entern? Ist ihr Orange das neue Gelb? Oder gar: das neue Grün?
Piraten, das liegt in der Natur ihres traditionsreichen Gewerbes, setzen gerne auf das Überraschungsmoment. Doch das war zuletzt verpufft. An ihre großen Kaperzüge aus der Zeit der „Zensursula“-Proteste gegen Ursula von der Leyens Internetsperren hatten die Netzpiraten nie wieder anknüpfen können. Statt die offene Seeschlacht mit dem politischen Gegner zu suchen, ging sich die Mannschaft lieber gegenseitig an die Gurgel. Streit auf der Kommandobrücke und Ärger mit dem Online-Abstimmungssystem Liquid Feedback prägten das Bild. Das Wasser, so der Eindruck, stand den Piraten bis zum Hals.
Woher also der plötzliche frische Wind in den Segeln? In ihrer gerade fünf Jahre kurzen Geschichte war die als jung, online-affin und unverbraucht wahrgenommene Truppe vor allem in großen Universitätsstädten erfolgreich (in Aachen schickte sie zuletzt einen Vertreter in den Stadtrat, einer ihrer größten Erfolge). Derart urbanes Ambiente bietet Berlin wie keine andere Stadt im Lande. In der globalen Internetszene hat die deutsche Hauptstadt den Ruf, ein besonders munter blubberndes Zentrum der digitalen Welt zu sein. Diese Klientel stört es auch nicht, wenn ihr Spitzenkandidat in einer Talkrunde beim Anpeilen des städtischen Schuldenstandes mal um mehrere Schiffslängen danebenzielt.
Denn: Auch Beschränkung ist eine Kunst. Es ist erklärtes (und nicht unsympathisches) Programm der Piraten, zu Themen keine offizielle Meinung zu haben, von denen die Kandidaten nichts verstehen. Oder: noch nichts verstehen. „Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal Klappe halten“ – diesen Satz von Dieter Nuhr würde man gerne auch bei all den anderen Politikern verinnerlicht sehen, die unter der Behinderung leiden, nicht an einem Mikrofon vorbeigehen zu können.
Zudem sieht die etablierte Konkurrenz in der Hauptstadt offenbar für viel größere Teile der Wählerschaft grau und verbraucht aus, als bisher angenommen. Was immerhin den Grünen die wohlige Bestätigung geben mag, endlich mitten im bürgerlichen Hafenbecken vor Anker gegangen zu sein. Und sind sie, die Grünen, nicht auch ihrerzeit als Ein-Themen-Partei vom Stapel gelaufen? Was in den 80er-Jahren die Umwelt war, ist heute das Netz: von dunklen Mächten bedroht, gefühlte Heimat für Viele und von den Altparteien ignoriert. Ahoi da drüben, wir sind jetzt die Rebellen.
Doch zur Volkspartei mit eigenem Ministerpräsidenten ist es noch ein gutes Stück zu segeln – und die sturmzerzausten Piraten haben in den letzten Monaten reichlich Pulver verschossen. Wenn sie aber am Sonntag ihre Flagge im Berliner Senat hissen können, sind sie wieder auf Kurs. Zumindest als Regionalpartei hätten sie sich damit erst einmal etabliert. Und die Parteienlandschaft wäre um eine weitere Farbe bunter. Wer das bedauert, dem bleibt zumindest der Trost: Orange ist allemal schöner als Braun.
Es gibt diese Dinge, die braucht kein Mensch. So ein iPad zum Beispiel. Zum ernsthaften Texteschreiben taugt es kaum, für Bildbearbeitung schon mal gar nicht. Als MP3-Player ist es zu sperrig, als Fernseher zu winzig, die Speicherkapazität ist zu gering, die Kamera ein Witz und telefonieren kann man damit auch nicht richtig. Es ist zu klein, zu groß und zu teuer sowieso. Ich habe schon einen Desktop-Rechner, ein Notebook, ein Netbook und ein iPhone. Warum um alles in der Welt will ich auf einmal unbedingt ein iPad haben? Womit wir beim neuen Magazin „Wired“ wären.
Die „Wired“ ist in den USA seit fast zwei Jahrzehnten das amtliche Pflichtblatt für alle Geeks, also die fröhlichen Technikbejaher (und von seiner deutschen Erstausgabe, die seit Donnerstag in den Kiosken liegt, lernen wir, dass der Geek im Englischen das positive Gegenstück zum eher eigenbrötlerischen Nerd ist). Ehrensache, dass ich gleich morgens um 8 Uhr in der Aachener Bahnhofsbuchhandlung stand, um einen der in Folie eingeschweißten Erstlinge ergattern zu können. (Okay, außerdem hatte ich um diese Zeit noch einen Termin bei der benachbarten Bürgerberatung.)
Die echten Fans sind nicht einmal dadurch abzuschrecken, dass sie den knallgelben 130-Seiter im Doppelpack mit dem Herren Männermagazin „GQ“ erwerben müssen. Auf Twitter hatten sie vorher schon gewitzelt, dass der Satz „Will jemand die neue GQ haben?“ am Donnerstag der meistgeschriebene im Netz sein würde.
Um’s kurz zu machen, die erste deutsche „Wired“ ist ein wunderbares Blatt geworden. Chefredakteur und Blogger Thomas Knüwer („Indiskretion Ehrensache„) hat dafür fast alles aufgeboten, das im deutschsprachigen Netz Rang und Namen hat: Mario Sixtus, Markus Beckedahl, Anke Gröner, Richard Gutjahr, Thomas Wiegold, und, und. Zusammen haben sie eine tolle Ausgabe geschaffen. Sie ist bunt, sie ist abwechslungsreich, sie macht Lust aufs Lesen. Da werden in der Rubrik „Fetisch“ Putzroboter getestet. Kult-Autor Jeff Jarvis stellt Johannes Gutenberg als den ersten Geek der Geschichte vor. Der Leser wird in die schlüpfrige Welt des Sexkontakt-Netzwerks Badoo geführt. Ich habe gelacht über das Foto von Darth Vader im Urlaub mit schwarzem Surfbrett, gestaunt über die retro-futuristischen Innenansichten des Atomkraftwerks Leibstadt und mich verloren in den unzähligen Details der „Sim-City“-artigen doppelseitigen Grafik eines Oktoberfest-Zelts. Eine Reportage beginnt sogar in der FH Aachen, wo über die Zukunft des Individualverkehrs nachgedacht wird. Kurz, die „Wired“ ist ein Blatt, das dem Couchtisch eines jeden Netizens zur Zierde gereicht. Sie ist so modern wie ein gedrucktes Magazin nur sein kann.
Und sie ist: veraltet.
Denn dann ist da noch die „Wired“-App für das iPad.
Die kostet schlanke 2,99 Euro (Heft: 5 Euro) und ist mächtige 633 MB groß. Ist der Download endlich zu Ende, beginnt das Wunder (für das es sich übrigens lohnt, die WiFi-Funktion des iPad anzulassen). Alles, was das Heft kann, kann die App besser. Die große Weltkarte des organisierten Verbrechens ist interaktiv, die Ströme der Schmuggelwaren von Cosa Nostra und Yakuza lassen sich zwecks besserer Übersicht einzeln aufrufen. Auf dem Bild von Schnaps-Pionier Ulf Stahl blubbert es lustig im Reagenzglas. Die Techie-Spielzeuge in der Rubrik „Fetisch“ sind animiert – der Lego-Unimog rotiert per Fingerwisch um 360 Grad, auf dem Arcade-Tisch läuft ein kleines Pac-Man-Spiel.
Doch die App kann mehr als zwitschern, piepsen und blinken. Sie bietet echten Mehrwert da, wo das Papier stumm bleiben muss. Der Artikel über die twitternde Eiche lädt gleich den aktuellen Nachrichtenstrom von @talkingtree_de. Die neue Raytrix-Kameratechnik wird auf einem Foto mit verschiedenen Tiefenschärfe-Zonen simuliert. Julia Probst, die Stimme der Gehörlosen, zeigt nicht nur wie in der Printausgabe auf drei Fotos die Gebärden für „Facebook“, „Wired“ und „Apple“. Auf der App demonstriert sie außerdem in einem kleinen Video die drei unterschiedlichen Gestik-Namen für Angela Merkel. Manche Sachen muss man einfach in Bewegung sehen, um darüber lachen zu können.
Und so geht es weiter. Jede Seite, die man sich aufs Display zieht, enthält ein neues Wunder. Im Artikel über den kubanischen Zombiefilm „Juan of the Dead“ ist gleich der komplette Trailer zu sehen, in Hochauflösung. Der fliegende „Smart Bird“-Robotervogel schlägt in einem bezaubernden Filmchen seine künstlichen Flügel zwischen Hochhauswänden. Das Focaultsche Pendel im Gasometer Augsburg schwingt in majestätischer Stille. Selbst die Grafik auf der Titelseite, eine Art Rohbauhaus-Computerkonsole, surrt und rotiert, wenn man sie antippt. Das Entdecken und Ausprobieren der immer neuen Gimmicks macht einfach Spaß.
Zugegeben: Die „Wired“-Geeks haben viele Monate Zeit gehabt, die digitale Erstausgabe vorzubereiten. Sie konnten auf Material der amerikanischen Mutterausgabe zurückgreifen, etwa die tickenden Uhrwerks-Hirn-Animationen. Sie werden ein gewisses Budget gehabt haben. Ob dieser hohe Standard langfristig zu halten ist, zeitlich und finanziell, muss sich erst einmal zeigen.
Trotzdem war ich beim Blättern Wischen durch die App auf dem für das Wochenende ausgeliehenen iPad von dem Gefühl überwältigt: Das ist die Zukunft. Das ist die nächste Generation des Lesens. Die gedruckte Ausgabe, so prall und bunt sie ist, wirkt neben der App wie eine Grammophonplatte aus Bakelit neben der DVD eines Live-Konzerts.
Das sage ich als jemand, der seit 40 Jahren mit dem Gefühl von Papier zwischen den Fingern lebt. Der Zeitungen und Zeitschriften liebt und nicht einschlafen kann, ohne ein paar Seiten in einem Buch gelesen zu haben. Auf und mit Papier kann man wunderschöne Dinge tun und spannende Geschichten erzählen. Wir alle werden uns mit Sicherheit noch viele Jahre lang von Inhalten auf einem Datenträger faszinieren lassen, der beim Umblättern raschelt.
Doch letztlich ist es dieser Inhalt, der zählt, nicht seine äußere Form. Eine Geschichte ist aufregend, lustig oder herzergreifend, ob sie in Marmor gemeißelt, auf Papyrus geschrieben oder auf eine Webseite geladen wird. Die Form hat sich über Jahrtausende immer wieder unseren Lesebedürfnissen und den Möglichkeiten der Herstellung angepasst. Die Hochglanzzeitschrift im Vierfarbdruck ist nur eine Evolutionsstufe in dieser Kette.
Hat jemals ein gedrucktes Magazin die Grenzen seines eigenen Mediums deutlicher gemacht als dieses brandneue Fachblatt für Virtuelles? „Print lebt“ schrieb ein fröhlicher Chefredakteur Thomas Knüwer nach Redaktionsschluss der Druckausgabe am 11. August im „Wired“-Blog. Um dann sinngemäß anzufügen: Und jetzt kommen wir zu App. Wie symbolisch.
Am Donnerstag war ich noch fest entschlossen, die „Wired“ zu abonnieren. Einen Tag später wollte ich ein iPad. Auf einmal, unbedingt. Es gibt Träume, die entstehen mit einem Fingerschnippen. Oder einem Wischen.
Die E-Mail kommt unerwartet. Absender ist ein Name, der ein kleines Glöckchen in meinem Hirn läuten lässt. „Einladung zur 20-jährigen Abi-Jubiläumsfeier“ steht im Betreff. Erinnerungen flackern auf – an damals, an das Frühjahr 1990. In der DDR wurde zum ersten Mal frei gewählt, Nelson Mandela kam aus der Haft, Michael Gorbatschow wurde zum Präsidenten einer bereits auseinanderbröselnden UdSSR ernannt. Und in Oldenburg bekamen die Abiturienten der Cäcilienschule ihre Abschlusszeugnisse überreicht.
Die Empfängerliste der Mail ist deutlich länger als der eigentliche Text und sie zu lesen deutlich spannender. Schau an: Grit, Niklas, Matthias und Guido tragen inzwischen ein „Dr.“ in ihren E-Mail-Adressen. Jessica teilt sich ihre mit einem gewissen Klaus; Tanja und Jörn haben gleich eine gemeinsame Adresse für die ganze Familie. Heike, mit dem besten Abitur des Jahrgangs, hat es an medizinische Fakultät der Uni München verschlagen und Kamran, dessen Vater mir einmal den eingewachsenen rechten Zehennagel zog, an die von Tübingen. Karin arbeitet anscheinend in einer Apotheke und Cornelia betreibt ein Atelier. Ehe mich angesichts von Firmenadressen wie @thyssenkrupp.de und @xy-ingenieure.de endgültig der Trübsinn befällt, es nur zum unverheirateten Journalisten gebracht zu haben, retten die Mailadressen „superolli“ und „tannihexe“ die Stimmung. Es gibt sie also noch, die normalen Menschen.
Viele Familiennamen sind unbekannt, andere dagegen noch vertraut. Sogar überraschend vertraut: Die nette Türkin, die mich in der letzten Lateinklausur abschreiben ließ – was mir den Abischnitt rettete – und die als erste unseres Jahrgangs verheiratet war, trägt wieder ihren Mädchennamen.
Jetzt treffen sie sich also, nach zwei Jahrzehnten zum ersten Mal. Leider feiert die Community unserer Zeitung 5ZWO am selben Samstag, 15. Mai, ihren einjährigen Geburtstag. Ich werde also nicht in Oldenburg dabei sein können.
Dass mich das etwas traurig stimmt, überrascht mich. Ich war nämlich damals ganz froh, dass die 13 Jahre endlich vorbei waren. Mit den meisten Mitschülern fühlte ich mich so wenig verbunden wie sie sich mit mir. Wirkliche Freunde waren selten.
Aber manche Dinge ändern sich. Jetzt bin ich neugierig geworden auf die Mitschüler von damals. Und weil sie das Treffen über die Community Stayfriends organisiert haben, melde ich mich dort ebenfalls an.
Stayfriends heißt so viel wie „bleibt Freunde“. Das Netzwerk ist, im Gegensatz etwa zu Facebook, wo vor allem kommuniziert und kommentiert wird, auf das Aufstöbern von Kontakten aus der Kindheit spezialisiert. Klingt nicht besonders spannend, entpuppt sich aber als überraschend amüsant: Mensch, den Marko gibt’s ja auch ohne Zahnspange! Oh, Anja hat einen neuen Nachnamen – meine Güte, da hätte sie besser den alten behalten. Und da ist die schöne Andrea mit den schwarzen Locken – für einen introvertierten 16-Jährigen damals so begehrenswert wie unnahbar. Erinnerungen.
Nach ein paar Klicks habe ich alte Klassenfotos aus der Grundschule gefunden – zum Totlachen, diese quietschbunten 70er-Jahre-Pullis! Noch ein paar Klicks, und ich bin in der Vorschulzeit angekommen: Ingo, Michael, Tanja, Sabine, Benno – die wilde Bande vom Friedrich-August-Platz, dem größten Spielplatz der Nachbarschaft. Namen, an die ich jahrzehntelang nicht mehr gedacht habe. Die verbindende Macht des Internets mal wieder – einfach toll.
Und jetzt?
Stayfriends hat ein sogenanntes Freemium-Modell. Klicken und gucken ist kostenlos. Wer aber Nachrichten verschicken und weiterführende Namen lesen will, muss zahlen. „Gold-Mitgliedschaft“ nennt sich das. Dazu bin ich zu geizig. Ich bin schließlich bereits bei StudiVZ, Facebook, Xing, Twitter, 5ZWO, LinkedIn, Wer-kennt-wen, mixxt und in -zig anderen Netzwerken, großen und kleinen, gut und schlecht gemachten. Irgendwann muss Schluss sein, selbst wenn man das Internet zum Beruf gemacht hat. Und so toll ist Stayfriends bei weitem nicht, dass ich dafür bezahlen würde.
Lieber suche ich – schlau, schlau – nach einigen der wiederentdeckten Namen in den anderen Netzwerken. Christian und Mathias etwa, die eineiigen Zwillinge aus der 6. Klasse, finde ich tatsächlich. Nein, falsch, Mathias findet mich und schickt mir seine Freundesanfrage, bevor ich ein Wort geschrieben habe. Auch auf Stayfriends haben mich bald ein, zwei Dutzend Ex-Mitschüler zu ihren Kontakten hinzugefügt und ich sie zu meinen.
Und jetzt?
Jetzt – nichts. Schweigen. Niemand wagt den ersten Schritt. Was sagt man auch jemandem, den man seit 20 Jahren nicht gesehen hat? Was soll ich zum Beispiel Stefan schreiben, der nach dem Abi eine Banklehre angefangen hat und von dem ich seitdem nichts mehr gehört habe? „Moin Alter, nettes Foto, hast dich ja gar nicht verändert“? Mal abgesehen davon, dass manche Lügen sogar einer E-Mail anzusehen sind.
Plötzlich stellt sich heraus: Zwei Jahrzehnte gelebtes Leben sind nicht so einfach zu überbrücken, als läge nur eine Englischstunde dazwischen. „Freunde bleiben“ ist eine echte Herausforderung. Da hilft auch kein Netzwerk. Wenn das „du siehst ja immer noch so aus wie damals“ halbwegs leicht über die Lippen kommen soll, muss man dem Gegenüber dabei in die Augen gucken können. Schon um zu sehen, ob ihm derselbe Satz genau so schwer fällt.
Trotz Web 2.0 gilt also: Manche Dinge ändern sich nicht. Die schöne Andrea bleibt so unansprechbar wie damals. Macht nichts. Sie ist beim Treffen eh nicht dabei – sie war im Jahrgang über mir.
Oder Ursula von den Laien. Mit nichts hat die Bundesfamilienministerin die internetaffine Bevölkerung dieses Landes so gegen sich aufgebracht wie mit ihrem Plan, den Zugang zu kinderpornografischen Webseiten durch Stoppschilder zu erschweren.
Das hört sich zunächst sinnvoll und unterstützenswert an (wer wäre schließlich nicht dafür, solche Widerlichkeiten zu blockieren?). Bei näherem Hingucken entpuppt sich das geplante Gesetz jedoch als bloße Alibipolitik – die Sperren können kinderleicht umgangen werden, die Pädophilenszene dürfte sich kaputtlachen – mit dahintersteckendem Einstieg in eine großräumige Überwachung des Surfverhaltens weiter Teile der Bevölkerung.
Im zweiten Schritt können mit der neu aufgebauten Filter-Infrastruktur dann weitere missliebige Internetangebote gesperrt werden, etwa Musiktauschbörsen, Glücksspielseiten oder extremistische politische Webseiten. Was auch bereits von ersten Politikern gefordert wird. Vorbei wäre es mit der Kultur eines freien Internets. China lässt grüßen.
Ich erspare es mir jetzt, die lange Liste der Unsinnigkeiten des geplanten Gesetzes zu erläutern. Wer es geschafft hat, die heißen Debatten der letzten Monate komplett zu verpassen, gebe einfach „Zensursula“ bei Google ein. Als einziger von unzähligen Artikeln zum Thema sei „Die Generation C64 schlägt zurück“ von Christian Stöcker auf Spiegel Online genannt.
Nur auf eines möchte ich denn doch noch hinweisen: Die Frist für die Unterzeichung der Online-Petition beim Deutschen Bundestag endet morgen, am 16. Juni. Bislang haben über 127.000 Menschen unterschrieben (auch ich). Damit ist die Petition ganz knapp die zweiterfolgreichste aller Zeiten – nur eine Initative für billiges Benzin fand bislang noch mehr Unterzeichner.
Wem es am Herzen liegt, dass auch künftige Generationen freien, ungefilterten Zugriff auf das Internet haben, der sollte sich überlegen, ob er seinen inneren Schweinehund jetzt überwindet. Und zwar schnell. Wer’s nicht über sich bringt, verliert automatisch das Recht, sich über internetfremde und inkompetente Politiker aufzuregen.