Der Einbruch

Plötzlich bin ich wach. Es ist mitten in der Nacht. Im Schlafzimmer ist es stockdunkel. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich richtig zu mir gekommen bin. Das Fenster steht auf Kipp, die Luft ist frisch im Raum. Es ist still. Doch dann höre ich das Geräusch wieder. Das Geräusch, das mich schlagartig hellwach gemacht hat.

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Es ist ein leises Sägen. Rrrrtsch-rrrtsch, rrrtsch-rrrtsch, rrrtsch-rrrtsch. Schnell, rhythmisch, verstohlen. Jemand sägt da draußen, mitten in der Nacht. Wer ist da zugange? Und woran?

Eine Erinnerung taucht auf, aus meiner Zeit in Köln. Ein langer mehrstöckiger Wohnhausriegel, dahinter Gärten. Und dahinter wiederum Gärten und die Rückwand des Wohnriegels in der nächsten Straße. Eines späten Abends, ich lag schon im Bett, plötzlich ein Schreien aus dem Dunkel hinterm Haus: „Halt! Stehenbleiben, oder ich schieße!“ Zum Fenster gestürzt. Im gegenüberliegenden Garten, vor einer Terrassentür des anderen Hauses, standen Polizisten mit gezogenen Pistolen. Taschenlampen leuchteten. In der Mitte zwei Menschen, regungslos.

Auf der Straße versammelten sich die Nachbarn. Es stellte sich heraus, dass man Einbrecher auf frischer Tat ertappt hatte. Sozusagen direkt vor unserem Wohnzimmerfenster – und den Wohnzimmerfenstern von mehreren Dutzend weiterer Bewohner unseres Hausriegels. Die Inhaber der betroffenen Wohnung waren übers Wochenende weggefahren. Betroffenheit. Wer hätte gedacht, dass diese Kriminellen heutzugage derartig dreist…? Aber wer guckt schon abends in den dunklen Garten gegenüber.

Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, als ich leise aufstehe. Sägt da jemand unseren Rollladen durch? Einen Griff an der Balkontür? Ein Einbruch? Bei uns? Die Brille auf dem Nachtisch, das Handy. Auf den Flur. Lauschen. Nichts. Jetzt das Licht an! Ein Blick die Treppe hinunter: Im Erdgeschoss huscht etwas Braunes aus dem Sichtfeld. Jetzt ist das Adrenalin im Blut auf Anschlag. Vorsichtig, Stufe für Stufe, jeden Nerv angespannt. In der Küche sitzt die Katze auf der Arbeitsplatte. Und miaut, hungrig. Und auch sonst ist alles: wie immer. Ein Mensch, ein Tier, sonst niemand.

Ein Blick auf die Uhr. Es ist gar nicht mitten in der Nacht. Es ist schon halb sieben Uhr morgens. In ein paar Minuten wäre ich sowieso aufgestanden. Noch einmal vergewissert, dass niemand im Haus ist, der nicht hingehört. Der Katze Futter in den Napf getan. Dann die Rollläden hochgefahren. Und schon steht Katze Nummer Zwei vor der Balkontür. Aufgemacht, bitteschön, immer herein, der Herr. Kalte Morgenluft streicht um die Knöchel.

Und da ist es wieder. Das Sägen. Rrrtsch-rrrtsch. Es mischt sich mit dem Schmatzen der beiden Katzen. Es kommt von der Straße her, wo Rauhreif den Bürgersteig und die geparkten Autos überzuckert hat. Eine Frau steht vor einem Wagen. Und kratzt Eis von der Windschutzscheibe. Rrrtsch-rrrtsch.

Erleichterung. Es war also tatsächlich ein Einbruch. Wenn auch keiner, der überraschend kam. Es war nur ein kleiner Wintereinbruch.

Hundert Jahre her

Der alte Grabstein steht halb versteckt auf dem Südfriedhof von Leipzig. Einer von Hunderten und Aberhunderten auf dem 80 Hektar großen Gelände. Keines der auffälligen, prunkvollen Grabmäler, die mit imposanten Engelsfiguren oder Heldenstatuen an berühmte Geschlechter oder zumindest finanzkräftige Mitbürger erinnern. Kein Faltblatt führt ihn auf, die Friedhofsführer-App verzeichnet ihn nicht. Man kann ihn leicht übersehen, wenn man die Reihen der Gräber entlangschlendert. Aber wer sich ihm zuwendet, dem erzählt er eine ganze Geschichte: die einer Familientragödie vor hundert Jahren.

Sie beginnt im Ersten Weltkrieg, an einem Frühlingstag des Jahres 1915. In einem Militärkrankenhaus in Nürnberg liegen Hunderte von verwundeten deutschen Soldaten in ihren Betten. Stöhnen und Schreien erfüllt die Krankenzimmer, Schwestern eilen auf den Fluren hin und her. In einem der Betten liegt der junge Albert Fischer, geboren in Leipzig. Er ist gerade erst angekommen.

Vor sechs Tagen ist der 22-Jährige an der Westfront schwer verwundet worden, in Verlinghem, einem Vorort der französischen Stadt Lille. Bis dahin, rund 240 Kilometer weit von der deutschen Westgrenze bei Aachen, ist der Vormarsch der Truppen des Kaisers gekommen. Dann verbissen sich die deutschen und alliierten Heere hoffnungslos ineinander, es begann der jahrelange furchtbare Stellungskrieg, das gegenseitige Abschlachten in den Schützengräben ohne Aussicht auf Sieg oder Niederlage. Vor neun Monaten erst hat der Krieg begonnen, doch Deutschland und Europa werden nie mehr so sein vor zuvor.

Mit einem Lazarettzug hat man Albert Fischer wieder ins Deutsche Reich gebracht, fast 700 Kilometer weit. Tagelang rumpelten die Waggons langsam über die Gleise, bis der Zug endlich in Nürnberg einrollte und man die Verwundeten aus den Wagen hob.

Der junge Soldat Fischer bekommt keine Sonderbehandlung. Er ist keine hochgestellte Persönlichkeit, kein Offiziersschüler oder verwöhnter Zögling. Er ist ein einfacher Infanterist, aus gutem Hause zwar, aber nicht vermögend, erst vor kurzem eingezogen und an die Front geworfen worden. Einen höheren Dienstgrad als Gefreiter hat er sich noch nicht verdienen können.

Es ist Samstag, der 23. April 1915. Erst vor wenigen Stunden, am Tag zuvor, haben die deutschen Truppen an der Westfront bei Ypern mit dem grauenvollen ersten großen Gasangriff des Krieges die Zweite Flandernschlacht eingeleitet. Alleine an diesem ersten Tag sind 18.000 Mann innerhalb kürzester Zeit unter teils entsetzlichen Qualen gestorben, insgesamt werden die gut vierwöchigen Kämpfe 120.000 Soldaten das Leben kosten – eine ganze Großstadt. Und ändern wird sich für den Kriegsverlauf nichts, die Front wird danach fast genauso verlaufen wie zu Beginn.

Während in Flandern seine Kameraden mit ihren Gewehren auf die zurückweichenden Franzosen schießen und erschossen werden, mit Bajonetten im Zweikampf zustechen und erstochen werden, während Artilleriegranaten einschlagen und Handgranaten explodieren und die weißen, tödlichen Nebel des Chlorgases zu den Schutzsuchenden in die Bombentrichter kriechen, kämpft Hunderte von Kilometern entfernt Albert Fischer tief in der Heimat um sein eigenes Leben. Vergeblich. Er wird nie wieder einen Fuß auf die Straßen Leipzigs setzen, nie wieder seine Eltern sehen, die fünf, sechs Zugstunden entfernt in Sachsen um ihren einzigen Sohn bangen, ohne zu wissen, dass er wieder in Deutschland liegt.

An diesem Samstag, neun Monate nach Beginn des großen Mordens, stirbt Albert Fischer. Für eine Trauerfeier bleibt keine Zeit. Sein Leichnam wird aus dem Bett gehoben und in einen einfachen Sarg gelegt. Das Bett muss schnell wieder frei sein, in diesen Tagen wird jeder Platz gebraucht. Der junge Mann tritt seine letzte Reise in einem Güterwaggon an. Der Leichnam wird in seine Heimatstadt überführt. Auf dem Südfriedhof wird Albert Fischer beigesetzt.

Der Schmerz seiner Eltern muss unermesslich gewesen sein. Er ist dem mannshohen Grabstein heute noch anzusehen – ihrem „innigstgeliebten, einzigen Sohn“ haben sie den schwarzpolierten Stein auf dem Sockel gewidmet. Aus härtestem „Schwarzer Schwede“-Granit ist er gefertigt, der beste und teuerste Stein überhaupt (und heute geradezu unbezahlbar). Er verjüngt sich nach oben und endet in einer schlichten, aber kunstvollen Verzierung. Ein Stein für die Ewigkeit. Aufwändig wurde der Name des Verstorbenen in 24-karätigem Blattschlägergold eingearbeitet. Ein eingraviertes Eisernes Kreuz krönt ihn, wie es der Geschmack der Zeit war, und erinnert an den Gefreiten Albert Fischer vom Königlich Sächsischen 9. Infanterieregiment 133. Einen von mehr als zwei Millionen deutschen Soldaten, die der Krieg am Ende verschlungen haben sollte.

Doch die Geschichte ist noch nicht zu Ende – und das Leid der Familie Fischer noch nicht vorbei. Der Krieg geht weiter, ins nächste und übernächste Jahr. Das Schlachtenglück wechselt ein ums andere Mal, alle Hoffnungen auf einen baldigen Frieden vergehen im Donnern der Geschütze. Der zweite Kriegswinter geht ins Land, dann der dritte, der als Steckrübenwinter 1916/17 in die Geschichte eingehen soll. Die Not der Menschen in Deutschland wird drückend. Es fehlt an allem, ob Essen, Heizmaterial oder Seife. Krankheiten und Unterernährung raffen die Menschen dahin, Alte, Kranke, Schwache und Kleinkinder sterben zuerst.

Im Oktober des vierten Kriegswinters, des Hungerwinters 1917, folgt Alberts Vater Ernst seinem Sohn ins Grab. Er wird nicht einmal 57 Jahre alt. War es der Kummer über den Tod seines Sohnes, der ihm den Lebenswillen geraubt hat? War es die Entbehrung der jahrelangen Mangelernährung? Die Hoffnungslosigkeit im Deutschen Reich, das Monat um Monat seine Söhne zu Hunderttausenden in den größten Fleischwolf aller Zeiten warf und trotz aller Opfer dem versprochenen Sieg weiter entfernt schien als je?

Der schwarze Stein auf dem Südfriedhof erhält einen weiteren Namen eingemeißelt: Ein zweiter Fischer war lange vor seiner Zeit gestorben. Die Verzweiflung der Witwe, die erst das Kind und nun den Mann zu Grabe tragen muss, ist förmlich in den Stein eingepresst. Alberts „lieber, treusorgender Vater, mein teurer, herzensguter Mann“ sei gestorben, schreibt sie ihrem Gatten nach. „Mein ganzes Glück ist mit Euch gegangen. Auf Wiedersehn!“ Anna Fischer hat alles verloren, was ihr lieb ist. Sie ist alleine, und das in einer furchtbaren Zeit.

Doch die Geschichte des Grabsteins ist noch nicht vorbei – noch lange nicht. Das Schicksal will es nämlich, dass die 50 Jahre alte Witwe ihren Sohn und ihren Gatten trotz der Entbehrungen und Katastrophen, die folgen werden, nicht nur um einige wenige Jahre überleben wird. In Zeiten, in denen unzählige Menschen in Deutschland an Krankheiten, Hunger und Verzweiflung starben, überlebt sie – am Ende fast noch einmal um dieselbe Zeitspanne. Sie übersteht das letzte, furchtbare Kriegsjahr und die chaotische Zeit danach. Den Zusammenbruch des Staates und der Wirtschaft, die Inflation und alle Werteverluste. Die Weimarer Jahre, die Weltwirtschaftskrise, die Nazizeit. Den nächsten, den Zweiten Weltkrieg, der fast sechs Jahre dauern wird und damit noch länger als der Erste. Und sie überlebt die erneuten Hungerjahre danach.

Ob sie das wohl als Segen empfunden hat? Geheiratet hat sie nie wieder, von anderen Kindern oder gar Enkeln erzählt der Grabstein nichts. Selbst ihre Schwester Martha, zehn Jahre jünger als sie, stirbt noch sechs Jahre vor ihr: einen dritten Namen muss Anna Fischer in den Grabstein einarbeiten lassen. Ganz unten diesmal, damit noch Platz bleibt für sie selbst.

Erst 46 Jahre nach ihrem Sohn und 44 Jahre nach ihrem Mann, im hohen Alter von 94 Jahren, findet Anna Fischer im Jahr 1961 ebenfalls die letzte Ruhe. Und in den schwarzen Stein auf dem Südfriedhof wird, fast ein halben Jahrhundert, nachdem er an dieser Stelle aufgerichtet wurde, zum vierten und letztes Mal ein Name in goldenen Buchstaben eingemeißelt. Der Stein hat die Geschichte der Familie Fischer zu Ende erzählt.

Die Stadttwittererin

Sie das Herz und die Seele der Aachener Twitterszene zu nennen, ist keine Übertreibung. Sabine Nowak alias @missmarple76 war @wirlebenac, sie war ungezählte Burger-, Pizza-, Schnitzel– und sonstige Testessen Aachen und sie war der ebenso grandios komische wie historisch fundierte @Karl_derGrosse, der als Knochengerippe das Aachener Tagesgeschehen kommentierte, vom traditionellen Öcher Regen bis jüngst zur Durchfahrt der Tour de France.

Außerhalb von Twitter war sie der Gastroführer Aachen geht essen und gerade im Begriff, www.schlemmerbumms.de zu werden, was immer das auch sein sollte – sie wusste es anfangs selbst noch nicht genau, aber die Webadresse war zu schön, um sie nicht zu konnektieren. Und wahrscheinlich war sie noch ein paar Dutzend weitere Grundpfeiler im digitalen Weichbild Aachens, die mir gerade nicht in den Sinn kommen.

Nicht viele Menschen haben die Identität der Kaiserstadt im Internet so geprägt wie die Germanistin und gelernte Buchhändlerin Sabine Nowak. Zweimal hatte ich die Ehre, ihr Herzensprojekt Wirleben.ac jeweils eine Woche lang mit meiner persönlichen Sicht auf Aachen bespielen zu dürfen, im April 2013, und – das mit der Ehre meine ich ernst – als letzter Kurator des dritten Jahres, im August 2016. Voller Begeisterung hatte ich Wirleben.ac damals in Aachener Zeitung und Aachener Nachrichten der nicht-twitternden Zeitungsleserschaft vorgestellt.

Über Jahre hat Sabine mit ihren Testessen-Treffen die lokale Internetszene zusammengeführt. Wenn sie eine Doodle-Liste für ein #teAC ins Netz stellte, führte das einige Wochen später dazu, dass Menschen ihr Essen in Restaurants fotografierten, die sie normalerweise nie einer Bestellung gewürdigt hätten. Freundschaften wurden geschlossen, Beziehungen entstanden, „Folgen“-Links wurden geklickt, Privatnachrichten und Handynummern ausgetauscht. Lebenswege änderten sich durch sie. Ihre Twitterstatistik weist seit ihrem ersten Tweet im Jahre 2009 rund 37.000 Beiträge auf – man kann wohl sagen, dass sie in ihrem geliebten Aachen wohnte, aber auf Twitter lebte.

In dem, was weniger digital-affine Menschen das „reale Leben“ nennen, trug Sabines Organisationstalent ihr den Spitznamen „Entenmama“ ein, was im Grunde mehr über die Küken aussagt als über deren Anführerin. Sabine war die, die machte. Die fragte, telefonierte, buchte und einlud. Als „Ordnende Hand und Projekt-Mama vom Dienst“ beschrieb sie selbst ihre Rolle auf ihrem Xing-Profil. Ohne sie hätte es die Testessen-Runde nicht gegeben. Dass nebenbei ein paar Restaurants auf der Strecke blieben, genauer gesagt: zufällig nur kurze Zeit nach einem #teAC-Treffen den Betrieb einstellten, wurde zum Running Gag. Leider ist nie etwas aus der Idee geworden, von örtlichen Gastronomen für einen Nicht-Besuch Geld zu kassieren. Wie viele Burger hätte man davon – aber lassen wir das.

Am Dienstag hat Sabine völlig überraschend alle irdischen Accounts schließen müssen. Vor ein paar Tagen erst hatte ich ihr noch zum Geburtstag gratuliert – es müsste der 41. gewesen sein, wenn sie ihrer Umwelt mit ihrem Twitternamen nicht einen Scherz gespielt hat (war ihr zuzutrauen gewesen wäre!). Und erst vor ein paar Wochen haben wir in netter Runde beim Twittagessen im Café Orient Expresso am Templergraben gesessen. Es sollte das letzte Treffen gewesen sein.

Auf Twitter breiteten sich in den Stunden nach Bekanntwerden der Nachricht von ihrem Tod Schockwellen der Fassungslosigkeit aus. Fast vier Jahre lang hat @wirlebenAC mit wohl mehr als 100 Kuratoren das Geschehen in der Stadt auf einzigartig vielfältige Weise begleitet, hat @Karl_derGrosse es auf seine ganz spezielle Weise aus 1200 Jahren Distanz kommentiert. Es ist ein bitterer Zufall, dass der letzte Eintrag auf Schlemmerbumms.de ausgerechnet ein Rezept für Aachener Beerdigungsfladen wurde.

Aachens vielleicht scharfsinnigste Stimme im schnellsten Sozialen Netzwerk der Welt schweigt. Noch kann niemand ahnen, wie sehr sie uns von nun an fehlen wird. Welche Bonmots nicht mehr verfasst, was für Pointen nicht mehr gesetzt, welche Restaurants nicht mehr von hungrigen Horden mit Smartphones heimgesucht werden. Wir ahnen nur: Aachen hat eine große Frau verloren. Gäbe es die Position einer Stadttwittererin, sie hätte sie ausgefüllt, mit Tiefgang, Humor und Bravour.

Lebe wohl, Sabine. Und: danke. Für alle Tweets, für alle Burger, für Karl und den ganzen Rest. Wir sind unendlich traurig.

Nächtliche Begegnung

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Die Körbergasse ist das hübscheste der mittelalterliche Sträßchen im Aachener Domviertel. Vom Büchel her grüßt den Besucher die Printenmädchenfigur am altehrwürdigen Café Van den Daele, dahinter führt ihn das Kopfsteinpflaster vorbei an allerlei hübschen Lädchen zur Rechten, in deren Schaufenstern sich die gegenüberliegenden Alt-Aachener Kaffeestuben mit ihrem prächtigen Wandbild spiegeln, bis er schließlich zwischen Domkeller und der ältesten deutschen Kaffeerösterei Plum’s auf dem Hof steht und vor sich, hoch über den Hausdächern, den gewaltigen gotischen Chor des Domes sieht.

Ein bei Touristen und Einheimischen beliebtes Fotomotiv ist diese kurze Gasse, und jetzt, eine halbe Stunde vor Mitternacht an diesem kalten Januartag des Jahres 2017, steht denn auch wieder ein selbsternannter Fotokünstler hinter den Metallpollern, die den Autos den Weg in Richtung Dom versperren. Immer wieder verschiebt er sein Stativ auf dem Pflaster um ein paar Zentimeter und visiert aufs Neue sein Ziel an. Immer wieder wartet er geduldig, bis wieder ein paar Nachtschwärmer aus seinem Bild geschlendert sind, Gesprächsfetzen und gelegentlich eine Alkoholfahne in der Luft hinter sich herziehend. Wo denn die Kneipe „Kasten“ wäre, spricht ihn ein junger Mann an. Der Fotograf überlegt, zuckt bedauernd mit den Schultern und zeigt vage hinunter Richtung Büchel. Erst als der Fragende schon verschwunden ist, fällt ihm ein, dass es dem späten Spaziergänger wohl um die „Kiste“ ging – immerhin, diese Studentenkneipe liegt tatsächlich am Büchel.

„Entschuldigen Sie der Herr, haben Sie vielleicht mal eine kleine Spende für ne warme Mahlzeit?“ Unbemerkt hat sich von hinten ein Mann mit wilder Mähne, wildem Bart und dazu passender Kleidung genähert. Der Fotograf blickt in ein Gesicht, das nur zu deutlich verrät, dass es seit vielen Jahren auf der Straße zu Hause ist. Trotz der Kälte trägt der Fragende die Hosenbeine hochgekrempelt, seine weißen Waden leuchten regelrecht in der Nacht. Mit hängenden Schultern und leerem Blick starrt er an dem Fotografen vorbei, der zuerst erneut bedauernd die Schultern zuckt und dann, als sich der Fragende schon wieder zum Gehen wenden will, sich besinnt, etwas murmelt und doch noch sein Portemonnaie aus der Hosentasche fingert.

Es sind nicht seine nackten Beine, geht es dem Angesprochenen durch den Kopf, als er die Geldbörse öffnet. Es ist auch nicht das, was er sagt. Es ist die Art, wie er es sagt. Diese Unterwürfigkeit. Dieses Hoffnungslose, dieses Demütige. Niemand, der das Vierzigste Lebensjahr überschritten hat, sollte andere Menschen in diesem Tonfall um etwas bitten müssen, denkt der Fotograf, der seinerseits das vierzigste Lebensjahr hinter sich gelassen hat. Waren Bettler früher nicht selbstbewusster?

Eine Münze wechselt den Besitzer, eine Dankesformel wird mechanisch erwidert. Der Mann mit den hängenden Schultern tappt hinunter in Richtung Büchel, von wo ihm ein Pärchen entgegenkommt. „Entschuldigen Sie die Dame der Herr, hätten Sie vielleicht…“

Die Schritte verklingen. Dann ist es still. Die Straße ist leer. Der Fotograf drückt auf den Auslöser, ein Klacken hallt zwischen den Hauswänden. Der Moment ist festgehalten. Endlich. Aber der Mann mit der Kamera sieht nicht so aus, als ob er glücklich ist.

Leipzig. 50 mm.

Der Wiederholungstäter

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Es ist schon seltsam, was die aktuelle Flüchtlingskrise bei den Menschen auslöst. Schon wieder radele ich in ungewohnter Frühe quer durch Aachen. Diesmal brauche ich nicht auf die Navi-App zu schauen: Das Läuten der Glocken macht es leicht, die Auferstehungskirche am Kupferofen zu finden. Es ist Sonntagmorgen, es ist kurz vor halb Zehn, ich bin auf dem Weg in einen Gottesdienst. Ihr lest richtig. Ich. Freiwillig. Ohne dass eine Hochzeit oder Trauerfeier ansteht oder ein Termin für die Zeitung. Es dürfte das erste Mal seit meiner Konfirmation sein, gefühlt zumindest.

Ich bin kein religiöser Mensch. In der Kirche bin ich vor allem, weil ich sie als soziale und seelsorgerische Organisation für wichtig halte – und weil sie mir auch nie ausreichend Grund geliefert hat, um wütend meinen Austritt zu trompeten (da, wo ich herkomme, ist man übrigens evangelisch). Die paar Euro an Kirchensteuern zu sparen, war mir als Grund für einen Bruch denn auch immer zu, ja: billig. Es geht schließlich beim Glauben um eine Sache, die man mit Geld nicht bezahlen kann, auch nicht mit der Mastercard.

Es ist auch nicht die Sehnsucht nach einem spirituellen Erlebnis, die mich jetzt etwas schwer atmend den Forster Berg hinauftreibt. Es ist der Wunsch, all den Wutbürgern und Hassgetriebenen zu entkommen, die im Internet ihre Galle, ihren Neid und ihre Missgunst versprühen. Man lese nur ihre Kommentare unter einem beliebigen Nachrichtenartikel zum Thema Flüchtlinge, in denen sie die ehrenamtlichen Helfer als „Bahnhofsklatscher“, „Stofftierverteiler“ und „Refugees-Welcome-Plärrer“ verhöhnen, die den verbrecherischen und vergewaltigenden „Invasoren“ auf einem Silbertablett unser Land, unsere Zivilisation, unsere Frauen und unsere Kultur überreichen.

Unsere Kultur? War da nicht mal was mit christlichem Abendland? Und gewissen Werten und Idealen? „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, sofern er weiße Hautfarbe hat und einen deutschen Pass“ – ich bin nicht bibelfest, aber so hat Herr C. das vor 2000 Jahren mit Sicherheit nicht gesagt. Ich suche die Gesellschaft von Menschen, die das ähnlich sehen. Man könnte auch sagen, ich bin auf der Suche nach meinen Wurzeln.

Pfarrer Martin Obrikat habe ich vorletzte Woche auf dem Helfertreffen für die Flüchtlinge in der Körner-Kaserne kennengelernt und nach ein paar im Anschluss gewechselten Worten umgehend sympathisch gefunden. Also lasse ich mich, nach sehr, sehr vielen Jahren, einmal wieder auf einen klassischen Gottesdienst ein. Wird es nur ein leeres Ritual sein? Ein schiefes Absingen altertümlicher Lieder und Schweigen zu einer langweiligen Predigt? Oder gibt es noch mehr?

Vom Programm her bekomme ich jedenfalls ordentlich etwas geboten. Mein erster Gottesdienst seit fast dreißig Jahren ist eine echte De-Luxe-Version: Familiengottesdienst mit Erntedank inklusive zweifacher Kindstaufe und Abendmahl. Der weiße Innenraum der – leider arg nüchtern gehaltenen – Auferstehungskirche ist voller Eltern mit Kindern. Die Stimmung ist gelöst und fröhlich, Gemurmel und gelegentliches Babyquengeln füllt den Raum, von Steifheit keine Spur. Im Gottesdienstprogramm sprechen Grundschul- und Kindergartenkinder Verse und singen, und auch wir Erwachsenen dürfen uns bei einem Kinderlied mal im Kreis drehen, mit dem Fuß stampfen und auf- und abhüpfen. Als die Taufen beginnen, werden alle Interessierten eingeladen, sich nah an das Geschehen vor dem Altar zu stellen; ich nehme das Angebot gerne an.

Schließlich das Abendmahl: Alle Anwesenden bilden einen großen Kreis an den Außenwänden, der das Kirchenschiff ganz ausfüllt. Wir fassen uns an den Händen – eine unter wildfremden Erwachsenen ungewohnte Geste der Verbindung. Teller mit Brotstücken und Weintrauben werden durchgereicht. Als der Brotteller bei mir ankommt, ist nur noch ein einziges Stück übrig. Ich reiche den Teller weiter an einen kleinen Jungen im festlichen Anzug rechts neben mir, der das Brot mit ernster Miene entgegennimmt. Der alte Mann zu meiner Linken lächelt mich an, bricht sein Stück durch und reicht mir eine Hälfte. Die kleine Geste mit der großen Bedeutung – das Brot brechen – trifft mich wie ein Schlag. Und ich alter Sack habe plötzlich etwas im Auge. In beiden Augen. Es ist ein zutiefst bewegender Moment.

Als der Gottesdienst vorbei ist, gibt es Kuchen, Kaffee und Apfelsaft für alle. Ich bleibe noch ein paar Minuten, bevor ich mich auf den Weg zum Mittagsessensdienst in der Flüchtlingsunterkunft Körner-Kaserne aufmache, und genieße einfach nur das Gefühl, unter all diesen fröhlichen, Wärme ausstrahlenden Menschen zu sein. Es geht hier ja nicht darum, wer die meisten Bibelverse auswendig kann, wer am schönsten singt oder wer am innigsten betet. Es geht um die Werte, um das Ursprüngliche. Wer heute noch freiwillig in eine Kirche geht, tut das nicht, weil es gesellschaftlich geforderter Mainstream ist. Heute ist es eine Überzeugungstat.

Und so bin auch ich, nach all den kirchenfernen Jahren und Jahrzehnten, zum Wiederholungstäter geworden. Ich kann es nicht weniger pathetisch ausdrücken: Es war ein wunderschönes Erlebnis. An diesem Morgen bin ich froh, all die Jahre der Versuchung widerstanden zu haben, aus kleinlichem Geiz der monatlichen Abbuchung der Clubgebühr widersprochen zu haben.

Die Flüchtlingskrise verändert gerade Deutschland. Sie bringt im Einen das Beste zum Vorschein, im Anderen das Schlechteste. Überall in den Städten und Gemeinden im Land organisieren sich Helferkreise – in Leipzig erfindet der örtliche Pegida-Ableger mal wieder eine Kindsvergewaltigung durch Asylbewerber. Es findet eine Radikalisierung statt – zum Glück auch im Guten.

Mich haben die vergangenen Wochen dazu gebracht, darüber nachzudenken, wer ich eigentlich bin und wer ich sein möchte. Heute bin ich wieder einen kleinen Schritt weitergekommen.

Mein erstes Mal

Nebel ist das erste, was ich sehe, als ich an diesem Morgen um kurz nach 6 Uhr die Küchenvorhänge zur Seite schiebe. Draußen ist es noch halb dunkel, Dunst hat Aachen in trübes Grau gehüllt. Wann bin ich Morgenmuffel zum letzten Mal an einem Samstag so früh aufgestanden? Aber es hilft nichts: Um 7.30 Uhr beginnt die Essensausgabe an der Turnhalle der Grundschule Barbarastraße, einer der Notunterkünfte für Flüchtlinge in der Stadt. Vor fast zwei Wochen habe mich auf Aachen.de per eingesandtem Fragebogen als Flüchtlingshelfer gemeldet, ein paar Tage darauf kam der Anruf einer Koordinatorin der Stadt, ob ich am heutigen Samstag und am Montag bei der morgendlichen Essensausgabe helfen könne. Ich konnte.

Ich erinnere mich nicht, dass mich in meinem Leben schon einmal etwas so mitgenommen und berührt hätte wie die aktuelle Flüchtlingskrise. Seit Wochen hämmern die Nachrichten, die Facebook-Posts und die Tweets dazu auf uns ein. Dramatische Szenen aus den Flüchtlingscamps in Südeuropa, schreckliche Bilder von Leichen im Mittelmeer, beschämende Nachrichten über pöbelnde und brandstiftende „Asylkritiker“ aus unserem Land, zwischen alledem der grauenvolle weiße Lastwagen mit den mehr als 70 erstickten Menschen auf der österreichischen Autobahn und der ertrunkene dreijährige Junge am Strand. Und in den sozialen Netzwerken gehen sich über alledem wildfremde Menschen an die Gurgel. Ein Krieg ist ausgebrochen im deutschsprachigen Internet, er tobt in den Kommentarspalten der Zeitungen und auf Facebookseiten, von Spiegel Online bis zur Bundesregierung. Es wird argumentiert und gehöhnt, gepöbelt und bedroht, es geht Nazis gegen Gutmenschen, Patrioten gegen Asylantenpuderer, Pack gegen Linksversiffte.

Beruflich kriege ich das voll mit – ich bin in vielen regionalen Facebookgruppen im Raum Aachen, Düren und Heinsberg Mitglied. Es scheint dort kaum noch ein anderes Thema zu geben. Seit die ersten Fotos, die ersten Videoclips von Flüchtlingen im Netz auftauchten, fluten Rechtsextreme diese Gruppen regelrecht mit Propaganda in unglaublicher Menge und unglaublicher Perfidität. Da wurden wilde Müllkippen in Slowenien verkauft als Hinterlassenschaften von Flüchtlingen in Euskirchen. Wehrmachtssoldaten in Bildmontagen gegenüber Flüchtlinge gepriesen als „Helden, die ihr Vaterland verteidigen“ anstelle der „feigen Schweine, die ihre Familien im Stich lassen“. Und vieles mehr, das einem die Nackenhaare zu Berge stehen lässt.

Dabei ist keine Lüge zu absurd, kein Gerücht zu haltlos und keine Fälschung zu offensichtlich, um nicht vom Heer der Ahnungslosen und Böswilligen blindlings weiterverbreitet zu werden. Vor allem unsere, ahem, etwas älteren Mitbürger, die noch nicht ganz so lange im Netz sind, legen oft die Medienkompetenz von Fünfjährigen an den Tag und glauben offensichtlich einfach jeden frei erfundenen Dreck, der in irgendeinem Youtube-Video ohne Ton, aber mit neu interpretierter Überschrift oder einem selbstgebastelten Blog ohne Impressum ins Netz, Verzeihung, gerotzt wird. Je mehr Schreibfehler im Text und Ausrufezeichen dahinter, desto wahrer die Botschaft.

Irgendwann müssen in diesem Trommelfeuer des Hasses nach und nach meine Selbstschutzmechanismen zerbröckelt sein. Immer öfter habe ich in den vergangenen Wochen die gebotene Zurückhaltung nicht mehr wahren können, habe mich eingemischt, Gegenkommentare geschrieben, habe Links auf meiner eigenen Pinnwand und in lokalen Gruppen gepostet. Fremdenhass gekontert, Lügen und Verzerrungen richtigzustellen versucht. Nicht immer höflich, das gebe ich zu, es war sogar hin und wieder auch mal ein Ausrufezeichen dabei. Etwa, wenn – die aktuell neueste Masche unserer „besorgten Bürger“ – Obdachlose in Stellung gegen die Flüchtlinge gebracht werden („Wohnraum für das eigene Volk! Nicht für Flüchtlinge!“). Ich habe in meiner Osnabrücker Zeit mal für das Straßenzeitungsprojekt „Abseits!?“ gearbeitet und weiß, dass Obdachlose von Rechtsextremen nicht mehr zu erwarten haben als Schläge und Stiefeltritte. Wenn sie Glück haben. Es sind auch reihenweise Wohnungslose zu Tode geprügelt und getreten worden in den vergangenen Jahren.

Kann man bei so etwas schweigend weiterklicken? Es ist, wie an einem Autounfall vorbeizufahren: Hält man an und hilft, oder tut man so, als hätte man nichts gesehen? 1938 haben wir weggeschaut, als eine Minderheit verleumdet wurde, als die Synagogen brannten, als Menschen zu Schmarotzern und Kriminellen erklärt wurden. Und heute?

Doch man zahlt einen Preis, wenn man die Klappe aufmacht. Die Antworten kommen im Minutentakt, ob zustimmend oder ablehnend. Es ist schwer, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, wenn das Smartphone auf der Schreibtischplatte ständig brummt. Wenn man auf der eigenen Facebook-Pinnwand von einer Frau als Arschloch und Verräter beschimpft wird, weil man den Leiter des Rewe-Marktes in Jüchen öffentlich gelobt hat, der für Busse mit völlig erschöpften Flüchtlingsfamilien spontan Babyartikel zur Verfügung gestellt hat. (Bild)

Primitives Arschloch

Buchstäblich bis unter die Bettdecke habe ich die Krise mitgenommen: Das Smartphone ist ein unerbittlicher Begleiter und Facebook ein nie endender Wasserfall von Informationen und Interaktionen – und gleichzeitig ein Mahlstrom, der Aufmerksamkeit und Lebenszeit verschlingt. Hinzu kommt die schiere Wucht dessen, was gerade geschieht: 40.000 Menschen wurden allein am vorletzten Wochenende am Münchener Hauptbahnhof erwartet, überall im Land schlafen Menschen in Turnhallen, werden Unterbringungsmöglichkeiten verzweifelt gesucht. Wo wird das alles enden? Es gab Nächte, da konnte ich stundenlang nicht einschlafen. Tagsüber war ich wie gerädert. Meiner Twitter-Bekannten Cornelia Melcher ging es ähnlich – in ihrem Blog Muckich.de beschreibt sie, wie sie damit umging.

Ich glaube, dieser Typ aus Berlin gab den Ausschlag, der auf Facebook den Tod des ertrunkenen kleinen Aylan „feierte“. Vielleicht auch der Widerling, der zu den erstickten 71 Menschen im Kühllaster einen unsäglich widerwärtigen Witz (Bild) machte. Gegen so viel Menschenverachtung in den Köpfen kann man nicht sachlich ankommentieren. Aber wie geht man dann damit um?

Der Entschluss reifte, etwas Konstruktives zu tun. Wenn da schon etwas Gewaltiges mit unserer Gesellschaft passiert, will ich zumindest nicht tatenlos zusehen. Ich schrieb für die Schwerpunktausgabe von Aachener Zeitung und Aachener Nachrichten einen Artikel über das Projekt „Blogger für Flüchtlinge“. Ich füllte den Flüchtlingshelfer-Meldebogen auf Aachen.de aus. Ich ging am Montag zur offiziellen Bürgerinformation im Einhardgymnasium und saß am Dienstag im Helfertreffen der Evangelischen Kirchengemeinde in der Löwenstein-Kaserne. Und fühlte mich danach wie gelöst: Endlich raus aus dem hassverseuchten Netz in die wirkliche Welt! Endlich umgeben von konstruktiven, optimistischen Menschen!

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Und nun dieser Samstagmorgen. Mein erster Einsatz. Der graue Dunst liegt immer noch über der Stadt, als ich die Stolberger Straße nach Rothe Erde hochradele. Als ich auf dem Pausenhof stehe, kommt mir eine Frau entgegen: „Wollen Sie auch zur Turnhalle?“ Ich nicke. Und erfahre, dass die Essensausgabe um eine Stunde nach hinten auf 8.30 Uhr verlegt worden ist. Das hätte man den Helferlein natürlich auch mal kommunizieren können. Die Dame und ich überbrücken die Wartzeit bei einem Kaffee in der Nobis-Bäckerei an der Von-Coels-Straße.

Um Viertel nach Acht dann der zweite Versuch. Die Szenerie strahlt Tristesse aus: In einer Ecke des Schulhofes steht ein Toilettencontainer mit Duschgelegenheiten, davor vertreten sich vier leicht fröstelnde Mitarbeiter eines Security-Unternehmens die Beine. Neben der Turnhalle ist ein Englisch-Klassenraum für die Essensausgabe hergerichtet worden. Die Klassentische stehen in langen Reihen, an der Rückwand bilden Biertische einen einfachen Tresen, zwei Kühlschränke stehen in der Ecke, dazu ein Tisch mit Wasserkocher und einige Schachteln mit Teebeuteln. An der Wand ein paar Zettel mit Erklärungen auf Englisch und Arabisch.

Essensraum1

Teetisch1

Arabisch1

Drei Helfer sind wir insgesamt, dazu die junge Pastoralassistentin der Kirchengemeinde. Der Leiter der Unterkunft, ein gut ebenso gut gelaunter wie tatkräftiger Mann vom Roten Kreuz, weist uns ein: Einweghandschuhe wegen der Hygiene anziehen, Tilsiter-Käsescheiben aus einer Großpackung auf einem Kuchenblech auslegen. Eine andere Käsesorte gibt es nicht, Wurst hat der Caterer mal wieder nicht geliefert, aber ein Dutzend Scheiben von gestern sind noch übrig. Ich schneide reihenweise Brötchen auf, während die anderen Helferinnen Einweg-Plastikbesteck in Servietten rollen. Kartons mit Kleinportionen an Marmelade, Butter und Nutella liegen bereit. Insgesamt ein karges Mahl in nüchternst möglicher Atmosphäre – man sollte all jene Bürger mal hereinführen, die so besorgt sind, die Asylbewerber würden mit Luxus überschüttet. Das hier ist schon nah an der unteren Grenze dessen, was ein Sozialstaat leisten kann. Nicht mehr und nicht weniger.

80 Flüchtlinge sind seit Montag in der Turnhalle der Grundschule untergebracht – ausschließlich Männer, und diese Aufteilung ist auch verständlich: Feldbetten gibt es keine, Privatsphäre auch nicht, die Matratzen liegen dicht an dicht, für Frauen und Kinder wäre das nicht zumutbar. Mir ist schleierhaft, wie man unter solchen Umständen überhaupt schlafen kann. Dass die Leute später aufstehen möchten, leuchtet ein: Sie haben nichts zu tun, außer auf die Aufnahme ihrer regulären Asylverfahren zu warten. Und die 4,61 Euro Taschengeld, die sie pro Tag bekommen, reichen auch nur für einen Kaffee und ein Stück Kuchen am Nachmittag oder zwei kleine Getränke am Abend.

Wir warten. Schließlich kommt der erste Gast in den Raum. Mein erster Flüchtling – ich muss mich zwingen, den Mann nicht anzustarren, etwas absurd ist dieser Moment schon. Der erste Refugee, den ich in meinem Leben bewusst als solchen wahrnehme, ist ein älterer Mann von etwa 60 Jahren, mit kleiner Brille und müdem Blick. Wir Helfer erwachen aus unserer Reglosigkeit: „Ein Brötchen? Zwei? Käse? Wurst?“ Es wird genickt, gestikuliert, die verdammten Wurstscheiben kleben aneinander, ich reiche Brötchen an. Ein zweiter Mann kommt in den Raum, jünger, kräftig, frisch geduscht und gut gelaunt, mit erstaunlich akkurat gestutztem Dreitagebart. „Die legen viel Wert auf gepflegtes Äußeres“, erklärt der Einrichtungsleiter. In der Gruppe sei ein Friseur, der seinen Mitbewohnern für einen Euro Haare und Bärte schneide. „Wenn die dann so in die Stadt gehen, fallen die mit den gespendeten Klamotten in der Menge gar nicht mehr auf.“

Von Gedränge kann an diesem Samstagmorgen keine Rede sein. In den folgenden anderthalb Stunden sind es höchstens 20 bis 30 Gäste, die sich aus den Brötchen, Butterpäckchen, Tilsiter-Scheiben und den Portionsdöschen für Marmelade und Nutella ein Frühstück basteln, abgerundet durch einen Tee (schwarz, Fenchel oder Kamille) oder Instant-Kaffee im dünnwandigen Einwegbecher. Ein schwarzer Eriträer telefoniert auf französisch. Wir erfahren später, dass er fast verrückt ist vor Sorge um seine Frau und sein Kind – sie wurden auf der Flucht getrennt und er weiß nur, dass sie irgendwo in Deutschland sind. Wie hält ein Familienvater so etwas aus?

Dann ist es 10 Uhr – „Feierabend“, sagt der Einrichtungsleiter fröhlich. Auch wenn er mit den Gästen scherzt und für jeden ein freundliches Wort hat: Die Essenszeiten werden hier absolut strikt eingehalten. Wer jetzt noch kommt, muss bis zum Mittag warten. Der junge Mann, der noch einmal in den Brötchenkorb greifen will, hat Pech: „Finished!“ Er akzeptiert wortlos.

Probleme mit der Sauberkeit gäbe es auch nicht, sagt der Leiter. „Die wischen hier selbständig durch und kehren auch schon mal den Schulhof.“ Der Mann hat die Truppe offenbar im Griff – „das sind ja alles gestandene Leute“. Seine gute Laune und seine Zuversicht stecken an. „Alles gut?“ fragt er einen der Gäste. „Alles gut!“ kommt es grinsend zurück. Der Leiter lacht. „Cool, der Typ.“

Dann wird der Klassenraum, der zum Essensraum wurde, abgeschlossen. Einige Gäste haben sich unter ein offenes Zeltdach in einer Ecke des Schulhofs gesetzt, andere spazieren herum, einige telefonieren. In den nächsten Tagen wollen die Ehrenamtlichen von Freifunk Aachen einen WLAN-Router installieren. Dann können die Männer mit ihren Familien über Internet-Messenger wie Whatsapp oder Facebook telefonieren und das Geld für die teuren Prepaid-Karten sparen.

Wir Helfer plaudern noch etwas, dann ist unser Einsatz beendet. Nüchtern betrachtet habe ich heute im wesentlichen einige Scheiben Käse über eine Theke gereicht. Trotzdem ist seit heute Morgen für mich alles anders: Der Knoten ist geplatzt, endlich habe ich etwas Sinnvolles getan. Und „die Flüchtlinge“ sind für mich von einer namenlosen, fremden und vielleicht bedrohlichen Masse zu Menschen mit Gesichtern geworden. Die lachen, sich rasieren und morgens müde über ihrem Becher Tee hängen.

Ich weiß nicht, wie das ausgehen wird, was gerade über unser Land und unsere Gesellschaft hereingebrochen ist. Ob die schönen Hoffnungen auf Hunderttausende motivierte und engagierte neue Mitbürger wahr werden? Oder ob neue Parallelgesellschaften entstehen, Ghettos voller Gewalt und religiösem Fanatismus einerseits, „national befreite Zonen“ im Osten andererseits? Keine Ahnung. Aber ich weiß, dass wir eine Chance haben, diesen Prozess mitzugestalten. Jeder für sich, im Kleinen, wenn wir uns einbringen. Wenn wir mit den neuen Nachbarn reden, sie als Menschen behandeln und versuchen, ihnen unsere Welt und unsere Werte nahezubringen. Ob das gelingt, weiß heute niemand. Ich habe meine Seite jedenfalls gewählt.

Ich radele nach Hause. Der Nebel hat sich verzogen. Der Himmel ist leuchtend blau. Über Aachen scheint die Sonne.

*

Wer sich selbst einbringen möchte, hat viele Möglichkeiten: Meldet euch bei der Stadt, dem Roten Kreuz, vielen Sozialen Diensten und Kirchengemeinden. Ehrenamtliche Helfer werden überall gesucht: für Essensausgabe, Alltagsbegleitung, einfachen Sprachunterricht, Sport- und Freizeitangebote.

Hier eine kleine Auswahl (weitere Links willkommen!):
Rotes Kreuz Aachen
Bürgerstiftung Aachen
Aachener Hände
Stadt Aachen
UnserAC
Evangelische Kirchengemeinde
Save Me Aachen

Und natürlich: Blogger für Flüchtlinge, das in den vergangenen vier Wochen schon mehr als 120.000 Euro für verschiedene Flüchtlingsprojekte gesammelt hat. Spenden willkommen!

Gäste auf der Couch

Sony Nex-6 mit Zeiss Touit 1.8/32, f8, 1/60s, ISO 2500, 32 mm
Sony Nex-6 mit Zeiss Touit 1.8/32, f8, 1/60s, ISO 2500, 32 mm

Kommen wir nun zu etwas völlig anderem. Genug von der Kamera, sprechen wir über die Couch. Beziehungsweise dem Surfen darauf. Es ist wieder ein lauschiger angenehmer Abend in diesem so seltsam launigen Sommer, es ist wieder die Pontstraße, es ist wieder das La Jeunesse. Ich sitze mit meinem derzeitigen Couchsurfing-Gast bei einem knusprigen Flammkuchen – und natürlich einem herrlichem Bier, heute einem Aachener Cornelius.

In dieser Woche ist es Fabian, ein reisender Konditor aus Bern mit einem prächtigen Bart, der bei mir Zwischenstation auf der Weiterreise nach Südengland macht. Vor ein paar Tagen war es Barış, ein junger Student aus Istanbul, der seinerzeit an den Gezi-Protesten beteiligt gewesen war. Davor James, der Pharmaentwickler aus San Francisco mit seiner großen Canon 5D. Jeder auf seine Weise ein höchst interessanter Gesprächspartner und liebenswerter Gast, jeder mit hörenswerter Lebensgeschichte und bedenkenswerten Ansichten.

Sony Nex-6 mit Zeiss Touit 1.8/32, f1.8, 1/60s, ISO 2500, 32 mm
Sony Nex-6 mit Zeiss Touit 1.8/32, f1.8, 1/60s, ISO 2500, 32 mm

Es ist Außenstehenden – vor allem weniger netz-affinen Menschen – schwer zu erklären, warum man wildfremde Leute in seinen eigenen vier Wänden übernachten lässt, sie bewirtet wie alte Freunde, mit ihnen etwas trinken geht und ihnen die Innenstadt zeigt.

Man muss ihn wohl einfach einmal selbst erlebt haben, den Geist dieses weltwumspannenden Netzwerks, in dem so viele Menschen bei aller Unterschiedlichkeit so ähnlich ticken. Und man sich mit der Zeit Vertrauen so nachhaltig aufbauen kann, dass einem ein Gastgeber zur Begrüßung seine Wohnungsschlüssel in die Hand drückt („ich komm dann in acht Stunden von der Arbeit nach Hause, bedien dich einfach am Kühlschrank“, so passiert 2008 auf der Rückreise von der Skandinavien-Tour in Kopenhagen).

Es ist auch gar nicht reine Selbstlosigkeit, die mich bei den „Couch Requests“, den Anfragen nach Übernachtungsmöglichkeit, auf „Yes“ klicken lässt. Es ist im Grunde Eigennutz. Denn auch wenn mancher Gast ein kleines Geschenk mitbringt – das kann ein Stück leckerer Käse aus seiner Heimat sein, ein Kochbuch oder auch ein Kopfhörer von Apple -, geht es nicht ums Materielle. Es geht auch den Gästen nicht ums Sparen von Hotelkosten (jedenfalls nicht den meisten).

Sony Nex-6 mit Zeiss Touit 1.8/32, f1.8, 1/60s, ISO 1600, 32 mm
Sony Nex-6 mit Zeiss Touit 1.8/32, f1.8, 1/60s, ISO 1600, 32 mm

Es geht ums Kennenlernen, ums Berichten, ums Austauschen, ums Erzählen. Ein Stück große weite Welt im Wohnzimmer zu haben, den eigenen Horizont zu erweitern. Ein Freundschaftsband in eine weit entfernte Stadt zu knüpfen – und wer weiß, vielleicht braucht man ja selbst einmal eine Couch in Brüssel, Paris, Lausanne, Nürnberg, im litauischen Joniškis oder toskanischen Pistoia.

Schlechte Erfahrungen habe ich nie gemacht, schöne um so öfter. Fast immer waren zwischen Gast und Gastgeber sofort Vertrautheit und Freundlichkeit da, vor allem bei den „echten“ Couchsurfern, den langjährigen Mitgliedern, den ganz Reiseerfahrenen und Weltenbummlern, denen die Welt das Zuhause ist.

Eins hatten alle gemeinsam, die es im Lauf der Jahre zu mir geweht hat: Es war eine Bereicherung, sie kennenzuerlernen. Und darum freue ich mich schon aufs nächste Mal, wenn in meiner Mailbox ein Couch Request aufploppt. Willkommen in Aachen, unbekannter Freund.

Unaufschiebbares

Es gibt Dinge, die kann man nicht aufschieben. Geburtstage von Menschen, die man liebt, zum Beispiel. Dafür setzt man sich auch dann am Wochenende ins Auto, wenn in fünf Bundesländern die Sommerferien beginnen und sich die Stauprognose des ADAC liest, als träfen sich die Reiter der Apokalypse mit Dischingis Khans Goldener Horde zum munteren Schädelkegeln am Kamener Kreuz:

„Gewaltige Staus erwartet Autofahrer auf dem Weg in den Sommerurlaub an diesem Wochenende. An diesem Wochenende starten die Bundesländer Berlin, Brandenburg, Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern sowie der Süden der Niederlande in die Ferien. Aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und der Mitte der Niederlande rollt die zweite Reisewelle. Es gibt kaum mehr Strecken ohne Staus. Wer kann, sollte für den Start in den Urlaub auf einen Tag unter der Woche ausweichen.“

Aber, wie gesagt, es gibt Dinge, die kann man nicht verschieben, denen kann man nicht ausweichen. Ein Trost bleibt dem Schreiber dieser Zeilen, während er am Sonntagnachmittag in seiner frisch polierten C-Klasse vom elterlichen Oldenburg aus in Richtung Süden brummt: Er hat es nicht eilig. Keine Deadline dräut, kein Minutenzeiger sitzt ihm im Nacken. Die linke Spur darf heute gerne denen gehören, die nicht so gut dran sind wie er. Manchmal ist es auch die Mittlere, wenn sie ihn in ihrer Eile rechts überholen, um sich ein, zwei Autos weiter vorne im Pulk einzusortieren.

Denn ein Pulk ist es, der sich da über die A1 ab dem Autobahnkreuz Alhorn in Richtung Osnabrück/Münster schiebt. Selten geht es schneller als 120 Stundenkilometer voran, meist deutlich drunter, immer wieder zieharmonikat sich die Blechschlange bis auf 60 km/h zusammen. Kurz hinter Vechta – der beim Volltanken in Oldenburg auf Null gestellte Tageskilometerzähler zeigt gerade erst 50 zurückgelegte Kilometer an – ist dann zum ersten Mal Schluss. Stau.

Auf drei Spuren stehen wir da, im leichten Nieselregen unter trübem Himmel, und warten, kriechen ein paar Meter weiter, stoppen, warten, fahren wieder an, kriechen ein, zwei Wagenlängen voran, stoppen wieder, warten. Bis es irgendwann, erst zögerlich, dann merkbar und schließlich endgültig wieder weitergeht. Eine Stunde ist da schon vergangen, eine Stunde für 50 Kilometer Strecke. Von knapp 400 nach Aachen oder gut 300 nach Köln – je nachdem, wie weit ich heute noch komme.

Fürs erste sind das gerade mal weitere 50 Kilometer. Bei Osnabrück staut es sich zum zweiten Mal. Und wieder ist eine Stunde vergangen, als der Kilometerzähler endlich die 100 voll macht. Und so in etwa bleibt es auch.

Bis kurz hinterm Kamener Kreuz.

Es sind keine Mongolischen Reiterhorden, die da die Autobahn dichtmachen, es ist nur eine zufällige Zusammenkunft zahlreicher Sommerfrischler aus verschiedenen Ecken Deutschlands. Trotzdem geht in Sekundenschnelle gar nichts mehr, und die Geschwindigkeit und Gründlichkeit, mit denen der Verkehr zum Erliegen kommt, verraten dem auf unzähligen Autobahnkilometern durchgewalkten Hintern des Erfahrenfahrers, dass es diesmal etwas Ernsteres ist. Keine Spurverengung wegen einer Baustelle, kein Wohnmobil mit Motorradanhänger, dem an einer Steigung beim Überholen die PS ausgegangen sind. Das hier wird länger dauern. Minuten vergehen. Nach und nach werden Motoren abgestellt. Es wird still. Türen klappern, Fahrer steigen aus. Zigaretten werden angezündet. Menschen versuchen, nach vorne zu spähen, schirmen die Augen mit der Hand ab. Ist da etwas zu sehen, hinter dem blauen Hinweisschild auf das Autobahnkreuz Dortmund/Unna?

Stau659

Das Martinshorn ist zuerst ganz leise, kaum zu hören. Dann: bläuliches Aufblitzen im Rückspiegel. Einige Autofahrer beginnen, ihre Mobile auf den wenigen zur Verfügung stehenden Metern Asphalt aus dem Weg zu rangieren. Schon rauscht der erste Rettungswagen vorbei. Der Zweite. Jetzt ein knallrotes Löschfahrzeug der Feuerwehr. Noch eins. Schließlich Polizei.

Kaum jemanden hält es jetzt im Wagen. Auch mich nicht. Ist das Gafferei? Ist es Anteilnahme? Wir Menschen sind so gepolt, dass wir wissen wollen, was vor sich geht. Was passiert da vorne? In der Kurve hinterm Hinweisschild verharren die vielen winzigen Blaulichter, flackern statisch vor sich hin. Steigt da Rauch auf?

Immer mehr Minuten kriechen ins Land. Hätte man die Fahrt nicht doch verschieben sollen? Lieber später am Abend fahren? Oder ganz früh am Morgen? Eine andere Route nehmen?

Über der stehenden Kolonne kreist ein Greifvogel. Auch wenn er kaum Ähnlichkeit mit einem Geier hat, er lenkt die Gedanken unwillkürlich auf das, was sich da vorne ereignet hat. Sind Menschen verletzt worden? Einer, mehrere? Schreit in diesen Minuten jemand vor unerträglichen Schmerzen, eingeklemmt in einem zerquetschten Haufen Blech? Kämpfen Mediziner um einen Sterbenden? Vermutlich ist es eine Gnade, außer den blauen Lichtpunkten da hinten in der Kurve nichts erkennen zu können.

Plötzlich ein Knattern. Ein Rettungshubschrauber steigt auf. Der Pilot senkt die Nase der Maschine, die schnell Fahrt aufnimmt, tief über unsere Köpfe donnert. Ob im Innenraum jemand auf der Bahre liegt?

Ein anderes Geräusch – lautes Hupen von hinten. Ein großer, leuchtend gelber Abschlepp-Lkw schlängelt sich durch die Rettungsgasse, im Sekundenrythmus lässt der Fahrer die Fanfaren dröhnen. Wenige Meter dahinter ein zweiter.

Es dauert noch lange – eine Viertelstunde? Eine Halbe? -, ehe die Autotüren wieder klappern. Ehe die Wartenden in ihre Wagen steigen. Dann werden Motoren angelassen. Bewegung kommt in die Schlange. Anfahren. Langsam. Im Kriechtempo voran. Vorbei an Polizisten in gelben Neonwesten, die den Verkehr mit Kellen ganz nach rechts auf den Standstreifen dirigieren, vorbei an einem Abschleppwagen mit einem zerbeulten gelben Kombi auf der Ladefläche, vorbei an einem Kastenwagen der Polizei mit flackerndem Blaulicht, in dem Menschen sitzen, vorbei an einem zerschrammten BMW links an der Leitplanke.

Dann ist die Bahn vor mir frei. Und zwar völlig frei, weil der Verkehr sich nur tröpfchenweise aus der Engstelle befreien kann. Als wollte die Autobahn sich für das Warten entschuldigen, lädt sie jetzt zum Gasgeben ein: Alle drei Spuren für dich! Doch mir ist nicht danach, ein paar der vielen verlorenen Minuten wieder hereinzuholen.

Es gibt Dinge, die man nicht verschiebt, weil man sie unbedingt tun möchte. Und dann gibt es Dinge, die kann man nicht verschieben, weil sie einem passieren. Weil sie sie einem im wahrsten Sinne des Wortes wider-fahren, wie zwei Tonnen Auto auf Kollisionskurs auf einer Autobahn. Dinge, die einen aus der Spur werfen, aus aller Planung katapultieren, vielleicht sogar aus dem Leben.

Mir ist heute auf der A1 bei Unna etwas Lebenszeit abhanden gekommen. Lebenszeit, die ich lieber anders verbracht hätte. Doch es gab jemanden, der hätte sicherlich gerne mit mir die Plätze im Stau getauscht. Jemand, der näher am Geschehen hinter dem blauen Autobahnschild war als ich. Ganz nah. Zu nah.

Sechs Stunden nach dem Losfahren stelle ich in Köln den Motor ab. Sechs Stunden für gut 300 Kilometer. Und trotzdem habe ich das Gefühl, Glück gehabt zu haben.

Stil oder Knacks

Was einem lieb ist, das schützt man vor einem Knacks. Und was einem auch noch teuer ist, das darf ruhig mit etwas mehr Aufwand und Stil geschützt werden. Zu dieser Erkenntnis gelangt, klickte sich der Schreiber dieser Zeilen – seit kurzem stolzer Besitzer eines Edel-Notebooks mit Früchtelogo auf dem Deckel – auf der Suche nach einer angemessen funktionalen wie stilvollen Schutzhülle nächtelang durch die Angebote diverser Verkaufsplattformen im Netz.

Die 8,99-Euro-Hüllen aus Fernost waren schnell verworfen. Auf den Kunsthandwerks- und Handarbeits-Plattformen Etsy und Dawanda fanden sich viel schmuckere und individuellere Futterale. Doch der richtige Funke sprang erst über, als ein Bekannter von den Notebookhüllen einer kleinen Manufaktur aus Mülheim schwärmte: liebevoll aus wiederverwerteten Turnmatten aus dem Schulunterricht gefertigt, im markant-blauen Knieaufschürfer-Rubbelkunststoff, mit abgegriffenen Lederecken versehen. Mehr Stil ist kaum denkbar. Der Autor dieser Zeilen, in seiner Abscheu für den Schulsport unübertroffen, war begeistert: Das digitale Schätzchen in die Haut des alten Feindes wickeln, was für ein nachträglicher Triumph!

zirkeltraining

Da die upgecycleten Hüllen auch seiner Heimatstadt erhältlich sind, schwang er sich am folgenden Abend aufs Rad. Und damit wäre diese Geschichte um ein Haar auch schon zu Ende gewesen: Gedankenverloren zog er an einer Kreuzung vom rechten Straßenrand quer über die Spuren nach links, auf den Zielladen zu. Dass just in dieser Sekunde ein flott gefahrener Kleinwagen zum Überholen angesetzt hatte, merkte er erst, als dieser gefühlte Millimeter an seinem linken Lenkerende vorbeischoss.

Der Schreiber dieser Zeilen schätzt Fahrradhelme sehr. Ginge es nach ihm, würde kein Radler ohne die lebensrettende Styroporhalbschale auf dem Sattel sitzen. Er selbst wird diesem hehren Anspruch allerdings nicht immer gerecht – auch an diesem Abend nicht. Manchmal hat das ebenfalls etwas mit fehlendem Stil zu tun, manchmal mit schlichter Bequemlichkeit.

Sein Gesicht wird so weiß wie der Rahmen seines Rades gewesen sein, als er es mit zitternden Fingern vor dem Computerladen anschloss. Sein Notebook steckt seit jenem Tag in einer ebenso sportlichen wie stilvollen Hülle. Seinen Schädel, das hat er sich geschworen, verhüllt er von nun an ebenfalls, wenn er auf zwei Rädern unterwegs ist – denn noch stilloser als ein Notebook mit Kratzern ist nur noch ein Kopf mit Knacks.

[Geschrieben als “Gedanke des Tages” für AmAbend.com, 19 März.]