Mit einem Wisch ist alles App

Es gibt diese Dinge, die braucht kein Mensch. So ein iPad zum Beispiel. Zum ernsthaften Texteschreiben taugt es kaum, für Bildbearbeitung schon mal gar nicht. Als MP3-Player ist es zu sperrig, als Fernseher zu winzig, die Speicherkapazität ist zu gering, die Kamera ein Witz und telefonieren kann man damit auch nicht richtig. Es ist zu klein, zu groß und zu teuer sowieso. Ich habe schon einen Desktop-Rechner, ein Notebook, ein Netbook und ein iPhone. Warum um alles in der Welt will ich auf einmal unbedingt ein iPad haben? Womit wir beim neuen Magazin „Wired“ wären.

Die „Wired“ ist in den USA seit fast zwei Jahrzehnten das amtliche Pflichtblatt für alle Geeks, also die fröhlichen Technikbejaher (und von seiner deutschen Erstausgabe, die seit Donnerstag in den Kiosken liegt, lernen wir, dass der Geek im Englischen das positive Gegenstück zum eher eigenbrötlerischen Nerd ist). Ehrensache, dass ich gleich morgens um 8 Uhr in der Aachener Bahnhofsbuchhandlung stand, um einen der in Folie eingeschweißten Erstlinge ergattern zu können. (Okay, außerdem hatte ich um diese Zeit noch einen Termin bei der benachbarten Bürgerberatung.)

Die echten Fans sind nicht einmal dadurch abzuschrecken, dass sie den knallgelben 130-Seiter im Doppelpack mit dem Herren Männermagazin „GQ“ erwerben müssen. Auf Twitter hatten sie vorher schon gewitzelt, dass der Satz „Will jemand die neue GQ haben?“ am Donnerstag der meistgeschriebene im Netz sein würde.

Um’s kurz zu machen, die erste deutsche „Wired“ ist ein wunderbares Blatt geworden. Chefredakteur und Blogger Thomas Knüwer („Indiskretion Ehrensache„) hat dafür fast alles aufgeboten, das im deutschsprachigen Netz Rang und Namen hat: Mario Sixtus, Markus Beckedahl, Anke Gröner, Richard Gutjahr, Thomas Wiegold, und, und. Zusammen haben sie eine tolle Ausgabe geschaffen. Sie ist bunt, sie ist abwechslungsreich, sie macht Lust aufs Lesen. Da werden in der Rubrik „Fetisch“ Putzroboter getestet. Kult-Autor Jeff Jarvis stellt Johannes Gutenberg als den ersten Geek der Geschichte vor. Der Leser wird in die schlüpfrige Welt des Sexkontakt-Netzwerks Badoo geführt. Ich habe gelacht über das Foto von Darth Vader im Urlaub mit schwarzem Surfbrett, gestaunt über die retro-futuristischen Innenansichten des Atomkraftwerks Leibstadt und mich verloren in den unzähligen Details der „Sim-City“-artigen doppelseitigen Grafik eines Oktoberfest-Zelts. Eine Reportage beginnt sogar in der FH Aachen, wo über die Zukunft des Individualverkehrs nachgedacht wird. Kurz, die „Wired“ ist ein Blatt, das dem Couchtisch eines jeden Netizens zur Zierde gereicht. Sie ist so modern wie ein gedrucktes Magazin nur sein kann.

Und sie ist: veraltet.

Denn dann ist da noch die „Wired“-App für das iPad.

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Die kostet schlanke 2,99 Euro (Heft: 5 Euro) und ist mächtige 633 MB groß. Ist der Download endlich zu Ende, beginnt das Wunder (für das es sich übrigens lohnt, die WiFi-Funktion des iPad anzulassen). Alles, was das Heft kann, kann die App besser. Die große Weltkarte des organisierten Verbrechens ist interaktiv, die Ströme der Schmuggelwaren von Cosa Nostra und Yakuza lassen sich zwecks besserer Übersicht einzeln aufrufen. Auf dem Bild von Schnaps-Pionier Ulf Stahl blubbert es lustig im Reagenzglas. Die Techie-Spielzeuge in der Rubrik „Fetisch“ sind animiert – der Lego-Unimog rotiert per Fingerwisch um 360 Grad, auf dem Arcade-Tisch läuft ein kleines Pac-Man-Spiel.

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Doch die App kann mehr als zwitschern, piepsen und blinken. Sie bietet echten Mehrwert da, wo das Papier stumm bleiben muss. Der Artikel über die twitternde Eiche lädt gleich den aktuellen Nachrichtenstrom von @talkingtree_de. Die neue Raytrix-Kameratechnik wird auf einem Foto mit verschiedenen Tiefenschärfe-Zonen simuliert. Julia Probst, die Stimme der Gehörlosen, zeigt nicht nur wie in der Printausgabe auf drei Fotos die Gebärden für „Facebook“, „Wired“ und „Apple“. Auf der App demonstriert sie außerdem in einem kleinen Video die drei unterschiedlichen Gestik-Namen für Angela Merkel. Manche Sachen muss man einfach in Bewegung sehen, um darüber lachen zu können.

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Und so geht es weiter. Jede Seite, die man sich aufs Display zieht, enthält ein neues Wunder. Im Artikel über den kubanischen Zombiefilm „Juan of the Dead“ ist gleich der komplette Trailer zu sehen, in Hochauflösung. Der fliegende „Smart Bird“-Robotervogel schlägt in einem bezaubernden Filmchen seine künstlichen Flügel zwischen Hochhauswänden. Das Focaultsche Pendel im Gasometer Augsburg schwingt in majestätischer Stille. Selbst die Grafik auf der Titelseite, eine Art Rohbauhaus-Computerkonsole, surrt und rotiert, wenn man sie antippt. Das Entdecken und Ausprobieren der immer neuen Gimmicks macht einfach Spaß.

Zugegeben: Die „Wired“-Geeks haben viele Monate Zeit gehabt, die digitale Erstausgabe vorzubereiten. Sie konnten auf Material der amerikanischen Mutterausgabe zurückgreifen, etwa die tickenden Uhrwerks-Hirn-Animationen. Sie werden ein gewisses Budget gehabt haben. Ob dieser hohe Standard langfristig zu halten ist, zeitlich und finanziell, muss sich erst einmal zeigen.

Trotzdem war ich beim Blättern Wischen durch die App auf dem für das Wochenende ausgeliehenen iPad von dem Gefühl überwältigt: Das ist die Zukunft. Das ist die nächste Generation des Lesens. Die gedruckte Ausgabe, so prall und bunt sie ist, wirkt neben der App wie eine Grammophonplatte aus Bakelit neben der DVD eines Live-Konzerts.

Das sage ich als jemand, der seit 40 Jahren mit dem Gefühl von Papier zwischen den Fingern lebt. Der Zeitungen und Zeitschriften liebt und nicht einschlafen kann, ohne ein paar Seiten in einem Buch gelesen zu haben. Auf und mit Papier kann man wunderschöne Dinge tun und spannende Geschichten erzählen. Wir alle werden uns mit Sicherheit noch viele Jahre lang von Inhalten auf einem Datenträger faszinieren lassen, der beim Umblättern raschelt.

Doch letztlich ist es dieser Inhalt, der zählt, nicht seine äußere Form. Eine Geschichte ist aufregend, lustig oder herzergreifend, ob sie in Marmor gemeißelt, auf Papyrus geschrieben oder auf eine Webseite geladen wird. Die Form hat sich über Jahrtausende immer wieder unseren Lesebedürfnissen und den Möglichkeiten der Herstellung angepasst. Die Hochglanzzeitschrift im Vierfarbdruck ist nur eine Evolutionsstufe in dieser Kette.

Hat jemals ein gedrucktes Magazin die Grenzen seines eigenen Mediums deutlicher gemacht als dieses brandneue Fachblatt für Virtuelles? „Print lebt“ schrieb ein fröhlicher Chefredakteur Thomas Knüwer nach Redaktionsschluss der Druckausgabe am 11. August im „Wired“-Blog. Um dann sinngemäß anzufügen: Und jetzt kommen wir zu App. Wie symbolisch.

Am Donnerstag war ich noch fest entschlossen, die „Wired“ zu abonnieren. Einen Tag später wollte ich ein iPad. Auf einmal, unbedingt. Es gibt Träume, die entstehen mit einem Fingerschnippen. Oder einem Wischen.

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