Pflichtaufgabe

Hohenzollernbrücke. Sony A7 II mit Carl Zeiss Jena Prakticar 1.4 50 II, ca. F11, 72s, ISO 100
Hohenzollernbrücke. Sony A7 II mit Carl Zeiss Jena Prakticar 1.4 50 II, ca. F11, 72s, ISO 100

Hilft ja nix. Wenn man schon mal in Köln ist, kann man auch gleich seine fotografischen Hausaufgaben machen. Gibt es irgendjemanden mit einer Spiegelreflex oder Systemkamera, der sich gegen 22 Uhr auf dieser Terrase noch nicht den Hintern abgefroren hat? Been there, done that.

Aber schee isses scho, gell?

Photokina – oder: Das Alte im Neuen

Köln, Photokina 2016. Ich fotografiere gerade die bizarre Schaufensterpuppenfamilie am Stand von Polaroid. Als ich dabei kurz vom Kameradisplay aufschaue, zucke ich zusammen: Direkt neben mir steht auf einmal ein älterer weißbärtigen Mann, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Ich beende die Aufnahme und drehe mich dem unerwarteten Zuschauer zu.

„Ich sehe, Sie haben da ein Biotar an Ihrer Kamera“, beginnt er freundlich. Ich bin sofort beeindruckt: Das silbern glänzende Aluminium des fast 70 Jahre alten Objektiv-Oldtimers an meiner Sony hebt sich zwar bei näherem Betrachten von all den mattschwarzen Canikons, Sigmas und Tamrons ab, die hier durch die Hallen wuseln. Doch wer achtet in dem Messegewühl schon auf ein einzelnes Besucherobjektiv?

Doch mein neuer Gesprächspartner entpuppt sich als Mann vom Fach. Er hat nicht nur das Biotar trotz davorgeschraubter Sonnenblende erkannt (obwohl es sich auf den ersten Blick kaum unterscheiden dürfte von all den 50- und 40-Millimeter-Tessaren, den Primotaren oder den Flektogons der späten 50er-Jahre), er kennt auch all die anderen Linsen der Nachkriegszeit. Auch er spielt mit dem Gedanken, sich eine Sony-Vollformatkamera zuzulegen und sein gehütetes Altglas von früher zu neuem Leben zu erwecken.

Ich bekomme die Tipps, dass die Firma Fotoservice Bernd Tröster in Halle an der Saale alte Kameras aus DDR-Zeiten bestens wartet und repariert. Dass unter den „Exakta“-Kameras von Ihagee aus Dresden die Variante mit der abgerundeten Frontblende die beste sei. Im Gegenzug schildere ich meine Erfahrungen damit, Jahrzehnte alte Objektive an die Sony-Systemkameras Nex-6 und A7 zu adaptieren (es geht bekanntlich bestens).

Es ist eine aus der Zeit gefallene Unterhaltung, hier mitten in dieser Hightech-Show. An den Messeständen um uns herum werden Smart-Kameras der neuesten Generationen befingert, Besucher zielen mit brandneuen Teleojektiven für etliche Tausend Euro in der Halle herum wie mit Geschützen auf alten Segelschlachtschiffen und mehr oder weniger bedauernswerte Models räkeln sich in unterschiedlichen Szenerien vor den Hobby- und Profifotografen.

Die Fotowelt ist wieder einmal in hektischer Bewegung. Während die Riesen der Branche in Köln alles auffahren, was toll und teuer ist, ist die Fotografie im Wandel von digital zu smart. Die vertraute Kompaktkamera stirbt gerade einen schnellen Tod, was sie kann, kann das Smartphone längst besser. Actioncams, Kameradrohnen und immer neue Softwarefunktionen krempeln den klassisschen Kameramarkt radikal um.

Und hier stehen ich und mein neuer Gesprächspartner und reden über Technik, die ein halbes Jahrhundert plusminus ein paar Jahrzehnte alt ist. Technik von Firmen, die längst untergegangen sind, von großen Namen wie Rollei, dem VEB Pentacon und Meyer Optik Görlitz. Und wie gut das war, was diese Werke verließ. Es hat etwas Beruhigendes: Was einmal gut war, behält seinen Wert. Was einmal schöne Bilder produziert hat, tut das noch heute. Andere vielleicht als die extrem hoch auflösenden Dateien der Kameras mit ihren 42-Megapixel-Sensoren – die trotzdem manchmal so seltsam klinisch wirken, so nachgeschärft und perfektioniert. Ich habe ein einziges „modernes“ Objektiv, ein Sony FE 2 28. Es produziert fantastische Ergebnisse – und ich benutze es fast nie, weil mir die Bilder seltsam tot vorkommen. Es ist so gebaut, dass es eine starke tonnenförmige Verzerrung erzeugt – die dann softwaremäßig noch im Objektiv beseitigt wird.

Als ich abends nach Hause fahre, fühle ich mich ermutigt: Ich bleibe bis auf weiteres beim Altglas. Da gibt es noch viel zu entdecken. Noch am Wochenende danach ersteigere ich für ein paar Euro eine Ihagee-Kamera auf Ebay – natürlich mit runder Frontblende. Und mit einem klassischen Tessar-Objektiv von Carl Zeiss Jena, dem legendären „Adlerauge“, das Fotografen auf der ganzen Welt jahrzehntelang für seine Schärfe schätzten.

Natürlich im silbern glänzenden Alu-Look. Denn die Oldtimer aus Metall und Glas haben vielleicht nicht die perfekte Randschärfe der brandneuen Plastikbomber, dafür aber reichlcih andere Qualitäten: Sie zu bedienen, ist ein Genuss. Sie funktionieren auch noch nach mehr als einem halben Jahrhundert, wenn die Elektronik längst ausgefallen ist. Und ihre Ergebnisse überzeugen – wenn auch auf andere Weise. Sie wirken unvollkommener, aber lebendiger. Sie haben einfach: Stil. Außen wie innen. Dass es so etwas noch gibt.

Im Barcamp

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Mit dem Kaffee fing es an. Der war nämlich einfach gut. Nicht nur kannenweise frisch zubereitet und bereitgestellt von der Rösterei Sonntagmorgen.com, sondern auch noch liebevoll
in seinen unterschiedlichen Sorten und Wirkungsweisen von „mild“ bis „Hammer“ erläutert. Und so wie der braune Muntermmacher keine Einheitsplörre war, sondern individuell und facettenreich, war auch das gesamte Barcamp Köln an sich keine durchstrukturierte Formatveranstaltung, sondern etwas dynamisches, basisdemokratisches, lebendig Pulsierendes und munter Sprudelndes.

_DSC06006-Fontaene

Wenn es die ebenfalls stets ergiebig sprudelnde Kaffeebar nicht gegeben hätte, dann hätte ich den ersten Tag allerdings kaum durchgehalten. Erst gegen 2 Uhr war ich in der Nacht zum Samstag ins Bett gefallen – einer am Freitagnachmittag vor dem Aachener Westbahnhof gefundene Fliegerbombe sei Dank.

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Die halbe Onlineredaktion von Aachener Zeitung und Aachener Nachrichten durfte eine kleine Nachtschicht einlegen, bis das Mördertrumm aus dem Zweiten Weltkrieg lange nach Mitternacht endlich entschärft war. (Bis die letzten Anwohner in ihre Häuser zurückkehren und die letzten professionellen und ehrenamtlichen Helfer endlich Feierabend machen durften, wird es natürlich noch deutlich später gewesen sein.)

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Ich hatte am nächsten Morgen wenig Ahnung, was genau da auf mein müdes Haupt zukommen würde, außer, dass Barcamps keine durchgeplanten Veranstaltungen sind, sondern von den Teilnehmern grundsätzlich selbst, vor Ort und spontan organisiert werden. Jeder darf zu einem Thema sprechen und jeder darf sich dazusetzen. So weit, so anarchistisch.

Ganz so unbeleckt wie ich waren die meisten der anderen Teilnehmer nicht, die sich dann am Samstagmorgen in den vom Kölner IT-Dienstleister QSC zur Verfügung gestellten Räumen in einer großen – und den Zeitrahmen natürlich großzügig überdehnenden – Runde vorstellten. Jeder mit drei Hashtags, die ihn und seine Erwartungen beschreiben sollten:

Der einzige Neuling war ich allerdings auch nicht – gottseidank. Neugier und Erwartungen waren fast mit Händen zu greifen im Raum.

_DSC05992-Pinnwand

Nach der Vorstellung kam die Vorstellung. Und zwar die der Sessions, die von Teilnehmern angeboten wurden – sei es lange geplant oder gerade spontan erdacht. Auf dem Sessionboard – das es auch in einer Onlineversion gab – war dann nachzulesen, in welchem Raum welcher Vortrag und welche Diskussion stattfinden würde.

Den Teilnehmern blieb die sprichwörtliche Qual der Wahl, denn die Themenvielfalt war groß und reichte vom Nutzen eines privaten Blogs im Rahmen von Bewerbungsverfahren…

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…über digitales Engagement für Flüchtlinge am Beispiel der Hamburger Kleiderkammer…

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…bis hin zum #BetreutenTrinken beim #Craftbeertasting. Bei letzterem habe ich im übrigen gelernt, dass das Heilige Reinheitsgebot Deutscher Nation dereinst kein Lebensmittel- sondern ein Steuergesetz war, mit dem die Verwendung von Weizen im Braugewerbe – statt im Bäckerhandwerk – unterbunden werden sollte.

_DSC05950-Bierchen

Und dass Hopfen die Libido tötet, weshalb es so viele Klosterbrauereien gibt. Zum Glück hatten die meisten Teilnehmer im Anschluss wohl nicht mehr viel vor. Der Fakt fand trotzdem ein digitales Echo.

Auch der eh schon angeschlagene Verfasser dieser Zeilen war nach dieser Session erst einmal pausenreif. Ein Verlangen, das sich im freundlichen Ambiente der QSC-Caféteria durchaus angenehm erfüllen ließ.

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Gut, dass am Ende des Tages schließlich ein Tieflader mit geschätzt 800 Pizzen für die Social Meute vorfahren kam.

_DSC05990-Pizza

Gegen 20 Uhr war dann endgültig Schluss und ein mit Eindrücken, Fakten und Pizza randvoller Hobbyblogger machte sich zusammen mit Mediaperle Meike todmüde auf den Westweg nach Aachen.

_DSC05995-Reste

Um dort glücklich endlich in die Federchen zu fallen? Nein, erst mussten die frischen Eindrücke noch hier im Blog festgehalten werden. Und wo die Bilder doch schon mal bearbeitet waren, konnte man doch gleich noch fix eine kleine Präsentation zusammenklöppeln… hatte nicht eine der Bloggerinnen in einem Nebensatz geseufzt, sie verstünde leider so gar nichts von Fotografie?

Es spricht vermutlich nicht gegen die Qualität einer solchen Veranstaltung, wenn ein todmüder Teilnehmer, statt im Anschluss kräftespendenden Schlummer zu tanken, sich spontan an den Rechner setzt. Um zum ersten Mal in seinem Leben eine Session abzuhalten.

Genau 23 Folien hatte die Präsentation mit dem Titel „Fototipps für Blogger – oder: Erste Schritte aus dem güldenen Käfig der Programmautomatik“, die in den folgenden Stunden entstand.

Inhalt: Die heilige Dreifaltigkeit der Fotografie aus Blende, Belichtung und ISO-Wert, ein paar mehr oder weniger gelungene Beispielsfotos, die kostenlose Bildbearbeitung Irfanview und das WordPress-Foto-Plugin Responsive Lightbox, ein Link auf die Video-Tutorials von Benjamin Jaworskyj auf Youtube, ein bisschen Kaufempfehlung für Systemkameras und zu guter Letzt die Verwendung von preisgünstigen manuellen Objektiven.

23 Folien, mit denen ich – so die wachsende Panik im Lauf des folgenden Vormittags – zweifellos innerhalb von zehn Minuten fertig sein würde. Worauf meine Teilnehmer immerhin in den Genuss kommen würden, innerhalb der vorgegebenen 45 Minuten noch eine fast vollständige zweite Session besuchen zu können.

Es kam dann doch etwas anders. Nach 50 Minuten hochkomprimierten Quatschens war ich mit der Präsentation gerade durch und hatte noch nicht einmal meine zusätzlich auf das Macbook gezogenen Beispielsfotos gezeigt. Noch eine volle weitere Stunde im Anschluss saß ich mit den letzten Interessierten im Raum zusammen.

Immerhin: Den Reaktionen auf Twitter nach kann die Session nicht völlig daneben gewesen sein.

Dann die rituelle Abschluss-Session. Das Feedback, der Dank an die Sponsoren, die Helfer, die Organisatoren…

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Auch wenn der eine oder andere hier etwas ernst guckt: Es war eine ziemlich großartige Veranstaltung, fluffig und familiär. Inhaltlich teils hochkarätig, vom Publikum her angenehmst möglich, von der Location her fast ideal.

DSC06045-Schlussrunde

Und dann war da noch der Kaffee. Am liebsten hätte ich mir ja für den Rückweg eine Thermosflasche „Palthope Estate Ponya“ abgefüllt. Was nicht ging.

Was aber gehen muss: das nächste Barcamp. Ich, die neue Kamera mit dem alten Objektiv und der noch ältere Mercedes mit Salatölantrieb werden dabei sein.

Wen meine Präsentation interessiert, kann sich eine (aus rechtlichen Gründen um eine Folie gekürzte) Fassung hier herunterladen:
Fototipps für Blogger – Marc Heckert – Barcamp Köln 2015.
Über Kritik, Anregungen und vielleicht sogar Lob freue ich mich in den Kommentaren.

Und, weil der Bloggerkodex einen solchen Hinweis gebietet: Die erste Fassung dieses Artikels, geschrieben nach dem ersten Tag, wurde nach dem zweiten Tag überarbeitet und ergänzt.

Nachtrag am Montag:

Ein Barcamp kann Folgen für Sie, Ihren Kontostand und die Menschen in Ihrer Umgebung haben. Die finden sich unter Umständen nämlich plötzlich ständig im Fokus.

Kölner Lichter

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(Note to self: Nächstes Mal schon zwischen 19 und 20 Uhr antanzen. Campingstühle und Picknickkorb mitbringen. Paar Wunderkerzen. Platz an Uferpromenade sichern. Und vor allem: hohes Stativ. Auch eine kleine Nex-6 lässt sich mit Teleobjektiv nur untoll eine halbe Stunde lang über den Kopf halten.)

Überhaupt, die Kölner

Des Aacheners Beziehung zu Köln ist zwiegespalten: Einerseits entlockt ihm der doppelspitzige Dom (gerade mal hundert Jahre alt ist er!) nur ein nachsichtiges Lächeln. Andererseits gibt er zähneknirschend zu, dass es so etwas wie pulsierendes Nachtleben durchaus auch 70 Kilometer weiter westlich gibt. Und dann sind da noch die Kölner. Denen ja selten vorgeworfen wird, an Selbstunterschätzung zu leiden.

Zweieinhalb Jahre lang ertrug der Schreiber dieser Zeilen mannhaft das selbstgewählte Schicksal, täglich von der einen in die andere Domstadt zu pendeln. „Kölle wird dir gefallen“, hatten ihm Kollegen versichert. Läden, Restaurants, Clubs: Köln habe alles, was das Herz begehrt. Und dann wären da noch die Kölner – herzlich, weltoffen, kontaktfreudig.

Was soll er sagen? Der Funke ist nicht so ganz übergesprungen. So reizvoll es auch war, stets eine reiche Auswahl an äthiopischen Restaurants an der Hand zu haben, sich auch zu nächtlicher Stunde von der Straßenbahn heimschaukeln zu lassen (oh, was haben sich die Aachener nur mit ihrem „Nein“ zur Campusbahn angetan!) – lodernde Liebe ist nicht entflammt zur Stadt am Rhein.

Als ihn das Schicksal dann wieder in die wahre, echte und einzige Domstadt zurückwehte, war es für den Schreiber dieser Zeilen das reinste Nachhausekommen. Was Oche an Nähe und Heimeligkeit hat, kann Köln nicht bieten: Mit dem Fahrrad zur Pontstraße, zu Fuß durch die Innenstadt, auf Joggingschuhen durch den Öcher Bosch, mit dem Auto mal eben nach Maastricht. Herrlich.

Die niederländische Nachbarstadt war es auch, in der der Schreiber dieser Zeilen die Silvesternacht verbrachte. In Gegenwart einer internationalen Truppe, allesamt Mitglieder des weltweiten Beherbergungs-Netzwerks CouchSurfing. So wohltuend es war, mit pakistanischen Robotik-Ingenieurstudenten, brasilianischen Opernsängerinnen, mit Belgiern, Polen und Niederländern zu feiern – so peinlich war es auch, auf die Pegida-Bewegung angesprochen zu werden.

Die Welt habe doch bei der WM 2006 über das offene, fröhliche Deutschland gestaunt, erklärte mir ein Belgier. Ist das jetzt schon wieder vorbei? Die Stimmungsmache gegen Flüchtlinge, Moslems und Ausländer in Dresden und anderswo ist auf dem besten Weg, unseren neuen, positiven Ruf im Handumdrehen zu zerstören. Für den Schreiber dieser Zeilen legte sich ein Schatten über den Jahresbeginn.

Und dann waren da noch die Kölner. Als am Montagabend bundesweit wieder Pegida und ihre Gegner aufmarschierten, da konnten am Rhein die paarhundert anti-muslimischen Kögidisten nicht einmal einen Sprechchor starten, so laut war der Gegenwind der vielen Tausend Gegendemonstranten. Dom, Rheinbrücken und diverse Gebäude blieben zappenduster. Es war ein bunter, fröhlicher, lauter Widerstand gegen Ausgrenzung und Angstmache.

Dem Neu-Aachener Ex-Kölner ward es innerlich ganz warm. Ihre Innenstadt mag nicht so hübsch sein wie unsere, die Wohnungsmieten unverschämt hoch, die Straßen chronisch verstopft – aber das Herz haben sie am rechten Fleck, die Kölner. Gute Menschen bleiben gute Menschen, egal wo sie wohnen, egal wo sie herkommen. Und so ruft er rüber an den Rhein, versöhnt mit der abgewählten Wahlheimat: Habta jut jemacht, wa!

[Geschrieben als „Gedanke des Tages“ für AmAbend.com, 6. Januar]

Mitfahrgelegenheit VIII: Das Duo

„Am Hauptbahnhof“ lautet eine häufige Antwort, wenn ich meine abendlichen Mitfahrer frage, wo in der Domstadt Köln ich sie absetzen darf. Ich bemühe mich dann stets, möglichst zartfühlend zu erklären, warum ich als Südrandlagenbewohner wenig Neigung verspüre, im Abendverkehr nochmal eben schnell mitten ins Herz der Millionenstadt zu fahren. Für die Nichtkölner unter euch aber gerne hier die Erklärung in der Langversion: Köln ist groß. Sehr groß sogar. Selbst von der günstigsten Autobahnabfahrt aus dauert es je nach Verkehrsdichte mindestens 20 bis 40 Minuten zum Bahnhof – und zwar pro Fahrt. Ich käme also im günstigsten Fall 40 Minuten später nach Hause, im ungünstigsten fast anderthalb Stunden. Selbst für einen Extra-Euro hängt da die Money-Life-Balance in einer gewissen Schieflage. Also werfe ich 95 Prozent meiner Mitfahrer an der Straßenbahnhaltestelle Sülzgürtel ab, von wo aus die Linie 18 sie in einer knappen Viertelstunde ohnehin schneller zum Hauptbahnhof bringen kann als ich mit dem Auto.

Es gibt aber auch Ausnahmen, und von einer möchte ich jetzt erzählen. Im letzten Winter war es, und zwar im letzten richtigen Winter – also nicht im Dauerfrühling 2013/14, sondern in der Zwischeneiszeit 2012/13, als ein nicht enden wollendes halbes Jahr lang sich eine wochenlange Schnee- und Kältewelle mit der nächsten abwechselte. Die A4 war ein 60 Kilometer langes, permagefrorenes Eis- und Matschband und ich so froh wie noch nie im Leben, mir die besten Winterreifen gekauft zu haben, die es für Geld zu kaufen gab. Zwei Glatteisunfälle ereigneten sich in ebendiesem Winter auf ebendieser Autobahn just vor meinem Kühlergrill, die Zahl der von der Straße gerutschten Autos weiß ich nicht mehr.

In diesem Winter also, an einem rasch dunkler werdenden Nachmittag – es fielen schon wieder dicke Flocken auf die in den vergangenen Wochen immer weiter verdickte Schneedecke – buchte ein Mitfahrer. Zwei Plätze, für die Fahrt ab 19 Uhr von Aachen nach Köln.

Schon zum Treffen am Bahnhof Rothe Erde erschien ich etliche Minuten zu spät, weil es so lange dauerte, auf dem Firmenparkplatz die Autoscheiben vom Eis freizukratzen und anschließend über die glatten und zugleich verstopften Straßen hinzukommen.

Am Bahnhof warteten ein Afrikaner von etwa Mitte Vierzig und ein Mitteleuropäer, der noch ein paar Jahre mehr auf dem Buckel hatte und kein Wort sagte. „Er ist taubstumm“, erklärte mir der Afrikaner, während er vorne Platz nahm. Ich gestikulierte ein „bitte Anschnallen“ in Richtung Rückbank, was der Mann mit einem Daumen-Rauf-Zeichen quittierte und der Bitte folgte. So machten wir uns vorsichtig auf den Weg – im Schleichtempo.

Auch auf der Autobahn ging die Sache kaum schneller vonstatten. Der Schneefall wurde immer heftiger, mittlerweile war es auch stockdunkel geworden. Fahren war fast nur auf der rechten Spur möglich, wo sich eine langsame Kolonne mühsam ostwärts quälte. Wann wir wohl da sein würden, erkundigte sich der Mann auf dem Beifahrersitz besorgt. Normalerweise brauche ich für die Fahrt rund 40 Minuten; doch diesmal würde das kaum zu schaffen sein, erklärte ich. Was ein Problem war: Es stellte sich heraus, dass mein Mitfahrerduo um 20 Uhr eine Verabredung zur Weiterfahrt hatte. Am Kölner Hauptbahnhof. Nach Frankfurt. Und damit nicht genug: Von dort aus sollte es mit einer dritten Mitfahrgelegenheit nach München weitergehen, danach schließlich mit einer vierten zum endgültigen Ziel nach Augsburg.

Ich war halb beeindruckt vom Organisationstalent, halb mitleidig ob der grenzenlosen Zuversicht meiner Passagiere, dass diese Kette von vier eng getakteten Gelegenheitstaxifahrten auch halten würde. Hilfreich, wie ich bin, machte ich einen Vorschlag: Da jeder Fahrer vom Kölner Hauptbahnhof aus in Richtung Frankfurt über den sogenannten Verteilerkreisel an der Bonner Straße würde fahren müssen, bot ich an, das Duo dorthin zu bringen, was allen Beteiligten wertvolle Zeit sparen würde. Mein Fahrgast willigte ein und rief den Zweitfahrer an, um den neuen Treffpunkt vorzuschlagen. Und dann riss schon das zweite Glied der fragilen Kette: Ach, es sei doch so schlechtes Wetter, antwortete Fahrer Nummer Zwei, also da habe er spontan beschlossen, lieber mit dem Zug zu fahren.

Auf dem Weg von Aachen nach Augsburg bei heftigem Schneefall schon in Köln zu stranden, ist kein schönes Schicksal. Doch mein Mitgefühl wich schnell blankem Staunen. Mein Mitfahrer legte das Handy – es war ein älteres Nokia ohne jegliche Internetfunktion – nicht aus der Hand, rief sofort jemand anderen an und begann in einer mir fremden Sprache Instruktionen auszugeben. Es war sein Bruder, der zuhause am Computer umgehend begann, andere mögliche Mitfahrgelegenheiten herauszufinden. Die so aus Mitfahrbörsen herausgefischten Nummern wurden wiederum von meinem Auto aus angerufen – und binnen kürzester Zeit hatte mein Freund sich eine alternative Anschlussverbindung herbeiorganisiert, ganz ohne Internet.

Beeindruckt war ich dabei, wieviele Sprachen der Mann beherrschte. Deutsch sprach er mit mir, Suaheli mit seinem Bruder, Englisch mit einem der anderen Mitfahrer. Portugiesisch und Französisch könne er auch, erklärte er mir, als ich ihn auf seine Sprachfertigkeit ansprach.

Wer gelegentlich in diesem Blog mitliest, könnte den Eindruck gewinnen, dass ich es auf Afrikaner abgesehen habe, so oft tauchen sie in meinen Geschichten auf. Dafür kann ich nichts – es stammen halt vergleichsweise viele meiner Passagiere von diesem Kontinent. Seit ich Mitfahrgelegenheiten anbiete, habe ich mehr Menschen mit dunkler Hautfarbe kennengelernt als in allen vorhergehenden Jahrzehnten meines Lebens zusammen. Und dass der eine oder andere von ihnen die eine oder andere skurrile Anekdote für dieses Blog beigesteuert hat, macht sie in ihrer Gesamtheit nicht unsympathischer, im Gegenteil. Vor dem Mitfahrer dieses Abends empfand ich jedenfalls so etwas wie Hochachtung.

Unterdessen näherten wir uns dem Autobahnkreuz Köln-West. Es war bereits 19.40 Uhr und damit klar: Am Hauptbahnhof, von wo aus auch der Ersatzfahrer losfahren wollte, würden die beiden mit der Straßenbahn auf keinen Fall mehr rechtzeitig ankommen. Und weil es anders gar nicht zu schaffen gewesen wäre, entschied ich mich, einmal eine Ausnahme zu machen und sie doch zum Hauptbahnhof zu fahren.

Zumindest abends, wenn die Straßen freier sind, kommt man auf der Rheinuferstraße halbwegs gut in die City. Sogar bei Schneefall. Machen wir es kurz: Wir schafften es. Um kurz vor 20 Uhr kurvte ich auf den Kreisverkehr am Breslauer Platz hinter dem Kölner Hauptbahnhof ein. Mein Mitfahrer bedankte sich in aller Eile und drückte mir einen Zehner in die Hand, der Mann von der Rückbank machte nochmal sein Daumen-Rauf-Zeichen. Dann entschwanden beide in die Nacht.

Ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört. Ich weiß nicht, ob sie in dieser Nacht Augsburg noch erreicht haben. Aber als ich über die verschneiten Kölner Straßen stadtauswärts nach Hause fuhr, empfand ich ein warmes Gefühl der Zufriedenheit: Falls es nicht geklappt haben sollte, hatte es jedenfalls nicht an mir gelegen.

Das ist eine der vielen schönen Seiten am Mitfahrenlassen. Manchmal besteht der Lohn in mehr als nur einem Stück Papier im Portemonnaie.

Was wir nicht sehen, was wir nicht wissen

Die junge Frau fiel auf. Nicht etwa, weil schwarze Menschen im Kölner Stadtteil Raderthal mit seiner hohen Rentnerdichte generell eine Seltenheit wären. Auch nicht, weil sie etwa eine besonders ungewöhnliche Erscheinung gewesen wäre, wie sie da an der Ampel direkt vor meinem Auto über die Straße ging: schwarze enge Shorts, Jacke, nach hinten getürmte Rastalockenfrisur – nichts davon war etwas Besonderes.

Was sie von allen anderen Menschen unterschied, die an diesem warmen Freitagabend gegen 20.30 Uhr auf der Brühler Straße unterwegs waren, war ihr Gang. Wer um diese Zeit an der Ausfallstraße einer deutschen Großstadt stadtauswärts durch ein Wohngebiet marschiert und keinen Vierbeiner an der Leine dabei hat, der will normalerweise irgendwo hin. Hat es eilig, hat ein Ziel. Zu Hause warten Familie, Freunde, Partner, die Couch oder zumindest ein Kühlschrank. Vielleicht sind noch letzte Einkäufe zu machen, heimzuschaffen oder jemand zu besuchen. Um halb Neun am Freitagabend will man endlich ankommen. Wo auch immer.

Doch die junge Frau ging ganz langsam. Den Blick starr geradeaus gerichtet, setzte sie fast mechanisch einen Fuß vor den anderen. Wäre sie etwa halb so alt gewesen, wie ich sie einschätzte, und wäre es früher Nachmittag gewesen, hätte ich gedacht: oh, heute muss Zeugnistag sein, und da hat es jemand gerade gar nicht eilig, seinen Eltern unter die Augen zu treten.

Doch es war weder Zeugnistag noch eine Schule in der Nähe. Noch ein Geschäft, Restaurant oder sonst etwas, wo man in Raderthal um diese Zeit noch hätte hingehen können. Vor der jungen Frau lagen noch hundert Meter Wohnhäuser auf beiden Seiten, dann die um diese Zeit menschenleere Konrad-Adenauer-Kaserne und dahinter bereits der Militärring mit seinem Grüngürtel, der die Stadtgrenze Kölns markiert.

Ein paar hundert Meter weiter liegt, an einem Parkplatz, der Straßenstrich.

Für jeden Menschen, dessen detektivische Fähigkeiten nicht mit denen konkurrieren können, die Sir Arthur Conan Doyle seinem Sherlock Holmes mitgegeben hat, dürfte es schwer bis unmöglich sein, aus dem Gang eines Menschen auf seinen Broterwerb zu schließen. Ich bin denn auch alles andere als sicher, dass meine Vermutung zutraf. Wenn ich selbst zu Fuß auf derselben Strecke unterwegs bin, ist mein Ziel der Kalscheurer Weiher im Grüngürtel, wo sich zu jeder Tageszeit die Spaziergänger gleich im Dutzend über den Haufen laufen. Wer kann denn schon mit Sicherheit sagen, dass die junge Frau nicht einfach nur einen entspannten Spaziergang im letzten Abendlicht im Sinn hatte? Ein romantisches Treffen mit einem Lover auf der Parkbank? Ornithologische Beobachtungen an der Vogelinsel im See?

Doch meine Ahnung sagte etwas anderes. Hier ging jemand, der zwar ein Ziel hatte, aber mit äußerstem Widerwillen dahin unterwegs war. Ich weiß nicht viel über Prostituierte und ihre Lebensumstände, aber acht Tage zuvor hatte ich tatsächlich so etwas wie eine kurze, traurige Berührung mit dieser Welt gehabt, die sich meist so unsichtbar unter der Oberfläche unserer Gesellschaft abspielt.

Am Donnerstag der Vorwoche war ich gegen halb elf am Abend nach dem üblichen Sport und einem Tankstopp in Eynatten auf der nächtlichen A44 in Richtung Aachener Kreuz unterwegs gewesen, als auf der Gegenrichtung kurz hinter Aachen-Brand ein großer Auflauf an Polizei, Technischem Hilfswerk, Scheinwerfern und Warnlampen in Sicht kam. Ich stoppte am nächsten Rastplatz, rief den Redaktionsspätdienst an und erfuhr: Dort war in einem Gebüsch direkt neben der Fahrbahn eine Leiche gefunden worden, die einer jungen Frau.

Die Tote war Afrikanerin und so mager, dass Spekulationen aufkamen, sie sei von Schleusern zu Fuß über die belgisch-deutsche Grenze geschmuggelt worden und dabei vor Entkräftung und Hunger gestorben. In den Tagen darauf fanden die Behören heraus, dass die Frau 30 Jahre alt gewesen war und ursprünglich aus Uganda stammte. Über ihre letzte Zeit in Aachen wurde nur bekannt, dass sie drogenabhängig geworden war und, wie so viele Menschen mit diesem Schicksal, ihren Körper verkauft hatte. Wie ihre sterblichen Überreste in das Gebäusch gelangt waren; ob sie selbst dahin gegangen war oder jemand ihre Leiche dort abgelegt hatte, wusste niemand. Ebensowenig, ob sie an einer Überdosis, einer Krankheit oder etwas anderem gestorben war.

Doch wie auch immer ihre letzten Stunden ausgesehen haben mochten: Einmal war auch sie ein kleines Mädchen gewesen, das mit Freundinnen spielte, lachte und weinte, Träume und Hoffnungen hatte – und ein ganzes Leben vor sich. Ein Leben, das im Frühjahr 2014 am Rand von Aachen in einem Gebüsch an einer Autobahn enden sollte.

Nachdem ich meinen Wagen vor dem Haus geparkt und die Einkäufe aus dem Kofferraum geholt hatte, sah ich der jungen Frau noch einmal nach, wie sie weiter langsam die Straße hinunterging. Mich erwartete das, was die meisten Mitteleuropäer nach Feierabend erwartet: ein gemütliches Zuhause, ein Abendbrot, ein Bett. Was erwartete sie am Ende ihres Weges? Wenn es das war, was ich vermutete: Tat sie es freiwillig? Unter Zwang? Für sich selbst oder für jemand anderen? Für einen Mann? Ein Kind? Ihre Familie?

Unsere kleine, mehr oder weniger heile mitteleuropäische Welt mit all ihren Annehmlichkeiten und Selbstverständlichkeiten ist nur eine von vielen. Es gibt andere Welten, mit Zwängen und Abhängigkeiten; Welten, die wir nicht sehen, von denen wir keine Ahnung haben. Und die uns manchmal doch so nahe sind, dass wir sie mit ausgestreckter Hand berühren könnten.

Und wenn wir das Glück haben, in einer Welt leben zu dürfen, die von liebe- oder zumindest respektvollen Menschen bevölkert wird und wir einer Arbeit nachgehen dürfen, die uns nicht nur irgendwie gerade am Leben hält, sondern vielleicht sogar gefällt oder gar inspiriert – dann sollten wir von Zeit zu Zeit all denjenigen da draußen einen Gedanken schenken, denen dieses Glück nicht gegeben ist.

Mitfahrgelegenheit VI: Der Freund

Ich habe mir angewöhnt, meine Mitfahrer gleich nach der Kontaktaufnahme mit Namen im Telefonbuch zu speichern. Das ist hilfreich, wenn sich etwa während der 11.30-Uhr-Redaktionskonferenz nacheinander vier Leute auf der Mailbox für die abendliche Fahrt anmelden, von denen man zweien dann sofort wieder absagen muss, weil der Wagen schon längst voll ist, der dritte einem am Nachmittag per SMS selbst cancelt und man schließlich abends am Bahnhof Rothe Erde auf der Suche nach Nummer Vier ist, der möglicherweise einfach nur auf der falschen Seite des Gebäudes wartet. Es ist also immer gut, zu wissen, wer hinter welcher Nummer steckt.

Außerdem, und das ist fast noch wichtiger, kann man sich kleine Hinweise und Gedächtnisstützen zu den Fahrern wegspeichern. Jener Thorsten etwa, der mich beim ersten Mal versetzt hatte und zur Abfahrtszeit auch auf mehrfaches Anrufen und SMS nicht reagierte, fand als „Thorsten WARNICHTDA“ Aufnahme in die Kontaktwelt meines Schlaufons. Was mir einige Wochen später, als er erneut anrief, um eine Fahrt zu buchen, die Entscheidung leichter machte, das Gesspräch anzunehmen oder nicht. Ist schon blöd, wenn man jemanden anruft, und keiner geht ran, gell, Thorsten?

So hatte ich denn auch gleich eine schlechte Vorahnung, als mich eine SMS informierte, dass Lina (tatsächlicher Name dem Verfasser bekannt) einen Platz auf der abendlichen Fahrt von Aachen nach Köln gebucht hatte, die um 22.20 Uhr nach meinem donnerstäglichen Sport beginnen sollte. Lina erschien als „Lina FÜRFREUNDGEBUCHT“ auf dem Display, und ich erinnerte mich gleich an die Dame mit der wenig einnehmenden Stimme, die erst den Platz sicherte und dann mitteilte, dass es für ihren Freund sei. Ein Blick auf ihre Profilseite bei der Mitfahrzentrale hatte enthüllt, dass sie das Kunststück fertiggebracht hatte, trotz einer ganzen Reihe gebuchter Fahrten nur mit durchschnittlich zwei von fünf Sternen bewertet zu werden. Meist war’s, weil sie nicht zur Fahrt erschienen war oder für jemand anderen gebucht hatte (der dann nicht erschienen war). In meinem Fall war die Mitfahrt ebenfalls nicht zustande gekommen, weil der Freund angeblich den Bus zum Treffpunkt verpasst hatte. Nun ja, kann passieren.

Auch diesmal sollte ich letztlich wieder ihren Freund mitnehmen – ich frage mich in solchen Fällen immer, warum nicht der Herr Partner selbst die Fahrt bucht? Vertrauensbildung geht irgendwie anders. Letztlich kam aber doch noch ein telefonischer Direktkontakt zwischen besagtem Partner und seinem angehenden, zusehends un-enthusiastischer werdenden Chauffeur zustande. So einfach wie sonst war die Sache nämlich nicht: Es gab an jenem Abend das Problem, dass sowohl in Aachen als auch in Köln der Öffentliche Personennahverkehr ruhte. Streikbedingt. Der Mitfahrpartner sah sich folglich außerstande, zu einem meiner üblichen Abfahrtspunkte in Aachen zu kommen, auch zu keinem halbwegs am Weg liegenden. Stattdessen bat er um Abholung bei sich zu Hause. Sowie um Hinbringung zu seinem Zielort, der Burgstraße in Köln – wo auch immer die sein mochte. Obwohl mir solche Extratouren wegen ihres meist immensen Zeitbedarfs nicht sonderlich liegen, erklärte ich mich schließlich bereit, trotz Nach-Sport-Müdigkeit und später Stunde für jeweils einen Extra-Euro den Mann a) an seinem Zuhause in Walheim („das sind echt nur vier Minuten von der Autobahn!“) abzuholen und ihn b) nach Köln zu seiner Freundin (ob es dieselbe war, die die Fahrt gebucht hatte…?) zu transportieren.

Wie man es innerhalb von vier Minuten von der Autobahnabfahrt Lichtenbusch nach Walheim schaffen soll, blieb im Dunkel der Nacht verborgen. Mit einer basismotorisierten C-Klasse ginge das jedenfalls höchstens, wenn sie von vier Porsches gezogen würde. Nach zehn Minuten Fahrt über ländlich-hügelige Schleichwege schließlich fand ich mich um 22.45 Uhr in einer ghettoartigen Hochhauslandschaft wieder, in der pittoresk gekleidete Personen jüngeren Baujahrs auf Skateboards um mein Auto herumrollerten. Die Türen von innen fest verriegelt, informierte ich Mr. Freund über mein Eintreffen. „Ich bin in fünf Minuten bei Ihnen!“, versprach er. Es vergingen ihrer etwa zwölf, innerhalb derer mein Adrenalinspiegel nicht sank. Als ich gerade den Motor anlassen wollte, klopfte es an der Beifahrertür.

Herr Freund nahm Platz und machte zunächst einige Punkte wieder gut, indem er mir spontan etwas Kuchen anbot – was ich allerdings dankend ablehnte, da es mit meiner aktuellen Diät kollidierte. Während wir uns mühsam über Bodenwellen und um verkehrsberuhigende Ausbuchtungen aus dem Ghetto herauskurbelten, hielt Mr. Freund nach einem Kumpel Ausschau, dem er noch etwas zu übergeben hatte. Vielleicht war es mein Kuchen. Zwanzig endlose Landstraßenkilometer und ebenso viele Minuten später erreichten wir schließlich die Autobahnauffahrt Brand – die eigentliche Heimfahrt konnte beginnen. Mister Freund sorgte derweil für die Bordunterhaltung, indem er seinem Handy erst eine Vielzahl von schrillen Piepstönchen entlockte und schließlich eine Reihe endloser Telefonate in einer mir trotz erheblicher Sprechlautstärke unverständlichen Sprache einleitete. Ich halte mich für einen durchaus geduldigen Mitfahrfahrer, aber zwei Dinge schätze ich an meinen Gästen nicht: sich nach dem Einsteigen sofort die Ohren mit Lautsprechern zu verstöpseln – oder im Gegenteil um so lauter stundenlange Telefonate zu führen. Beides stempelt mich zum bloßen Dienstleister ab, dessen Gegenwart man getrost ignorieren kann.

Da ich Mister Freund in die Kategorie von Mitfahrern einsortierte, die das Thema Fahrtvorbereitung eher entspannt angehen, erkundigte ich mich in der ersten Sprechpause nach rund Dreivierteln der Strecke höflich, ob er den Fahrtbetrag passend dabei habe. Er hatte nicht. „Können Sie nicht wechseln?“ Ich verneinte. Kurzzeitig erwog ich einen Zwischenstopp an der Raststätte Frechen, denn nach der Visite in Walheim hatte ich wenig Neigung, stundenlang durch Kölns mitternächtlichen Osten zu schleichen auf der Suche nach einem Etablissement, das erstens noch geöffnet und zweitens willens war, Mister Freund einen Schein klein zu machen. Man hört ja so einiges von der Schääl Sick, und dass die Burgstraße nicht in der Südstadt liegt, sondern im tiefsten Vingst, hatte mir in der Walheimpause bereits ein Blick auf die Skobbler-App verraten. Auch war ich zu meiner schier ins Bodenlose wachsenden Begeisterung mittlerweile im Bilde, dass mich der kleine Abstecher auf die andere Rheinseite mit seinen fast 30 Kilometern hin und zurück bestenfalls eine halbe Stunde kostbare Lebens- und Schlafenszeit kosten würde. Andererseits ist in Streikzeiten ja Solidarität erste Bürgerpflicht.

Es kam, wie es kommen musste. Das künstlerisch inander verschlungene Doppel-Autobahnkreuz Gremberg ist schon bei Tageslicht für Unkölner schwer zu meistern, und wer sich bei Nacht zu sehr aufs Display seines Navis konzentriert, der wird schon am ersten Kleeblatt flugs in Richtung Bonn herauszentrifugiert. Mister Freund muss befürchtet haben, an der nächsten Abfahrt der A559 schlichtweg aus dem Wagen geworfen zu werden, so still wurde er ob meiner Flüche – deren Saftigkeit sogar noch steigerbar war, als mich das Navi nach dem Verlassen der Autobahn nicht wieder auf selbige zurücklotste, sondern über Landstraßen stadteinwärts schickte.

Viele, viele Ampeln, Abzweigungen und Kreuzungen später kurvten wir tatsächlich durch ein schlafendes, bodenwellenreiches Wohngebiet auf der Suche nach einem noch offenen Kiosk („ich muss auch noch Zigaretten kaufen und Sahne“ – eine Einkaufsliste, die meine Fantasie zu tollsten Blüten trieb). Doch, was soll ich sagen? Am Ende der Fahrt bekam ich mein Geld und Mister Freund ein „schönen Abend noch“ nachgerufen, eh er in die Nacht verschwand.

Eine weitere Ehrenrunde am Gremberger Kreuz in Richtung Bonn – meine mittlerweile erlangte Ortskenntnis half immerhin dabei, diesmal direkt wieder zurück auf die Autobahn zu finden – und nur etwa zwanzig zusätzliche Fahrtminuten trat ich, weit nach Mitternacht, todmüde vor der eigenen Haustür auf die Parkbremse. Daheim. Fast zwei Stunden hatte die zweifache Odyssee durchs Aachener und Kölner Umland gedauert.

Ehe ich zehn Minuten später im Bett todmüde die Augen schloss, hatte ich noch die Kraft, einen neuen Kontakt im Telefonbuch anzulegen. Vorname: Freundvonlina. Nachname: NIEWIEDER.