Erschüttert

Hauptbahnhof Köln, Bahnsteig 8, 9.30 Uhr. Es ist Freitag, es ist bislang eine ziemlich überflüssige Woche gewesen (nein, nichts Dramatischeres als eine halbgare Erkältung und eine anstehende Autoreparatur) und der Schreiber dieser Zeilen wartet auf den Regionalexpress. Es soll nach Aachen gehen, und wer sich fragt, warum der Schreiber dieser Zeilen nicht wie üblich auf den bescheidenen Komfort seiner ollen C-Klasse zurückgreift, der fragt sich das zu Recht. Doch der brave Kilometerfresser steht seit einem Tag auf dem Firmenparkplatz. Sein Besitzer hat es am Donnerstag geschafft, auf dem Weg vom Parkplatz ins Büro den Autoschlüssel zu verlieren. Ja, auf den paar Metern über die Dresdener Straße und das Verlagsgelände. Vielleicht ist das Ding auch irgendwo im Verlag selbst aus der Hosentasche gehüpft, wer weiß das schon.

Das Erlebnis am Donnerstagnachmittag, auf dem Weg zu einem ziemlich wichtigen Termin vor dem Auto zu stehen und sich in wachsender Ungläubigkeit sämtliche Hosen- und Manteltaschen immer wieder aufs Neue zu durchwühlen, zählte zu den unangenehmsten Erlebnissen der vergangenen Tage. Irgendwo muss er doch sein! Doch Fehlanzeige. Also in Laufschritt und wachsender Nervosität zurück ins Büro, über Dresdener Straße und Verlagsgelände. Schreibtisch, Rollcontainer, der Kabelsalat auf dem Boden: Fehlanzeige. Konferenzräume, Kantine, Klo: Fehlanzeige. Der Schlüssel samt Ring – ich clipse ihn normalerweise während der Fahrt vom Rest des Schlüsselbunds ab, damit dessen Gewicht das Zündschloss nicht auf Dauer ausleiert – bleibt verschwunden.

Und mir nichts übrig, als mich für den wichtigen Termin das Auto einer netten Kollegin zu leihen. Und mich abends in den Zug nach Köln zu setzen, nach einem erfrischenden Fußweg zum Bahnhof Rothe Erde, durch Aachener Dauerregen. Unnötig zu sagen, dass nirgendwo im Büro ein Schirm greifbar liegt – erst auf den Stufen des Bahnhofs findet sich ein herrenloses, aber noch weitgehend intaktes Exemplar, das ich tatsächlich dankbar aufhebe und für den Rest des Nachhausewegs mitnehme. Es sind oft Kleinigkeiten, für die man am dankbarsten ist. Wie sehr man sich manchmal selbst über Weggeworfenes noch freuen kann.

Und wie sehr einen so ein Erlebnis erschüttern kann. Wie kann man nur seinen Autoschlüssel verschusseln? Die Dinger kosten beim Händler stolze 32 Euro (und fragt bitte nicht, woher ich das so genau weiß).

Seit geschlagenen zwanzig Minuten stehe ich also nun am Morgen danach auf Bahnsteig 8. Noch zehn Minuten bis zur Einfahrt des Zuges um 9.47 Uhr. Wenn das Smartphone nicht erfunden worden wäre, könnte man sich glatt in trüben Gedanken verlieren an diesem trüben Novembertag. Wie gut, dass das über drei Jahre alte iFon 4 noch halbwegs funktioniert. Nachrichtenportale, Twitter, Facebook; man so kann wunderbar eintauchen in die schöne bunte Netzwelt, wenn man etwas vergessen möchte, vor allem die eigene Vergesslichkeit. Ich lese Interessantes, ärgere mich über einen Twitterer, verpasse ein paar Beiträgen von Facebook-Freunden den Daumen, den es – auch das lese ich mit Interesse – demnächst nicht mehr geben soll. Dazu noch schnell eine Mail an die Redaktion.

Als ich wieder aufsehe, ist es 9.50 Uhr. Die Anzeigetafel für den nächsten Zug auf Gleis 8 kündigt statt meines RE9 einen Express aus Basel an. Und dem Schreiber dieser Zeilen fällt die Farbe aus dem Gesicht: Kann das sein? Kann es wirklich sein, dass hier gerade vor drei Minuten nur zwei Meter von mir entfernt mein Zug eingelaufen und wieder abgefahren ist – und ich nichts davon gemerkt habe? Kann man 300 Tonnen Regionalexpress einfach so übersehen? Hundertfünfzig Meter knallrote Doppelstockwagen samt vierachsiger Elektrolok? Bitte nicht! Erst der Autoschlüssel, jetzt das. So dämlich darf man doch nicht sein, wenn man noch frei und ohne Betreuer durch die Gegend laufen will!

Mühsam ringe ich um Fassung. Es muss an der Erkältung liegen. Am Zementschädel. Muss. Eine andere Erklärung gibt es nicht, jedenfalls keine angenehme. Die Erschütterung vom Vortag kommt mit Macht zurück, und sie ist tatsächlich noch zu steigern. Oh Mann! Ich gehöre ins Bett, am besten für den Rest der Woche. Oder gleich in ein Heim. Wie heißen noch diese Gedächtnistabletten für tüdelige Senioren, für die abends immer Werbung im ZDF läuft? Granustol? Sanofink?

Irgendwann beruhigt sich der Puls wieder etwas. Trotz allen Entsetzens, es hilft ja nichts: Ich muss nach Aachen, und zwar mangels Schlafwagen mit dem nächstmöglichen Regionalzug. Werde ich jetzt zur Strafe noch eine Stunde lang hier stehen müssen? Auf der Suche nach der günstigsten Verbindung streift der Blick über die Abfahrtspläne und Anzeigetafeln für die nächsten Zugläufe. Und bleibt auf einer solchen Anzeige schließlich hängen an einem Satz in kleiner Laufschrift: RE9 nach Aachen heute 35 Minuten später.

Er war also doch noch nicht da, mein Zug. So versunken ich auch war, einen ganzen Regionalexpress habe ich denn doch nicht übersehen. Oh Mann. Es dürfte eine ganze Weile her sein, dass sich ein Kunde des schienengebundenen Personnennahverkehrs so sehr über eine so saftige Verspätung gefreut hat. Ja, es sind manchmal Kleinigkeiten, für die man im Leben am dankbarsten ist. Etwa die Erkenntnis, doch noch nicht reif für diese Gedächtnispillen zu sein, diese… Dings, na, wie heißen sie noch…

Kraftdroschke

Wer in Köln von A nach B gelangen möchte und dafür weder auf öffentliche Verkehrsmittel, noch eigenes Gefährt zurückgreifen möchte, der tut nicht schlecht daran, zum Telefon zu greifen und die Nummer 0157-89198003 anzurufen. Es meldet sich dann Wolfgang Schlimm, der für das Transportproblem eine ebenso individuelle wie exklusive Lösung bereithält, die ich gestern an der Tankstelle meines Vertrauens kennenlernen durfte.

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Ein 1985er Siebener-BMW in Taxiausstattung – so etwas herrlich Unvernünftiges habe ich nicht mehr gesehen seit jenem Mercedes 280 (Vergaser! Sechszylinder!), dem ich gegen 2006 mal an einer Aachener Tankstelle über den Weg gefahren bin. Das bajuwarische Premium-Geschoss glänzt außen in makellosem Hellelfenbein, innen mit Wurzelholz und Lederausstattung in Taurusrot. Selbst ich als eingefleischter Daimlerpassagier gebe gerne zu, dass es auch Taxen ohne Stern, aber mit Stil gibt.

Es handelt sich übrigens nicht um das erste Siebener-Taxi in der Domstadt, genauer gesagt ist es das zweite. Und hier ist nachzulesen, wie man überhaupt auf die Idee kommen kann, so einen Umbau in Angriff zu nehmen (Hintergrund ist natürlich die unselige Umweltzone).

Kölsches

Ich gebe zu: Ich fremdele immer noch etwas mit Köln, auch nach über anderthalb Jahren. Wahrscheinlich, weil mir Aachen in den Jahren davor so sehr ans Herz gewachsen ist, dass ich es unbewusst als Verrat empfinden würde, mich in Köln wohl zu fühlen. Dabei gibt es durchaus nette Ecken in der großen Stadt am Rhein. Eine davon ist der Rheinauhafen, Ende des 19. Jahrhunderts als innerstädtische Hafenanlage mit Lagerhäusern und Werften angelegt, seit 2000 aber nach und nach umgestaltet zu einem Büro- und Wohnareal. Einer der wenigen Orte in Köln mit wirklich großstädtischem Flair. Modern, mondän, edel, aber ohne Snobismus – doch, ich mag den Rheinauhafen.

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Zwischen dem Schokoladenmuseum an der Nordspitze der einstigen Insel, den drei futuristischen Kranhäusern südlich der Severinsbrücke, den modernen Büroblöcken am Anna-Schneider-Steig und schließlich dem spitzgiebeligen „Siebengebirge“ am Agrippinaufer, einem 170 Meter langen einstigen Lagerhaus und heutigen Wohn- und Geschäftsgebäude, bummeln inzwischen die Spaziergänger, flitzen Inlineskater, fahren Radler und summt gelegentlich eine Gruppe Touristen auf Segway-Rollern umher.

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An einem warmen Spätsommerabend kann man hier wunderbar stundenlang auf den Sofas vor dem Limani sitzen, ein Kaltgetränk in der Hand, die Blicke schweifen lassen und Leute gucken.

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Auch wenn es manchmal gar nicht die Zweibeiner sind, bei denen das Beobachten am meisten Spaß macht.

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Wenn es dann langsam Nacht wird am Rheinauhafen, nimmt man sich die Kamera zur Hand, schlendert eine Runde um den Block und probiert, ob die neue 30-Millimeter-Festbrennweite, die der Briefträger am Morgen gebracht hat, wirklich so viel besser ist als das originale 16-50mm-Kitobjektiv der Nex.

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Ja, sie ist. Das Sigma holt selbst aus einem freihändigen Schnappschuss im Dunkeln mehr heraus als das Zoomobjektiv. Whow!

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Bummeln macht hungrig. Im Bona’me unten im Luther-Gebäude gibt es feine türkische Küche, sanftes Hintergrundlicht und warmen Feuerschein von den Terrassenfackeln. Der Rotwein ist milde beerig, die Flamme neben dem Tisch angenehm warm und der Biergarten voller gut gelaunter Nachtschwärmer. Ja, man kann es ein Weilchen aushalten, so am Rheinauhafen.

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Und kaum dass man sich’s versieht, sind fünf Stunden vergangen – da wird es schließlich doch irgendwann Zeit für den Rückweg, den nächtlichen Rhein entlang. Das Siebengebirge mit seiner Kranbrücke entlang, vorbei am „Bratort“, einer Wurstbude, an der sich die Kölner Tatortkommissare so gerne stärken, dann durch die Uferwiesen. Die Südbrücke zwingt förmlich dazu, vom Rad zu steigen und die Kamera noch einmal auf der gemauerten Uferböschung in Position zu bringen. Das neue Objektiv pult noch einmal jede Niete aus den Stahlbögen heraus.

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Kurz dahinter bietet der Heimweg noch ein weiteres Fotomotiv, aber ein deutlich moderneres: das quaderförmigen Hochwasserpumpwerk an der Schönhauser Straße – das dank seiner dezenten Beleuchtung offenbar auch für ein Mitternachtspicknick gut geeignet ist. Der Fotograf auf der dunklen Rheinwiese davor wünscht sich einmal mehr, ein Stativ mitgenommen zu haben.

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Am Bayenthalgürtel schließlich, schon kurz vor dem Ziel, wartet in einer Seitenstraße noch ein ganz besonderes Zuckerl unter einer Laterne: ein Jaguar E-Type, offenbar einer der ersten Serie von 1961 bis 68 in einer gecleanten Rennversion ohne Stoßfänger. Auch wenn nicht ganz klar ist, wie original die so erotisch gerundeten Kotflügel mit dem offenen Kühlermaul sind – die gefühlt längste Motorhaube der Autogeschichte ist einfach zu schön, um nicht ein letztes Mal für diesen Abend die Kameratasche zu öffnen.

Dann ist ein Abend zu Ende, der selbst einem eingefleischten Skeptiker gezeigt hat, dass auch Köln nicht ganz ohne Reize ist. Es könnte am Rotwein gelegen haben, dem beerig milden – der stimmt anscheinend auch einen Bären mild.

Exotengrün

Die heißesten Tage des Jahres 2013 sind vorbei, aber es ist immer noch Sommer. In Raderthal erkennt man das am frischen Grün am Straßenrand.

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Dieses froschfarbene Kerlchen ist mir schon letztes Jahr aufgefallen. Ein Renault 16, gebaut von 1965 bis 1980 und bis zum Erscheinen des Renault 30 im Jahr 1975 das Topmodell des französischen Herstellers. Die erste Limousine der oberen Mittelklasse, die der Welt ein Schrägheck mit großer Klappe entgegenstreckte, dahinter die siebenfach (!) verstellbare Rückbank, deren Lehne sogar am Dachhimmel befestigt werden konnte.

Der einzigartig variable Innenraum war nicht die einzige Besonderheit des eigensinnigen Franzosen, von dem der englische Rennfahrer Stirling Moss gesagt haben soll, er sei das am intelligentesten kontruierte Auto, das er je gesehen habe: Der Radstand ist links und rechts unterschiedlich lang, weil die Torsionsstäbe der Hinterachse hinter- statt wie üblich nebeneinander angeordnet sind. Die ungewöhnliche Bauweise ermöglicht längere Federwege und so eine besonders sanfte Federung.

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Dieser TL hier ist in den Jahren zwischen 1974 und 1980 vom Band gelaufen – und damit gerade noch ein Zeitgenosse meines 1981 gebauten Moorbraunen. Die meisten seiner über 1,8 Millionen Brüder sind nicht mehr auf der Straße. Um so schöner, dass dieser Exot mit seinem 1,6-Liter-Aluminiummotor mit 67 PS, dem vorne angeflanschtem Getriebe, der Lenkradschaltung und natürlich seiner herrlich satten Siebziger-Jahre-Lackfarbe alljährlich im Raderthaler Sommer blühen darf.

Mitfahrgelegenheit IV: Gutes Karma to go

Kennt Ihr die Aura von natürlicher Autorität, die ein echter Kapitän verströmt? Diese unerschütterliche, fels-in-der-brandungshafte Selbstsicherheit, der man als Passagier ohne zu Zögern sein Leben anvertrauen würde?

Als ich vorgestern meine beiden Mitfahrer – eine afrikanischstämmige Dame und einen Herrn aus irgendeinem Mittelmeeranrainerstaat – wie üblich an der Kreuzung Sülzgürtel/Luxemburger Straße aussetzte, stand plötzlich ein alter Mann neben dem Wagen. Auch er vermutlich irgendwo am Mittelmeer geboren, mit in Ehren ergrauter, etwas zauseliger Bart- und Haarpracht. Was er nuschelte, verstand ich erst beim zweiten Mal: Ob ich ihn nicht ein paar Meter mitnehmen könne, seine Knie täten so weh.

Für einen Straßenräuber war er zu gebrechlich, also machte ich nach einer Sekunde des Zögerns eine einladende Bewegung in Richtung Beifahrertür. Gutes Karma kann man schließlich immer brauchen. Und heißt es nicht schon im Alten Testament: „Vergesst nicht, Gastfreundschaft zu üben! Denn ohne es zu wissen, haben manche auf diese Weise Engel bei sich aufgenommen.“ Großväterchen nahm Platz, und schon bogen wir auf den Klettenbergürtel ein. Nach ein paar Metern ging’s bereits rechts ab in eine Wohnstraße – noch einmal links, einmal rechts, dann waren wir am Ziel. Mein Überraschungsgast murmelte noch etwas von „Meniskus“ und „Operation“, schwang sich mühsam aus dem Wagen und humpelte seiner Wege.

Ich kann mir sein kurzentschlossenes Einsteigen zu einem fremden Mann ins Auto nur so erklären, dass der Gute aus der Situation „Fahrgäste steigen aus heller Mercedes-Limousine“ und meinem Erscheinungsbild geschlossen hat, hier einen durch und durch vertrauenswürdigen Kapitän der Individualpersonenbeförderung vor sich zu haben. Offenbar haben die rund neun Monate, die ich jetzt schon Mitfahrer aus aller Welt durch die Lande kutschiere, Spuren hinterlassen. Vielleicht liegt’s natürlich auch nur an meinem Bart.

So professionell, dass er mir Taxigeld angeboten hätte, wirkte ich denn aber leider doch noch nicht.

Sommerabend

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Ich muss zugeben, auch nach anderthalb Jahren noch zu fremdeln mit meiner neuen, hm, Heimat Köln. Dabei muss ich aber ebenso zugeben, dass die Stadt auch ihre guten Seiten hat. So ist es zum Beispiel nicht weit nach Brühl, und da liegt der Bleibtreusee. Mit seinem Sonnenuntergang.

Habt einen guten Start in die neue Woche, Ihr da draußen.

Nazijagd vorm Fußpflegesalon

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Werbung, die wach macht – jedenfalls mich beim morgendlichen Gang zum Bäcker am Südfriedhof. Bis zu 25.000 Euro bietet das Simon-Wiesenthal-Zentrum für Hinweise auf noch lebende Kriegsverbrecher. Nazijagd vor dem Fußpflegesalon im Rentnerviertel Raderthal – dahinter steckt bestimmt eine interessante Zielgruppenanalyse der Mediastrategen.

Nun ja, vielleicht ist ja wirklich für den einen oder anderen der hier auf den Bus Wartenden das Angebot attraktiv, Opa gegen einen Neuwagen einzutauschen.

Ein unterirdisches Konzert

Wenn die Rheinischen Philharmoniker im Kölner Kronleuchtersaal auftreten, wird das kein Schlosskonzert. Sondern das genaue Gegenteil. Wer besagten Saal betreten will, stolziert keine barocke Prunktreppe hinauf. Er zwängt sich durch ein enges gemauertes Stiegenhaus, das sich unter einer gruftähnlichen Stahlklappe versteckt, die wiederum an einer Ecke der Grünanlage am Theodor-Heuss-Ring in der nördlichen Kölner Neustadt liegt. Und er nimmt sich besser einen der kleinen Pfefferminzstrauchzweige mit, die eine freundliche Dame mit den Empfehlungen der Kölner Stadtentwässerungsbetriebe am Eingang zum Orkus anreicht.

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Der gemauerte Saal am Ende des Ganges wurde 1890 eingeweiht. Eine verzierte Gedenktafel an der Stirnwand erinnert an die für den Bau verantwortlichen Stadtoberen. Zwei Abwassersammelkanäle treffen dort zusammen, um vereint in Richtung Klärwerk weiterzufließen. Auf einer kleinen, an einen Bahnsteig erinnernden Plattform in dem etwa viereinhalb Meter hohen Tonnengewölbe ist genug Platz für etwa fünf Dutzend Klappstühle und vier Musiker.

Kronleuchtersaal heißt diese Höhle, weil auch Wilhelm II. sich das brandmoderne Bauwerk im Jahr seiner Einweihung anschauen wollte und man aus diesem Anlass zwei Kronleuchter unter die gemauerte Decke hängte. Der Saal ist also einer der ganz wenigen Orte, die selbst ein Kaiser zu Fuß aufsucht.

Und er riecht auch ganz genau so. Die Abwässer fließen munter plätschernd in braunem Strome hinter einem etwa kniehohen Mäuerchen vorbei. Gelegentlich dringt lautes Wasserplatschen ans Ohr, wenn in einem der größeren Wohnblöcke in der Nachbarschaft ein Sammelbehälter seine Pforten öffnet. Ja, das ist alles live, meine Damen und Herren.

Warum um alles in der Welt finden an so einem Ort klassische Konzerte statt? Ganz einfach: Die Akustik in dem Raum mit den drei Röhren ist einzigartig. Und so sitzt an diesem schönen warmen Sommerabend ein etwas flach atmendes, festlich gekleidetes Publikum auf den Holzstühlen mehrere Meter unter dem Erdboden, lauscht Bach-Klängen und versucht gleichzeitig, so gut es eben geht, die Bach-Geräusche und -Gerüche zu ignorieren.

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Klassik in der Kanalisation. Samt einer Zugabe, die sich – mit Einverständnis des Publikums – nicht allzusehr in die Länge zog. Ein wahrlich unterirdisches Konzert. Musik, die man noch Tage später im Ohr hat, ist schon selten genug. Diese hier hatte man auch tagelang noch in der Nase.

Neues aus dem Waschsalon

Kamera03_800Na schön. Zwar ist am Sonntag der Versuch, sich bei der AKV-Ordensverleihung in die rheinische Seele einzufühlen, nicht restlos geglückt. Sei’s drum. Schon tags drauf, am Montagabend, bietet sich Gelegenheit für das nächste soziokulturelle Experiment. Wir sitzen bei „Nightwash„, der seit acht Jahren durchs Land tourenden Comedy-Veranstaltung. Wir sitzen in einem Waschsalon.

Der Kontrast könnte kaum größer sein. Im Aachener Eurogress ließen sich über 1.300 Menschen mehr oder weniger ausgeprägter Prominenz in aufwändiger Kulisse von einer ebenso aufwändig inszenierten Mammutveranstaltung bespaßen. Das Fernsehen war vor Ort und der Eintritt nicht wirklich billig.

Bei der Nachtwäsche quetschen sich etwa 50 Menschen in eine winzige Münzwäscherei am Hönniger Weg in Köln. Die Kulisse ist karg: Das Publikum hat sich locker um und auf den massiven Waschmaschinenblock mitten im Raum platziert. Unmittelbar davor, direkt auf der Fensterbank, treten die Akteure auf. Für die Bildtechnik ist eine einfache Videokamera zuständig, das Stativ mit Klebeband auf einem der Waschautomaten befestigt. Der Eintritt ist frei.

Nightwash, das ist reinster und feinster Eventminimalismus. Die Stimmung im Licht der Neondeckenlampen ist eine Mischung aus überfülltem Soziologieseminar und Flughafenwartehalle. Die Stimmung ist gut.

Knacki50_800Was momentan Klaus-Jürgen „Knacki“ Deuser zu verdanken ist, dem Moderator und Erfinder von Nightwash. „Wer ist Student?“ fragt er in die Runde. Einen sich outenden Sonderpädagogiker tröstet er: „Irgendeiner muss ja die ganzen Lehrer ausbilden.“

Wer das Glück hatte, bis etwa zwei Stunden vor Programmbeginn noch einen der Stühle vor den Maschinen zu ergattern, hat jetzt ein Problem. Denn Deuser ist ein überzeugter Verfechter von Publikumsnähe. Gnadenlos zieht er über den „modischen Pulli“ eines mutmaßlichen Chemie-Studenten vor ihm her, wohl „beim letzten Experiment selbst gefärbt“, man könne bestimmt den pH-Wert drauf ablesen. Überhaupt, all die Studenten hier. „So viele junge Leute, das hat man doch zum letzten Mal in der JVA Siegburg gesehen.“

Das Besondere an Nightwash ist die Authentizität. Vor den zunehmend beschlagenden Scheiben werden schemenhaft die Umrisse eines haltenden Straßenbahnzuges sichtbar. Eine müde aussehende Hausfrau holt ihre Wäsche aus dem Trockner, auf dessen Gehäuse bereits Bierflaschen stehen.

Trockner42_800Derweil lamentiert der erste Gast des Abends, Johannes Flöck, über die Strapazen des Älterwerdens. Selbst sein alter TBC (Tabak, Bier, Currywurst)-Freund Klaus sei mittlerweile zu gesunder Bionade konvertiert – weil keine Konservierungsstoffe drin seien. Flöck kann’s nicht glauben: „Wir sind jetzt in dem Alter, in dem wir jeden Konservierungsstoff brauchen!“

Immer noch drängen Besucher in den überfüllten Raum. Hinter der Glasfront herrscht jetzt – haha – eine Atmosphäre wie in der Waschküche. Puh, stöhnt der Gast. Wohin nur mit der Jacke? Gut, dass es so viele leere Waschtrommeln gibt, die sich zur Instant-Garderobe umfunktionieren lassen. Die Jungs da vorne leben schließlich auch vom Improvisieren.

Salon68_800Nach Flöck ist Markus Barth an der Reihe, der heimatvertriebene Bamberger: „Ich konnte das R nicht rollen.“ Ohnehin hatte er sich in der kleinen Metzgersfamilie seiner Kindheit nie allzu heimisch gefühlt. Als sein Bruder den Eltern gestand, Vegetarier zu sein, nutzte Barth die Gelegenheit, seiner Familie die eigene Homosexualität zu beichten. „Egal“, brüllte der Vater verzweifelt zurück, während er an seinem anderen Sohn mit zwei Weißwürsten einen Exorzismus durchführte, „dein Bruder ißt kein Fleisch mehr!“

Dann ist endgültig Schluss mit Political Correctness. Die Bühne betritt Motombo Umbokko alias Dave Davis. Der lautstarke Applaus zu seiner Begrüßung zeigt, dass er am Rhein längst eine feste Fangemeinde hat.

Als Toilettenmann bei McDonalds ausstaffiert, spielt der nach eigener Darstellung „Maximalpigmentierte“ geschickt mit Vorurteilen und schlechtem Gewissen seines deutschen Publikums. „Isch mag weiße Leute, ne.“ Sein gekonnt tumbes Dauergrinsen und holprig-hintergründiges Asylbewerbersprech würden einen Saal auch dann im Nu zum Brodeln bringen, wenn die Luftfeuchtigkeit nicht so hoch wäre wie hier.

Motombo79_800Toilettendienst sei immer noch besser als Hartz IV, sinniert Motombo, wobei sich der Begriff bei ihm eher wie „Hass vier“ anhört. Erst vergangene Woche sei in seiner Toilette ein Deutscher depressiv geworden, „wege Hass vier“, und habe sich die Pulsadern aufgeschnitten. „Jetze hat er offene Stelle!“ Das Publikum quietscht vor Vergnügen; erst recht, als der Mann auf der Bühne beim Schildern einer Szene in einem bayerischen Einwohnermeldeamt unvermittelt in perfektem Beamten-Bairisch lospoltert. Nur um wieder nahtlos auf seinen Afro-Singsang umzuschalten: „Wer musse hier Deutschkurs mache?“

Mit dem Lied „Kiliman Joe“ (Download als MP3 hier) verabschiedet sich der Höhepunkt des Abends. „Das war die Rache des schwarzen Mannes“, bilanziert Knacki Deuser und ruft noch eine Warnung hinterher: „Pass auf, dass De Höhner das Lied nicht hören!“

Munter geht das Programm voran, eine den Sportunterricht ihrer Jugend parodierende Ramona Schukraft und zum Schluss noch einmal Johannes Flöck – eingesprungen für einen erkrankten Kollegen – lassen den komödiantischen Schleudergang locker ausklingen. Ein letztes Mal darf Flöck über den 40. Geburtstag weinen, „wenn Happy und Birthday getrennte Wege gehen“. Und in der U-Bahn plötzlich Kinder artig aufstehen: „Möchten Sie sich setzen?“ – „Nein! Ich möchte dir wehtun!“

Buegelschild14_800Nach anderthalb abwechslungsreichen Stunden ist Schicht im Salon. Die Besucher drängen auf den Bürgersteig. Zurück bleiben nur die Bierflaschen auf den Waschmaschinen – „so finanzieren wir uns“, behauptet Knacki Deusler noch allen Unernstes.

So viel Spaß, live und ohne Eintrittsgeld – dass es das noch gibt. Wie gesagt, der Kontrast zum Abend davor war groß. Um so weniger Probleme hatte der neu in die Region gezogene Blogger mit dem Verstehen und Amüsieren. Es ist halt doch oft sinnvoll, erstmal klein anzufangen.

Das Schönste zum Schluss: Für eine Nachtwäsche muss man nicht mal nach Köln fahren. Volle drei Tage lang, vom 26. bis 28. Februar, gastiert die Show ohne Schonwaschgang im Aachener Jakobshof. Sauber.