Der Wiederholungstäter

IMG_20151004_104647

Es ist schon seltsam, was die aktuelle Flüchtlingskrise bei den Menschen auslöst. Schon wieder radele ich in ungewohnter Frühe quer durch Aachen. Diesmal brauche ich nicht auf die Navi-App zu schauen: Das Läuten der Glocken macht es leicht, die Auferstehungskirche am Kupferofen zu finden. Es ist Sonntagmorgen, es ist kurz vor halb Zehn, ich bin auf dem Weg in einen Gottesdienst. Ihr lest richtig. Ich. Freiwillig. Ohne dass eine Hochzeit oder Trauerfeier ansteht oder ein Termin für die Zeitung. Es dürfte das erste Mal seit meiner Konfirmation sein, gefühlt zumindest.

Ich bin kein religiöser Mensch. In der Kirche bin ich vor allem, weil ich sie als soziale und seelsorgerische Organisation für wichtig halte – und weil sie mir auch nie ausreichend Grund geliefert hat, um wütend meinen Austritt zu trompeten (da, wo ich herkomme, ist man übrigens evangelisch). Die paar Euro an Kirchensteuern zu sparen, war mir als Grund für einen Bruch denn auch immer zu, ja: billig. Es geht schließlich beim Glauben um eine Sache, die man mit Geld nicht bezahlen kann, auch nicht mit der Mastercard.

Es ist auch nicht die Sehnsucht nach einem spirituellen Erlebnis, die mich jetzt etwas schwer atmend den Forster Berg hinauftreibt. Es ist der Wunsch, all den Wutbürgern und Hassgetriebenen zu entkommen, die im Internet ihre Galle, ihren Neid und ihre Missgunst versprühen. Man lese nur ihre Kommentare unter einem beliebigen Nachrichtenartikel zum Thema Flüchtlinge, in denen sie die ehrenamtlichen Helfer als „Bahnhofsklatscher“, „Stofftierverteiler“ und „Refugees-Welcome-Plärrer“ verhöhnen, die den verbrecherischen und vergewaltigenden „Invasoren“ auf einem Silbertablett unser Land, unsere Zivilisation, unsere Frauen und unsere Kultur überreichen.

Unsere Kultur? War da nicht mal was mit christlichem Abendland? Und gewissen Werten und Idealen? „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, sofern er weiße Hautfarbe hat und einen deutschen Pass“ – ich bin nicht bibelfest, aber so hat Herr C. das vor 2000 Jahren mit Sicherheit nicht gesagt. Ich suche die Gesellschaft von Menschen, die das ähnlich sehen. Man könnte auch sagen, ich bin auf der Suche nach meinen Wurzeln.

Pfarrer Martin Obrikat habe ich vorletzte Woche auf dem Helfertreffen für die Flüchtlinge in der Körner-Kaserne kennengelernt und nach ein paar im Anschluss gewechselten Worten umgehend sympathisch gefunden. Also lasse ich mich, nach sehr, sehr vielen Jahren, einmal wieder auf einen klassischen Gottesdienst ein. Wird es nur ein leeres Ritual sein? Ein schiefes Absingen altertümlicher Lieder und Schweigen zu einer langweiligen Predigt? Oder gibt es noch mehr?

Vom Programm her bekomme ich jedenfalls ordentlich etwas geboten. Mein erster Gottesdienst seit fast dreißig Jahren ist eine echte De-Luxe-Version: Familiengottesdienst mit Erntedank inklusive zweifacher Kindstaufe und Abendmahl. Der weiße Innenraum der – leider arg nüchtern gehaltenen – Auferstehungskirche ist voller Eltern mit Kindern. Die Stimmung ist gelöst und fröhlich, Gemurmel und gelegentliches Babyquengeln füllt den Raum, von Steifheit keine Spur. Im Gottesdienstprogramm sprechen Grundschul- und Kindergartenkinder Verse und singen, und auch wir Erwachsenen dürfen uns bei einem Kinderlied mal im Kreis drehen, mit dem Fuß stampfen und auf- und abhüpfen. Als die Taufen beginnen, werden alle Interessierten eingeladen, sich nah an das Geschehen vor dem Altar zu stellen; ich nehme das Angebot gerne an.

Schließlich das Abendmahl: Alle Anwesenden bilden einen großen Kreis an den Außenwänden, der das Kirchenschiff ganz ausfüllt. Wir fassen uns an den Händen – eine unter wildfremden Erwachsenen ungewohnte Geste der Verbindung. Teller mit Brotstücken und Weintrauben werden durchgereicht. Als der Brotteller bei mir ankommt, ist nur noch ein einziges Stück übrig. Ich reiche den Teller weiter an einen kleinen Jungen im festlichen Anzug rechts neben mir, der das Brot mit ernster Miene entgegennimmt. Der alte Mann zu meiner Linken lächelt mich an, bricht sein Stück durch und reicht mir eine Hälfte. Die kleine Geste mit der großen Bedeutung – das Brot brechen – trifft mich wie ein Schlag. Und ich alter Sack habe plötzlich etwas im Auge. In beiden Augen. Es ist ein zutiefst bewegender Moment.

Als der Gottesdienst vorbei ist, gibt es Kuchen, Kaffee und Apfelsaft für alle. Ich bleibe noch ein paar Minuten, bevor ich mich auf den Weg zum Mittagsessensdienst in der Flüchtlingsunterkunft Körner-Kaserne aufmache, und genieße einfach nur das Gefühl, unter all diesen fröhlichen, Wärme ausstrahlenden Menschen zu sein. Es geht hier ja nicht darum, wer die meisten Bibelverse auswendig kann, wer am schönsten singt oder wer am innigsten betet. Es geht um die Werte, um das Ursprüngliche. Wer heute noch freiwillig in eine Kirche geht, tut das nicht, weil es gesellschaftlich geforderter Mainstream ist. Heute ist es eine Überzeugungstat.

Und so bin auch ich, nach all den kirchenfernen Jahren und Jahrzehnten, zum Wiederholungstäter geworden. Ich kann es nicht weniger pathetisch ausdrücken: Es war ein wunderschönes Erlebnis. An diesem Morgen bin ich froh, all die Jahre der Versuchung widerstanden zu haben, aus kleinlichem Geiz der monatlichen Abbuchung der Clubgebühr widersprochen zu haben.

Die Flüchtlingskrise verändert gerade Deutschland. Sie bringt im Einen das Beste zum Vorschein, im Anderen das Schlechteste. Überall in den Städten und Gemeinden im Land organisieren sich Helferkreise – in Leipzig erfindet der örtliche Pegida-Ableger mal wieder eine Kindsvergewaltigung durch Asylbewerber. Es findet eine Radikalisierung statt – zum Glück auch im Guten.

Mich haben die vergangenen Wochen dazu gebracht, darüber nachzudenken, wer ich eigentlich bin und wer ich sein möchte. Heute bin ich wieder einen kleinen Schritt weitergekommen.

Mein erstes Mal

Nebel ist das erste, was ich sehe, als ich an diesem Morgen um kurz nach 6 Uhr die Küchenvorhänge zur Seite schiebe. Draußen ist es noch halb dunkel, Dunst hat Aachen in trübes Grau gehüllt. Wann bin ich Morgenmuffel zum letzten Mal an einem Samstag so früh aufgestanden? Aber es hilft nichts: Um 7.30 Uhr beginnt die Essensausgabe an der Turnhalle der Grundschule Barbarastraße, einer der Notunterkünfte für Flüchtlinge in der Stadt. Vor fast zwei Wochen habe mich auf Aachen.de per eingesandtem Fragebogen als Flüchtlingshelfer gemeldet, ein paar Tage darauf kam der Anruf einer Koordinatorin der Stadt, ob ich am heutigen Samstag und am Montag bei der morgendlichen Essensausgabe helfen könne. Ich konnte.

Ich erinnere mich nicht, dass mich in meinem Leben schon einmal etwas so mitgenommen und berührt hätte wie die aktuelle Flüchtlingskrise. Seit Wochen hämmern die Nachrichten, die Facebook-Posts und die Tweets dazu auf uns ein. Dramatische Szenen aus den Flüchtlingscamps in Südeuropa, schreckliche Bilder von Leichen im Mittelmeer, beschämende Nachrichten über pöbelnde und brandstiftende „Asylkritiker“ aus unserem Land, zwischen alledem der grauenvolle weiße Lastwagen mit den mehr als 70 erstickten Menschen auf der österreichischen Autobahn und der ertrunkene dreijährige Junge am Strand. Und in den sozialen Netzwerken gehen sich über alledem wildfremde Menschen an die Gurgel. Ein Krieg ist ausgebrochen im deutschsprachigen Internet, er tobt in den Kommentarspalten der Zeitungen und auf Facebookseiten, von Spiegel Online bis zur Bundesregierung. Es wird argumentiert und gehöhnt, gepöbelt und bedroht, es geht Nazis gegen Gutmenschen, Patrioten gegen Asylantenpuderer, Pack gegen Linksversiffte.

Beruflich kriege ich das voll mit – ich bin in vielen regionalen Facebookgruppen im Raum Aachen, Düren und Heinsberg Mitglied. Es scheint dort kaum noch ein anderes Thema zu geben. Seit die ersten Fotos, die ersten Videoclips von Flüchtlingen im Netz auftauchten, fluten Rechtsextreme diese Gruppen regelrecht mit Propaganda in unglaublicher Menge und unglaublicher Perfidität. Da wurden wilde Müllkippen in Slowenien verkauft als Hinterlassenschaften von Flüchtlingen in Euskirchen. Wehrmachtssoldaten in Bildmontagen gegenüber Flüchtlinge gepriesen als „Helden, die ihr Vaterland verteidigen“ anstelle der „feigen Schweine, die ihre Familien im Stich lassen“. Und vieles mehr, das einem die Nackenhaare zu Berge stehen lässt.

Dabei ist keine Lüge zu absurd, kein Gerücht zu haltlos und keine Fälschung zu offensichtlich, um nicht vom Heer der Ahnungslosen und Böswilligen blindlings weiterverbreitet zu werden. Vor allem unsere, ahem, etwas älteren Mitbürger, die noch nicht ganz so lange im Netz sind, legen oft die Medienkompetenz von Fünfjährigen an den Tag und glauben offensichtlich einfach jeden frei erfundenen Dreck, der in irgendeinem Youtube-Video ohne Ton, aber mit neu interpretierter Überschrift oder einem selbstgebastelten Blog ohne Impressum ins Netz, Verzeihung, gerotzt wird. Je mehr Schreibfehler im Text und Ausrufezeichen dahinter, desto wahrer die Botschaft.

Irgendwann müssen in diesem Trommelfeuer des Hasses nach und nach meine Selbstschutzmechanismen zerbröckelt sein. Immer öfter habe ich in den vergangenen Wochen die gebotene Zurückhaltung nicht mehr wahren können, habe mich eingemischt, Gegenkommentare geschrieben, habe Links auf meiner eigenen Pinnwand und in lokalen Gruppen gepostet. Fremdenhass gekontert, Lügen und Verzerrungen richtigzustellen versucht. Nicht immer höflich, das gebe ich zu, es war sogar hin und wieder auch mal ein Ausrufezeichen dabei. Etwa, wenn – die aktuell neueste Masche unserer „besorgten Bürger“ – Obdachlose in Stellung gegen die Flüchtlinge gebracht werden („Wohnraum für das eigene Volk! Nicht für Flüchtlinge!“). Ich habe in meiner Osnabrücker Zeit mal für das Straßenzeitungsprojekt „Abseits!?“ gearbeitet und weiß, dass Obdachlose von Rechtsextremen nicht mehr zu erwarten haben als Schläge und Stiefeltritte. Wenn sie Glück haben. Es sind auch reihenweise Wohnungslose zu Tode geprügelt und getreten worden in den vergangenen Jahren.

Kann man bei so etwas schweigend weiterklicken? Es ist, wie an einem Autounfall vorbeizufahren: Hält man an und hilft, oder tut man so, als hätte man nichts gesehen? 1938 haben wir weggeschaut, als eine Minderheit verleumdet wurde, als die Synagogen brannten, als Menschen zu Schmarotzern und Kriminellen erklärt wurden. Und heute?

Doch man zahlt einen Preis, wenn man die Klappe aufmacht. Die Antworten kommen im Minutentakt, ob zustimmend oder ablehnend. Es ist schwer, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, wenn das Smartphone auf der Schreibtischplatte ständig brummt. Wenn man auf der eigenen Facebook-Pinnwand von einer Frau als Arschloch und Verräter beschimpft wird, weil man den Leiter des Rewe-Marktes in Jüchen öffentlich gelobt hat, der für Busse mit völlig erschöpften Flüchtlingsfamilien spontan Babyartikel zur Verfügung gestellt hat. (Bild)

Primitives Arschloch

Buchstäblich bis unter die Bettdecke habe ich die Krise mitgenommen: Das Smartphone ist ein unerbittlicher Begleiter und Facebook ein nie endender Wasserfall von Informationen und Interaktionen – und gleichzeitig ein Mahlstrom, der Aufmerksamkeit und Lebenszeit verschlingt. Hinzu kommt die schiere Wucht dessen, was gerade geschieht: 40.000 Menschen wurden allein am vorletzten Wochenende am Münchener Hauptbahnhof erwartet, überall im Land schlafen Menschen in Turnhallen, werden Unterbringungsmöglichkeiten verzweifelt gesucht. Wo wird das alles enden? Es gab Nächte, da konnte ich stundenlang nicht einschlafen. Tagsüber war ich wie gerädert. Meiner Twitter-Bekannten Cornelia Melcher ging es ähnlich – in ihrem Blog Muckich.de beschreibt sie, wie sie damit umging.

Ich glaube, dieser Typ aus Berlin gab den Ausschlag, der auf Facebook den Tod des ertrunkenen kleinen Aylan „feierte“. Vielleicht auch der Widerling, der zu den erstickten 71 Menschen im Kühllaster einen unsäglich widerwärtigen Witz (Bild) machte. Gegen so viel Menschenverachtung in den Köpfen kann man nicht sachlich ankommentieren. Aber wie geht man dann damit um?

Der Entschluss reifte, etwas Konstruktives zu tun. Wenn da schon etwas Gewaltiges mit unserer Gesellschaft passiert, will ich zumindest nicht tatenlos zusehen. Ich schrieb für die Schwerpunktausgabe von Aachener Zeitung und Aachener Nachrichten einen Artikel über das Projekt „Blogger für Flüchtlinge“. Ich füllte den Flüchtlingshelfer-Meldebogen auf Aachen.de aus. Ich ging am Montag zur offiziellen Bürgerinformation im Einhardgymnasium und saß am Dienstag im Helfertreffen der Evangelischen Kirchengemeinde in der Löwenstein-Kaserne. Und fühlte mich danach wie gelöst: Endlich raus aus dem hassverseuchten Netz in die wirkliche Welt! Endlich umgeben von konstruktiven, optimistischen Menschen!

BFF_1508_Blau31-300x158

Und nun dieser Samstagmorgen. Mein erster Einsatz. Der graue Dunst liegt immer noch über der Stadt, als ich die Stolberger Straße nach Rothe Erde hochradele. Als ich auf dem Pausenhof stehe, kommt mir eine Frau entgegen: „Wollen Sie auch zur Turnhalle?“ Ich nicke. Und erfahre, dass die Essensausgabe um eine Stunde nach hinten auf 8.30 Uhr verlegt worden ist. Das hätte man den Helferlein natürlich auch mal kommunizieren können. Die Dame und ich überbrücken die Wartzeit bei einem Kaffee in der Nobis-Bäckerei an der Von-Coels-Straße.

Um Viertel nach Acht dann der zweite Versuch. Die Szenerie strahlt Tristesse aus: In einer Ecke des Schulhofes steht ein Toilettencontainer mit Duschgelegenheiten, davor vertreten sich vier leicht fröstelnde Mitarbeiter eines Security-Unternehmens die Beine. Neben der Turnhalle ist ein Englisch-Klassenraum für die Essensausgabe hergerichtet worden. Die Klassentische stehen in langen Reihen, an der Rückwand bilden Biertische einen einfachen Tresen, zwei Kühlschränke stehen in der Ecke, dazu ein Tisch mit Wasserkocher und einige Schachteln mit Teebeuteln. An der Wand ein paar Zettel mit Erklärungen auf Englisch und Arabisch.

Essensraum1

Teetisch1

Arabisch1

Drei Helfer sind wir insgesamt, dazu die junge Pastoralassistentin der Kirchengemeinde. Der Leiter der Unterkunft, ein gut ebenso gut gelaunter wie tatkräftiger Mann vom Roten Kreuz, weist uns ein: Einweghandschuhe wegen der Hygiene anziehen, Tilsiter-Käsescheiben aus einer Großpackung auf einem Kuchenblech auslegen. Eine andere Käsesorte gibt es nicht, Wurst hat der Caterer mal wieder nicht geliefert, aber ein Dutzend Scheiben von gestern sind noch übrig. Ich schneide reihenweise Brötchen auf, während die anderen Helferinnen Einweg-Plastikbesteck in Servietten rollen. Kartons mit Kleinportionen an Marmelade, Butter und Nutella liegen bereit. Insgesamt ein karges Mahl in nüchternst möglicher Atmosphäre – man sollte all jene Bürger mal hereinführen, die so besorgt sind, die Asylbewerber würden mit Luxus überschüttet. Das hier ist schon nah an der unteren Grenze dessen, was ein Sozialstaat leisten kann. Nicht mehr und nicht weniger.

80 Flüchtlinge sind seit Montag in der Turnhalle der Grundschule untergebracht – ausschließlich Männer, und diese Aufteilung ist auch verständlich: Feldbetten gibt es keine, Privatsphäre auch nicht, die Matratzen liegen dicht an dicht, für Frauen und Kinder wäre das nicht zumutbar. Mir ist schleierhaft, wie man unter solchen Umständen überhaupt schlafen kann. Dass die Leute später aufstehen möchten, leuchtet ein: Sie haben nichts zu tun, außer auf die Aufnahme ihrer regulären Asylverfahren zu warten. Und die 4,61 Euro Taschengeld, die sie pro Tag bekommen, reichen auch nur für einen Kaffee und ein Stück Kuchen am Nachmittag oder zwei kleine Getränke am Abend.

Wir warten. Schließlich kommt der erste Gast in den Raum. Mein erster Flüchtling – ich muss mich zwingen, den Mann nicht anzustarren, etwas absurd ist dieser Moment schon. Der erste Refugee, den ich in meinem Leben bewusst als solchen wahrnehme, ist ein älterer Mann von etwa 60 Jahren, mit kleiner Brille und müdem Blick. Wir Helfer erwachen aus unserer Reglosigkeit: „Ein Brötchen? Zwei? Käse? Wurst?“ Es wird genickt, gestikuliert, die verdammten Wurstscheiben kleben aneinander, ich reiche Brötchen an. Ein zweiter Mann kommt in den Raum, jünger, kräftig, frisch geduscht und gut gelaunt, mit erstaunlich akkurat gestutztem Dreitagebart. „Die legen viel Wert auf gepflegtes Äußeres“, erklärt der Einrichtungsleiter. In der Gruppe sei ein Friseur, der seinen Mitbewohnern für einen Euro Haare und Bärte schneide. „Wenn die dann so in die Stadt gehen, fallen die mit den gespendeten Klamotten in der Menge gar nicht mehr auf.“

Von Gedränge kann an diesem Samstagmorgen keine Rede sein. In den folgenden anderthalb Stunden sind es höchstens 20 bis 30 Gäste, die sich aus den Brötchen, Butterpäckchen, Tilsiter-Scheiben und den Portionsdöschen für Marmelade und Nutella ein Frühstück basteln, abgerundet durch einen Tee (schwarz, Fenchel oder Kamille) oder Instant-Kaffee im dünnwandigen Einwegbecher. Ein schwarzer Eriträer telefoniert auf französisch. Wir erfahren später, dass er fast verrückt ist vor Sorge um seine Frau und sein Kind – sie wurden auf der Flucht getrennt und er weiß nur, dass sie irgendwo in Deutschland sind. Wie hält ein Familienvater so etwas aus?

Dann ist es 10 Uhr – „Feierabend“, sagt der Einrichtungsleiter fröhlich. Auch wenn er mit den Gästen scherzt und für jeden ein freundliches Wort hat: Die Essenszeiten werden hier absolut strikt eingehalten. Wer jetzt noch kommt, muss bis zum Mittag warten. Der junge Mann, der noch einmal in den Brötchenkorb greifen will, hat Pech: „Finished!“ Er akzeptiert wortlos.

Probleme mit der Sauberkeit gäbe es auch nicht, sagt der Leiter. „Die wischen hier selbständig durch und kehren auch schon mal den Schulhof.“ Der Mann hat die Truppe offenbar im Griff – „das sind ja alles gestandene Leute“. Seine gute Laune und seine Zuversicht stecken an. „Alles gut?“ fragt er einen der Gäste. „Alles gut!“ kommt es grinsend zurück. Der Leiter lacht. „Cool, der Typ.“

Dann wird der Klassenraum, der zum Essensraum wurde, abgeschlossen. Einige Gäste haben sich unter ein offenes Zeltdach in einer Ecke des Schulhofs gesetzt, andere spazieren herum, einige telefonieren. In den nächsten Tagen wollen die Ehrenamtlichen von Freifunk Aachen einen WLAN-Router installieren. Dann können die Männer mit ihren Familien über Internet-Messenger wie Whatsapp oder Facebook telefonieren und das Geld für die teuren Prepaid-Karten sparen.

Wir Helfer plaudern noch etwas, dann ist unser Einsatz beendet. Nüchtern betrachtet habe ich heute im wesentlichen einige Scheiben Käse über eine Theke gereicht. Trotzdem ist seit heute Morgen für mich alles anders: Der Knoten ist geplatzt, endlich habe ich etwas Sinnvolles getan. Und „die Flüchtlinge“ sind für mich von einer namenlosen, fremden und vielleicht bedrohlichen Masse zu Menschen mit Gesichtern geworden. Die lachen, sich rasieren und morgens müde über ihrem Becher Tee hängen.

Ich weiß nicht, wie das ausgehen wird, was gerade über unser Land und unsere Gesellschaft hereingebrochen ist. Ob die schönen Hoffnungen auf Hunderttausende motivierte und engagierte neue Mitbürger wahr werden? Oder ob neue Parallelgesellschaften entstehen, Ghettos voller Gewalt und religiösem Fanatismus einerseits, „national befreite Zonen“ im Osten andererseits? Keine Ahnung. Aber ich weiß, dass wir eine Chance haben, diesen Prozess mitzugestalten. Jeder für sich, im Kleinen, wenn wir uns einbringen. Wenn wir mit den neuen Nachbarn reden, sie als Menschen behandeln und versuchen, ihnen unsere Welt und unsere Werte nahezubringen. Ob das gelingt, weiß heute niemand. Ich habe meine Seite jedenfalls gewählt.

Ich radele nach Hause. Der Nebel hat sich verzogen. Der Himmel ist leuchtend blau. Über Aachen scheint die Sonne.

*

Wer sich selbst einbringen möchte, hat viele Möglichkeiten: Meldet euch bei der Stadt, dem Roten Kreuz, vielen Sozialen Diensten und Kirchengemeinden. Ehrenamtliche Helfer werden überall gesucht: für Essensausgabe, Alltagsbegleitung, einfachen Sprachunterricht, Sport- und Freizeitangebote.

Hier eine kleine Auswahl (weitere Links willkommen!):
Rotes Kreuz Aachen
Bürgerstiftung Aachen
Aachener Hände
Stadt Aachen
UnserAC
Evangelische Kirchengemeinde
Save Me Aachen

Und natürlich: Blogger für Flüchtlinge, das in den vergangenen vier Wochen schon mehr als 120.000 Euro für verschiedene Flüchtlingsprojekte gesammelt hat. Spenden willkommen!

Neue Weiten

Sony Nex-6 mit Minolta MD 28mm 3.5, F5.6, 1/100s, ISO 100
Sony Nex-6 mit Minolta MD 28mm 3.5, F5.6, 1/100s, ISO 100

Es ist bizarr, wie unterschiedlich die Preise für die alten Objektive aus den 70er und 80er-Jahren sind. Teilweise werden einem die alten Linsen regelrecht nachgeworfen. Für 15 und 20 Euro habe ich mir je ein Minolta MC und MD in der gemäßigten Weitwinkelbrennweite 28 Millimeter und der ebenfalls eher mäßigen Lichtstärke von 3.5 zugelegt.

Die ersten Bilder mit dem späteren MD, heute nach Feierabend vor dem Zeitungsverlag Aachen aufgenommen, zeigen ein ganz angenehmes Bokeh und schöne Schärfe. Mit dem fantastischen Canon FD 50mm 1:1.4 (die meisten der Fotos im Artikel „Eine andere Welt“ zum BMW-Museum entstanden in Offenblende 1.4 mit diesem Objektiv) kann das allerdings nicht mithalten. Mal sehen, wie sich ansonsten schlägt.

Neugierig warte ich derzeit auf das bei Ebay geschossene Minolta MD 50mm mit sagenhafter F1:1.2-Lichtstärke. Da lag der Preis allerdings nicht bei 20 Euro. Der Dichter schweigt aus Höflichkeit.

Im Barcamp

_DSC05871-Kaffee

Mit dem Kaffee fing es an. Der war nämlich einfach gut. Nicht nur kannenweise frisch zubereitet und bereitgestellt von der Rösterei Sonntagmorgen.com, sondern auch noch liebevoll
in seinen unterschiedlichen Sorten und Wirkungsweisen von „mild“ bis „Hammer“ erläutert. Und so wie der braune Muntermmacher keine Einheitsplörre war, sondern individuell und facettenreich, war auch das gesamte Barcamp Köln an sich keine durchstrukturierte Formatveranstaltung, sondern etwas dynamisches, basisdemokratisches, lebendig Pulsierendes und munter Sprudelndes.

_DSC06006-Fontaene

Wenn es die ebenfalls stets ergiebig sprudelnde Kaffeebar nicht gegeben hätte, dann hätte ich den ersten Tag allerdings kaum durchgehalten. Erst gegen 2 Uhr war ich in der Nacht zum Samstag ins Bett gefallen – einer am Freitagnachmittag vor dem Aachener Westbahnhof gefundene Fliegerbombe sei Dank.

_DSC05873-Buffet

Die halbe Onlineredaktion von Aachener Zeitung und Aachener Nachrichten durfte eine kleine Nachtschicht einlegen, bis das Mördertrumm aus dem Zweiten Weltkrieg lange nach Mitternacht endlich entschärft war. (Bis die letzten Anwohner in ihre Häuser zurückkehren und die letzten professionellen und ehrenamtlichen Helfer endlich Feierabend machen durften, wird es natürlich noch deutlich später gewesen sein.)

_DSC06019-Becherparkplatz

Ich hatte am nächsten Morgen wenig Ahnung, was genau da auf mein müdes Haupt zukommen würde, außer, dass Barcamps keine durchgeplanten Veranstaltungen sind, sondern von den Teilnehmern grundsätzlich selbst, vor Ort und spontan organisiert werden. Jeder darf zu einem Thema sprechen und jeder darf sich dazusetzen. So weit, so anarchistisch.

Ganz so unbeleckt wie ich waren die meisten der anderen Teilnehmer nicht, die sich dann am Samstagmorgen in den vom Kölner IT-Dienstleister QSC zur Verfügung gestellten Räumen in einer großen – und den Zeitrahmen natürlich großzügig überdehnenden – Runde vorstellten. Jeder mit drei Hashtags, die ihn und seine Erwartungen beschreiben sollten:

Der einzige Neuling war ich allerdings auch nicht – gottseidank. Neugier und Erwartungen waren fast mit Händen zu greifen im Raum.

_DSC05992-Pinnwand

Nach der Vorstellung kam die Vorstellung. Und zwar die der Sessions, die von Teilnehmern angeboten wurden – sei es lange geplant oder gerade spontan erdacht. Auf dem Sessionboard – das es auch in einer Onlineversion gab – war dann nachzulesen, in welchem Raum welcher Vortrag und welche Diskussion stattfinden würde.

Den Teilnehmern blieb die sprichwörtliche Qual der Wahl, denn die Themenvielfalt war groß und reichte vom Nutzen eines privaten Blogs im Rahmen von Bewerbungsverfahren…

_DSC05963-Notebook

…über digitales Engagement für Flüchtlinge am Beispiel der Hamburger Kleiderkammer…

_DSC05934-Fluechtlingsdisku

…bis hin zum #BetreutenTrinken beim #Craftbeertasting. Bei letzterem habe ich im übrigen gelernt, dass das Heilige Reinheitsgebot Deutscher Nation dereinst kein Lebensmittel- sondern ein Steuergesetz war, mit dem die Verwendung von Weizen im Braugewerbe – statt im Bäckerhandwerk – unterbunden werden sollte.

_DSC05950-Bierchen

Und dass Hopfen die Libido tötet, weshalb es so viele Klosterbrauereien gibt. Zum Glück hatten die meisten Teilnehmer im Anschluss wohl nicht mehr viel vor. Der Fakt fand trotzdem ein digitales Echo.

Auch der eh schon angeschlagene Verfasser dieser Zeilen war nach dieser Session erst einmal pausenreif. Ein Verlangen, das sich im freundlichen Ambiente der QSC-Caféteria durchaus angenehm erfüllen ließ.

_DSC05935-Pausentalk

Gut, dass am Ende des Tages schließlich ein Tieflader mit geschätzt 800 Pizzen für die Social Meute vorfahren kam.

_DSC05990-Pizza

Gegen 20 Uhr war dann endgültig Schluss und ein mit Eindrücken, Fakten und Pizza randvoller Hobbyblogger machte sich zusammen mit Mediaperle Meike todmüde auf den Westweg nach Aachen.

_DSC05995-Reste

Um dort glücklich endlich in die Federchen zu fallen? Nein, erst mussten die frischen Eindrücke noch hier im Blog festgehalten werden. Und wo die Bilder doch schon mal bearbeitet waren, konnte man doch gleich noch fix eine kleine Präsentation zusammenklöppeln… hatte nicht eine der Bloggerinnen in einem Nebensatz geseufzt, sie verstünde leider so gar nichts von Fotografie?

Es spricht vermutlich nicht gegen die Qualität einer solchen Veranstaltung, wenn ein todmüder Teilnehmer, statt im Anschluss kräftespendenden Schlummer zu tanken, sich spontan an den Rechner setzt. Um zum ersten Mal in seinem Leben eine Session abzuhalten.

Genau 23 Folien hatte die Präsentation mit dem Titel „Fototipps für Blogger – oder: Erste Schritte aus dem güldenen Käfig der Programmautomatik“, die in den folgenden Stunden entstand.

Inhalt: Die heilige Dreifaltigkeit der Fotografie aus Blende, Belichtung und ISO-Wert, ein paar mehr oder weniger gelungene Beispielsfotos, die kostenlose Bildbearbeitung Irfanview und das WordPress-Foto-Plugin Responsive Lightbox, ein Link auf die Video-Tutorials von Benjamin Jaworskyj auf Youtube, ein bisschen Kaufempfehlung für Systemkameras und zu guter Letzt die Verwendung von preisgünstigen manuellen Objektiven.

23 Folien, mit denen ich – so die wachsende Panik im Lauf des folgenden Vormittags – zweifellos innerhalb von zehn Minuten fertig sein würde. Worauf meine Teilnehmer immerhin in den Genuss kommen würden, innerhalb der vorgegebenen 45 Minuten noch eine fast vollständige zweite Session besuchen zu können.

Es kam dann doch etwas anders. Nach 50 Minuten hochkomprimierten Quatschens war ich mit der Präsentation gerade durch und hatte noch nicht einmal meine zusätzlich auf das Macbook gezogenen Beispielsfotos gezeigt. Noch eine volle weitere Stunde im Anschluss saß ich mit den letzten Interessierten im Raum zusammen.

Immerhin: Den Reaktionen auf Twitter nach kann die Session nicht völlig daneben gewesen sein.


https://twitter.com/Pixelkurier/status/637957342533939200

Dann die rituelle Abschluss-Session. Das Feedback, der Dank an die Sponsoren, die Helfer, die Organisatoren…

_DSC06025-Abschluss

Auch wenn der eine oder andere hier etwas ernst guckt: Es war eine ziemlich großartige Veranstaltung, fluffig und familiär. Inhaltlich teils hochkarätig, vom Publikum her angenehmst möglich, von der Location her fast ideal.

DSC06045-Schlussrunde

Und dann war da noch der Kaffee. Am liebsten hätte ich mir ja für den Rückweg eine Thermosflasche „Palthope Estate Ponya“ abgefüllt. Was nicht ging.

Was aber gehen muss: das nächste Barcamp. Ich, die neue Kamera mit dem alten Objektiv und der noch ältere Mercedes mit Salatölantrieb werden dabei sein.

Wen meine Präsentation interessiert, kann sich eine (aus rechtlichen Gründen um eine Folie gekürzte) Fassung hier herunterladen:
Fototipps für Blogger – Marc Heckert – Barcamp Köln 2015.
Über Kritik, Anregungen und vielleicht sogar Lob freue ich mich in den Kommentaren.

Und, weil der Bloggerkodex einen solchen Hinweis gebietet: Die erste Fassung dieses Artikels, geschrieben nach dem ersten Tag, wurde nach dem zweiten Tag überarbeitet und ergänzt.

Nachtrag am Montag:

Ein Barcamp kann Folgen für Sie, Ihren Kontostand und die Menschen in Ihrer Umgebung haben. Die finden sich unter Umständen nämlich plötzlich ständig im Fokus.

https://twitter.com/tboley/status/638436937863417856?s=09

Sternenhimmel

Sony Nex-6 mit Canon nFD 50mm 1:1.4, f1.4, 5s, ISO 100
Sony Nex-6 mit Canon nFD 50mm 1:1.4, f1.4, 5s, ISO 100

Man kann nicht dasselbe Foto zweimal machen, bloggerte ich neulich. Aber man kann versuchen, dasselbe Motiv noch einmal besser hinzukriegen. Beziehungsweise mit einem besseren Objektiv.

So sah der Abenstern vor einigen Wochen aus – mit der High-Tech-Festbrennweite Sony SEL 20f28. Regulärer Neupreis: 349 Euro.

Das heute war ein gut 30 Jahre altes, garantiert elektronikfreies Canon FD 50mm 1:1.4 für 40 Euro. Finde den Unterschied.

Umgekrempelt

DSC05771

Wie Granaten in der Waffenkammer liegen sie da aufgetürmt in ihrem Regal, die metallenen Spitzen nach vorne gerichtet, die Weberschiffchen. Ihnen gegenüber ragen, drohend wie Kanonenrohre eines Schlachtschiffs, die Achsen aus der dreifach gewaltigen Maschine, die fast eine komplette Seitenwand der Maschinenhalle beherrscht.

DSC05682

Es ist ein faszinierend düsterer und gleichzeitig leuchtender Ort, so rostig wie farbenfroh, so alt wie neu: das Depot des Textilmuseums Tuchwerks Aachen in der alten Stockheider Mühle am Strüverweg in der Soers. Ein Ort irgendwo zwischen Vergangenheit und Aufbruch, noch an allen Ecken unfertig und doch mit einem Ziel.

DSC05648

Die lange Geschichte der alten Tuchmacherstadt Aachen soll in dieser ehemaligen Textilfabrik dokumentiert werden. Im Jahr 2003 hat sich ein Verein gegründet, um dieses von Vergessenheit bedrohte Erbe der Kaiserstadt zu retten.

DSC05751

Keine leichte Arbeit, denn die Ausstellungsstücke sind etwas, nun ja, unhandlich. Aber: Wer alte Maschinen mag, ölig glänzende Zahnräder, Handkurbeln und Antriebsbänder, dem werden die Augen glänzen beim Anblick der Schätze in der von außen so unscheinbaren Halle.

DSC05651

Das übermannshohe Monstrum auf der rechten Seite des Raumes, das den Blick des Besuchers sofort an sich zieht, nennt sich Krempelsatz. Mit ihm wird die ungekämmte Wolle in einzelne Fasern aufgelöst. Der Verein hat ihn 2010 von der Firma Astonjohnson aus dem belgischen Kettenis überlassen bekommen.

DSC05587

Schon das Trumm aus seiner Halle heraus- und nach Aachen hereinzutransportieren, erwies sich – im wahrsten Sinne des Wortes – als Mammutaufgabe.

DSC05572

Doch nun ist er in voller Länge aufgebaut – und nicht die einzige Maschine im Raum. Der Besucher lernt hier so schöne Worte wie Selfaktor und Kettschärmaschine, dazu gibt es Reißwölfe und Spulmaschinen, Hand- und mechanische Webstühle.

DSC05614

„Die älteste Maschine ist ein Krempel aus der Werkstatt der Familie Cockerill in Verviers, aus der Zeit um 1810“, heißt es auf der Webseite des Vereins.

DSC05589

Als Laie bleibt einem oft nur das Staunen über die geheimnisvollen Apparate – was ihre Funktion ist oder war, lässt sich nur raten…

DSC05730

…sofern man nicht unter den vielen Ausstellungsstücken auch mal ein vertrautes Gerät entdeckt.

DSC05618

Mein Freund Peter Behrens hatte mich eingeladen, zusammen mit dem Lions Club Aachen Aquisgranum an einer Sonderführung durch das neue Zuhause des Museums teilzunehmen.

DSC05470

Los ging es um 19.30 Uhr. Die Stockheider Mühle präsentierte sich an diesem Sommerabend als halb triste, halb charmante Industrieruine, noch nicht ganz aufgewacht aus dem Dornröschenschlummer.

DSC05427

Der Standort selbst hat allerdings Potenzial – und die Lage in Aachens grüner Lunge Soers ist traumhaft.

DSC05425

Wer sich von dem etwas – ahem – spröden Äußeren der Anlage nicht abschrecken lässt – oder sogar vielleicht von einem Blick durchs Fenster der ehemaligen Pförtnerloge auf die dahinter ausgestellte Spinnmaschine angelockt wurde…

DSC05429

…der entdeckt ein paar Schritte weiter, hinter den Türen der Lagerhalle das, was der Verein in den letzten zwölf Jahren zusammengetragen hat.

DSC05450

Was für ein Kontrast: Strahlend weiße Wolle wartet auf die Verarbeitung.

DSC05765

Jochen Buhren, der Vorsitzende des Vereins Tuchswerk Aachen e.V., hatte angeboten, den Verein und seine Arbeit vorzustellen.

DSC05484

Eine kleine Ausstellung im vorderen Teil der Halle verschaffte uns zunächst den nötigen theoretischen Background…

DSC05476

…während gleich daneben die Welt der Textilherstellung greif- und sogar streichelbar wurde.

DSC05758

Als Gäste durften wir selbst versuchen, Wolle zu kämmen. Danach versteht man besser, warum der Mensch diese Aufgabe einer nicht allzu filigranen Maschine anvertraute.

DSC05559

Die Herbstkollektion 2015 besticht durch farbenfrohes Schottenkaro.

DSC05754

Während die Führung unter den kundigen Worten von Herrn Buhren von Maschine zu Maschine zog, stellte sich für den Verfasser dieser Zeilen – und nebenbei auch Fotografen dieser Bilder – das Schummerlicht im Saal als gewisses Problem dar.

DSC05531

Denn das mitgenommene Teleobjektiv Sony SEL 18200LE – ein sogenanntes „Immerdran“ – ist zwar im Sonnenlicht Teneriffas zu vielem zu gebrauchen, lässt aber bei schwacher Beleuchtung doch arg wenig Licht an den Sensor der Kamera. Das Super-Zoom wurde zum Suppen-Zoom. Nachdem ich daran gescheitert war, das Fabrikschild der Krempelmaschine scharf an den Rand einer geplanten Weitwinkelaufnahme zu stellen war, geschah etwas, was mir noch nie passiert ist –

DSC05560

Ich schraubte nämlich freiwillig die teure High-Tech-Computerlinse von der Nex und klipste das ebenfalls mitgebrachte Steinzeitobjektiv dran. Nicht aus Spaß, sondern aus Notwendigkeit. Das erst vor ein paar Tagen in Betrieb genommen manuelle Minolta MD 50mm 1:1.7 (hier vorgestellt) würde auch bei diesen Lichtverhältnissen brauchbare Bilder abliefern, das war klar.

DSC05576

Was es dann auch tat. Mechanik schlägt Elektronik. Gut, man könnte auch sagen: Lichtstärke schlägt Ofenrohr. Auch Sony bietet ein nagelneues 50-Millimeter-Objektiv für die Nex an, komplett mit Autofokus, Bildstabilisierung und allem Pipapo.

DSC05753

Aber das hatte ich halt nicht da – und das manuelle Fokussieren macht mir inzwischen so viel Spaß, dass ich gar nicht mehr darauf verzichten möchte.

DSC05731

Wenn man doch nur etwas mehr hätte abblenden können! Tiefenschärfe gegen ISO-Wert aufzurechnen, kann ja so unbefriedigend sein.

DSC05611

Bereut habe ich es jedenfalls nicht, das Altobjektiv statt etwa des neuen 20-mm-Weitwinkels einzustecken.

DSC05654

Ich mag die Schärfe im Vordergrund des alten Minolta, ich mag den cremigen Hintergrund…

DSC05691

…und ich mag die Farben, die das Ding produziert. Zum ersten Mal kam mir heute der bizarre Gedanke, die frisch zusammengestellte Sammlung digitaler Objektive wieder aufzulösen und dafür eine Handvoll Steinzeitlinsen anzuschaffen – das legendäre Minolta Rokkor 1:1.2 50 mm aus den 70er Jahren soll ja so ziemlich das schönste Bokeh der Fotogeschichte produzieren…

Wo war ich? Zurück zum Thema, zurück in die Soers, wo inzwischen der Lärm der Spinnmaschinen verstummt ist und dafür Gulaschsupppe Chili con Carne und Baguette ihrer Bestimmung entgegengehen.

Es war ein spinnender, äh, spannender Abend in diesen bröckeligen alten Mauern. Und wir haben etwas gelernt: Alter Krempel kann etwas ganz Wunderbares sein.

Der Whow-Moment

Sony Nex-6 mit Minolta MD 50mm 1:1.7, 1/60s, ISO 3200
Sony Nex-6 mit Minolta MD 50mm 1:1.7, 1/60s, ISO 3200

Es gibt Momente, da klappt einem der Kiefer auf, da sagt man einfach nur „Whow“. Vielleicht ist es auch ein anderes Wort. Eins halt, das einem unwillkürlich entflutscht, wenn man eine Sekunde lang einfach nur geplättet ist. So einen Moment hatte ich heute. Es war nach dem achten diesjährigen TestessenAC im Lai Thai am Kehrmännchen, wie stets in wunderbarer Weise organisiert von Sabine.

Für das „Whow“ des Tages war allerdings nicht der Schärfegrad meiner Thai-Ente verantwortlich (auch wenn zwei von drei möglichen Chilischoten auf der Karte durchaus für den einen oder anderen heißen Moment sorgen können).

Sony Nex-6 mit Minolta MD 50mm 1:1.7, 1/40s, ISO 3200
Sony Nex-6 mit Minolta MD 50mm 1:1.7, 1/40s, ISO 3200

Nein, ich hatte ein neues Objektiv an der Nex. Wobei „neu“ nicht ganz das passende Wort für eine Linse ist, die 1979 erstmals auf den Markt kam, also irgendwas um die 30 Jahre alt sein dürfte. Und die jetzt schon seit etwa anderthalb Jahren unbeachtet in meiner kleinen Sammlung vor sich hin staubfängert. Ein vollmechanisches Minolta MD 50mm 1:1.7 Standardobjektiv.

Nach den begeisterten Berichten in diversen Blogs und Foren über die Güte von mechanischen Objektive aus der vordigitalen Zeit und ihre leichte Kombinierbarkeit mit den heutigen Systemkameras wollte ich damals auch unbedingt eins ausprobieren. Und schoss mir, mangels Erfahrung und Kenntnis, statt des bekannt brillanten Minolta MD 50mm 1:1.4 oder des 50mm 1:2 deren mittleren Bruder 1:1.7 (die zweite Zahl, also 1.7, bezeichnet die maximal offene Blende – alles unter 2 ist schon mächtig lichtstark).

Sony Nex-6 mit Minolta MD 50mm 1:1.7, 1/40s, ISO 3200
Sony Nex-6 mit Minolta MD 50mm 1:1.7, 1/40s, ISO 3200

Das 1:1.7 ist das Stiefkind des Trios. Bei Offenblende soll seine Schärfe vor allem in den Randbereichen nicht an die anderen heranreichen, wenn auch etwas abgeblendet allerdings kein Unterschied mehr feststellbar sein soll. Gekostet hatte mich das Schnäppchen ohne erkennbare Gebrauchsspuren denn auch nur irgendwas um die 25 bis 30 Euro – die begehrteren 1:1.4er-Modelle werden gerne für das Drei- bis Vierfache gehandelt.

Spaß machte der frisch ersteigerte Dinosaurier leider nicht. Die Schärfe war zwar tatsächlich brillant, der Tiefenschärfebereich dagegen so minimal, dass die ersten Probebilder kaum zu verwenden waren. Und da mir damals ISO-Werte und Belichtungszahlen böhmische Dörfer mit sieben Siegeln waren, kam auch nichts Gescheites bei den Experimenten heraus. Folglich dornröschenschlief der Mechaniker die letzten anderthalb Jahre im Köcher – bis jetzt.

Wenn man sich darauf einlässt, Blende, Belichtung und ISO-Zahl an Objektiv und Kamera selbst einzustellen und mit Hilfe von Displaylupe und Kantenanhebung zu fokussieren, dann entstehen plötzlich tatsächlich so etwas wie Fotos. Auch wenn das Fokussieren per Lupe nur bei sehr ruhiger Hand funktioniert.

Google LG  Nexus 5
Google LG Nexus 5

Doch es klappt: Trotz der um 50 Prozent verlängerten Brennweite – das 50-Millimeter-Standardobjektiv der Kleinbildkamera wird ja am kleineren APS-C-Sensor der Nex zu einem leichten 76-Millimeter-Teleobjektiv – und des verringerten Lichteinfalls durch den zusätzlichen Adapterring produziert die Alt-Neu-Kombination sogar im eher gedämpften Licht des Gastraums und trotz freihändigen Anvisierens der Thai-Ente brauchbare Bilder. Und was für welche. Bilder mit Farben. Bilder mit cremiger Hintergrundunschärfe.

Keine Frage, das hat was. Selbst bei so wenig günstigen äußeren Bedingungen und einem so wenig erfahrenen Fotografen zaubert dieser jahrzehntealte Oldie quasi aus dem Ärmel solche Schüsse hin. Und weil diese ersten Treffer so ermutigend ausfielen, habe ich auf dem Rückweg noch einmal an meinem bewährten Fotostandort am Klosterplatz angehalten und unter dem schützendenDach der Papeterie Clou auf die Domschatzkammer gepeilt. Das kleine Immerdabei-Teleskopstativ aus der Ortliebtasche geholt, 30 Sekunden Belichtung, ISO 100. Warten. Schauen: Und, wie ist es geworden?

Sony Nex-6 mit Minolta MD 50mm 1:1.7, 30s, ISO 100
Sony Nex-6 mit Minolta MD 50mm 1:1.7, 30s, ISO 100

Dann war er da. Nach dem Heranzoomen an die Mauersteine, an das regennasse Straßenpflaster, an den „Blütezeit“-Schriftzug des Blumenladens ganz hinten an der Straße: der Whow-Moment.

Was für eine kristallklare Schärfe. Der mechanische Ebay-Billigheimer mit seinen diversen Jahrzehnten auf dem Buckel spielt brandneue vollelektronische Komfortobjektive locker an die Wand. (Die Großbildansicht in der Galerie hier lässt sich über den X-Button oben rechts übrigens auf volle Bildschirmgröße bringen.) Man sieht mich begeistert. Und nachdenklich.

Und morgen: bei Ebay. Nach mechanischen Billigheimern gucken. Plötzlich sieht die schöne neue Fotowelt etwas anders aus. Wer braucht schon Elektronik, wenn er Brillianz haben kann?

Lichtdistel

Sony Nex-6 mit Sony SEL20f28, f6.3, 1/80s, ISO 800, 20 mm
Sony Nex-6 mit Sony SEL20f28, f6.3, 1/80s, ISO 800, 20 mm

Und wenn ich noch tausendmal meine geliebte Laufstrecke durch den Öcher Bösch entlangstapfen sollte, irgendein neues Motiv bietet sich immer. Und sei es in den letzten Sekunden des Abendlichts, das schon hinter der Hügelkuppe verdämmert, während ich am Wegesrand vor der Distel kauert.

Wiederholungstäter

Sony Nex-6 mit Sony SEL 20f28, f5, 30s, ISO 100, 20 mm
Sony Nex-6 mit Sony SEL 20f28, f5, 30s, ISO 100, 20 mm

So richtig wahnsinnig ist man ja erst, wenn man zwei Abende hintereinander am selben Brückengeländer kauert. Immerhin: Die Kameraeinstellungen hatte ich diesmal noch drin – so wurden es heute nur anderthalb Stunden.

Macht innerhalb der vergangenen 24 Stunden etwa dreieinhalb, die ich über der A544 verbrachte. Das darf man wohl, um einen Kommentar meines Freundes Peter Behrens aufzugreifen, einen Brückentag nennen.

Brückenglück

Sony Nex-6 mit Sony SEL 18200LE, f4, 30s, ISO 100, 18 mm
Sony Nex-6 mit Sony SEL 18200LE, f4, 30s, ISO 100, 18 mm

Ein stetiger leichter Wind weht über die Hochbrücke, doch obwohl ich in Shorts und T-Shirt rund 13 Meter über dem Asphalt am Geländer stehe, ist mir nicht kalt. Es ist eine Eigenart dieses seltsamen Sommers, dass sich feuchtkalte und schwülwarme Nächte seit Wochen abwechseln. Heute ist Variante zwei dran.

Es ist spät am Abend, in einer halben Stunde ist Mitternacht. Seit fast zwei Stunden ragt das Teleobjektiv der Sony hier in luftiger Höhe über der Autobahn 544 an der Abfahrt Verlautenheide/Würselen in Blickrichtung Aachener Kreuz durch die Streben des Geländers.

Der Verkehr sorgt für ein beständiges Hintergrundrauschen. Wenn ein schweres Fahrzeug unter mir entlangdonnert, geht ein leicht singendes Zischen durch die Konstruktion. Doch mit der Zeit sind die Momente immer öfter und länger geworden, in denen es schon fast still ist und kein Auto weiße oder rote Streifen durch die Fotos zieht, die meine Kamera geduldig eins nach dem anderen auf ihre Speicherkarte sichert. Eine halbe Minute Belichtung, eine halbe Minute Bearbeitung, dann: Betrachtung. Dann der nächste Versuch, mit etwas anderer Perspektive, einer anderen Blende oder einem nachjustierten Fokus. Man muss schon reichlich Geduld mitbringen, um zu dieser Zeit noch mit der Kamera loszuziehen.

Aber es hat auch seinen ganz eigenen Reiz. Keine Seele ist außer mir hier an diesem einsamen Ort – außer den Menschen in den Autos da unten in der Tiefe. Und die Fotografie bei Nacht ist eine Welt für sich. In fast völliger Dunkelheit auf ein Autobahnschild zu fokussieren, ist viel schwerer, als ich es mir vorgestellt hatte. Und dann hätte ich natürlich auch gerne einen Moment im Bild, in dem auf allen vier Blättern des Kleeblattes Fahrzeuge fahren.

Doch das Glück lässt sich nicht zwingen. Die perfekte Halbminute – ein wenig, aber nicht zu viel Verkehr auf sämtlichen sichtbaren Fahrbahnen – gibt es heute nicht. Dann ist es irgendwann Mitternacht; die Autos fahren jetzt nur noch vereinzelt in immer größer werdenden Abständen. Zeit, das Stativ zusammenzuklappen und nach dem Moorbraunen zu suchen, der dort irgendwo in den Schatten auf mich wartet.

Was an Bildern an diesem Abend entsteht, ist – wie könnte es anders sein – nicht perfekt. Macht nichts, der Sommer ist es auch nicht, und er birgt trotzdem Momente echten Glücksgefühls. Manche finden an einem windigen Brückengeländer hoch über der Autobahn 544 statt. Und ein paar weitere warten bestimmt noch darauf, erlebt zu werden.