Von großem Glück in engen Gassen

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Auf die Gefahr hin, für senil gehalten zu werden*, drängt es mich doch nochmal dazu, mein Glück in die Welt hinauszubloggen. Dem Glück nämlich, an einem Ort sein zu dürfen, an dem ich sein möchte. Zehn Jahre ist es in diesen Tagen her, dass in mir der Wunsch aufkam, in Aachen zu leben. Es waren Sommertage wie diese und es war eine Stimmung in den engen Gassen rund um Dom und Rathaus wie jetzt, als ich merkte, dass ich mich in die kleine große Stadt im äußersten Westen verliebt hatte. Und gerne ein Teil von ihr wäre.

So weit, so romantisch-harmlos. Nein, zugegeben: so kitschig. Wenn man aber in diesen Tagen mit der Kamera und offenen Augen durch diese Gassen geht, muss man gar nicht so weit schauen, um daran erinnert zu werden, dass so ein Glück nicht jeder von uns spüren darf. Ich hatte in den vergangenen Monaten selbst regelmäßig mit Menschen zu tun, die weiß Gott nicht freiwillig und aus Begeisterung nach Aachen gekommen sind. Und die eine weit, weit längere Anreise hatten als der Schreiber dieser Zeilen, den es seit seiner Geburt nur rund 380 Kilometer weit von Oldenburg her geweht hat.

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Menschen aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan. Ländern, in denen Mörder mit Maschinengewehren darüber bestimmen, wer leben darf und wer sterben muss. Menschen, die mit Ach und Krach ihr nacktes Leben retten konnten und ihre Existenz nur in einem Koffer dabei hatten. (Und sich hierzulande dann noch dafür beschimpfen lassen mussten, auch ihr Smartphone aus den Trümmern ihrer Heimat gerettet zu haben.)

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An schönen Tagen wie diesen, wenn man gemütlich unter den römischen Kolonnaden im Hof seine Apfelschorle durch den Strohhalm zieht: Dann darf man, wenn man schon nichts an den Dingen ändern kann, die Menschen aus den Orten treibt, an denen sie geboren wurden und an denen sie alt zu werden geplant hatten, dann darf man wenigstens sich selbst noch einmal daran erinnern, wie groß und kostbar dieses Glück ist, selbst entscheiden zu dürfen, wo man ist und sein möchte.

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*Also: ein weiteres Mal für senil gehalten zu werden. Zum wievielten Mal, weiß ich nicht. Man selbst bekommt ja in diesem Zustand gnädigerweise von den Wiederholungen nicht mehr so viel mit.

* * * * *

Und zum Schluss, es muss leider sein, noch das übliche technische Kleingedruckte, das sich hier leider nicht kleiner drucken lässt dank des Plugins TinyMCE endlich auch klein drucken lässt (danke für den Tipp, liebe Uschi!). Beim obigen Fotospaziergang durch das Weichbild der Stadt durfte mal wieder das „neue“ Weitwinkel ran. Das Carl Zeiss Jena Flektogon 2.8 20 aus DDR-Produktion lag seit dem Kauf meist in der Vitrine – die äußersten Ecken sind halt doch nicht ganz so scharf wie beim Canon FD 2.8 20. Aber es ist deutlich kompakter, kommt bis auf unfassbare 19 Zentimeter nah (!) ans Objekt ran und macht tolle Farben. Flektogons – auch das berühmte 2.4 35 Millimeter – gelten als fotografische Ein-Mann-Armeen. Kann ich bestätigen. Das Ding darf in Zukunft wohl öfter mal raus.

Vergoldetes

Sony A7II mit Carl Zeiss Sonnar 2.8 135 C/Y, F4, 1/1000, ISO 100
Sony A7II mit Carl Zeiss Sonnar 2.8 135 C/Y, F4, 1/1000, ISO 100

Die Strahlen der Abendsonne schlängeln sich an den Türmen von Dom und St. Foillan vorbei, kriechen über Hausdächer und enden schließlich als goldene Tupfer an den verwitterten Ziegeln einer uralten Hauswand. Mit unbewegter Miene schaut mir die goldene Heiligenfigur in ihrer Nische hoch oben an der Hausecke zu, wie ich unter ihr auf der Straße mit dem Stativ auf dem Pflaster herumkratze. Wenn ich sie zwischendurch in den Sucher nehme und auf die Lupe-Taste drücke, zeigen etliche Macken und der hier und da abgeplatzte Lack, dass die Dame mit der ausgestreckten offenen Hand nicht mehr die Jüngste ist.

Wie setze ich sie richtig ins Bild? Ein bisschen blauen Himmel dazu? Oder noch ein Stückchen von einem zweiten Gebäude? Nein, das wird alles zu unruhig. Die eine, klassisch-strenge Fassade des Hauses im Hintergrund ist genug. Alles andere lenkt nur ab und stört den Kontrast zwischen ganz alt und noch nicht so ganz alt.

Was diese kleine goldene Figur wohl im Laufe ihrer Jahre schon alles gesehen hat an dieser belebten Ecke, ein paar Meter abseits vom Herzen der Stadt? Tausende und abertausende von Nachtschwärmern werden es gewesen sein. Brave Bürger und finstere Gestalten natürlich. Tagsüber Touristen und Kauflustige, nachts Huren und ihre Kunden. Amerikanische G.I.s vermutlich und davor deutsche Wehrmachtssoldaten, vielleicht auch die belgischen Besatzungstruppen in den Zwanziger Jahren. Wer mag schon alles unter ihrem starren Blick über diesen Platz marschiert sein? Wer hat kurz zu ihr hochgeschaut, hat sich bei ihrem Anblick etwas gewünscht, vielleicht ein Stoßgebet zum Himmel geschickt? Wer bekam ein schlechtes Gewissen wegen seiner Sünden, wer nahm einfach nur ein paar Sekunden lang den Anblick in sich auf?

Heute ist es nur ein Hobbyfotograf, der zu ihren Füßen innehält und ins Nachdenken versunken ist. Bis ein besonders schöner Sonnenstrahl das goldene Gewand aufleuchten lässt und ihm wieder einfällt, weshalb er hier an diese Kreuzung gekommen ist. Ein Finger drückt auf den Auslöser, es klackt. Dann wird eine Kamera wieder in ihre Tasche gepackt, ein Stativ zusammengeschraubt, schließlich fährt ein Fahrrad davon in Richtung Elisenbrunnen.

Zurück bleibt eine kleine goldene Figur, unbemerkt von den meisten Menschen, die unter ihr die Straße entlanghasten. Und Abendlicht, das auf eine alte Ziegelwand fällt.

Posthumoristische Kunst

Da tritt man aus dem Supermarkt, schaut noch einmal zurück und hebt dabei eine Sekunde lang den Blick etwas höher als gewohnt. Und stutzt. Was sind das denn für Gestalten an der Fassade? Was tun die da? Warum sind die nackt? Wird der da von einer Katze gebissen?

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Sony A7II mit Carl Zeiss Vario-Sonnar 4 80-200, 1/125s, ISO 100
Sony A7II mit Carl Zeiss Vario-Sonnar 4 80-200, 1/125s, ISO 100

Der Supermarkt ist der Rewe im Alten Posthof und die Fassade ist die der alten Post. Aber diese nicht ganz so alten Kobolde, Zwerge oder Barockengelchen – wer sind die? Eine Arbeitskolonne aus der Twilight Zone? Die rote Ziegelwand schweigt und bleibt eine Erklärung schuldig. Und wir gehen mit der ebenso überraschenden wie beglückenden Erkenntnis weiter, dass deutsche Postler offenbar zumindest in Aachen und zumindestens einmal in der vielhundertjährigen Geschichte des Briefeverteilens heimgesucht wurden von einem Anfall unerwarteten Humors.

Blumiges

Sony A7II mit Pentacon 2.8 135, ca. F4, 1/160s, ISO 320
Sony A7II mit Pentacon 2.8 135, ca. F4, 1/160s, ISO 320

Wer gelegentlich auf die kleinen Tag-Schildchen unter meinen Artikeln schaut und zählen kann, dem ist vielleicht nicht verborgen geblieben, dass ich derzeit über weit mehr alte Objektive verfüge als über vorzeigbare Bilder. Neuester Zugang in meiner Sammlung ist ein Pentacon 2.8 135 aus der DDR, gebaut um 1985 herum. Es ist die frühe Version mit den unglaublichen 15 Blendenlamellen, die sich blütenartig stets zu einem Kreis schließen. Das Innenleben wurde noch in den 60er Jahren beim Traditionshersteller Meyer Optik in Görlitz konstruiert, das später im Dresdener VEB Pentacon aufging.

Sony A7 mit Pentacon 2.8 135, 1/160s, ISO 800
Sony A7 mit Pentacon 2.8 135, 1/160s, ISO 800

Und das 135er ist zweifellos eine der besten Produktionen dieses großen alten Namens der deutschen Fotohistorie. Die Linse ist in den exquisiten Zirkeln, die sich dem Fetisch manueller Linsen aus ostdeutscher Produktion verschworen haben, berühmt für den traumhaft cremigen Hintergrund, den sie zaubern kann. Lichter im Hintergrund lösen sich auf in Kreise und Blasen, keine Spur von den sechs- oder achteckigen Prismen, die normale Objektive so uncharmant in den Hintergrund würfeln. Auch ohne künstlerisches Geschick des Fotografens entsteht so ein Blumentraum von einem Bild.

Sony A7 mit Pentacon 2.8 135, ca. F8, 1/160s, ISO 1000
Sony A7 mit Pentacon 2.8 135, ca. F8, 1/160s, ISO 1000

Diese Fotos hier gehören zu den ersten Fotos, die ich mit der Görlitzer Wunderblume mache, und hach, man hat wahrlich nicht zu viel geschwärmt. Der Hintergrund ist sogar noch schöner als der des Rollei Planar 2.8 85, von dem ich neulich im Brackvenn ja schon überaus angetan war (und nach wie vor bin).

Und auch wenn ich hier schon sattsam von Systemkameras geschwärmt habe: Es ist immer wieder grandios, was für komplett unterschiedliche Objektive man einfach so vor eine Sony A7 klipsen kann. Ob Fünfziger, Sechziger oder Siebziger Jahre, ob Nikon-Tele, Canon-Makro, ob 10-Euro-Schnäppchen von Ebay oder 400-Euro-Edellinse, ob Porträtobjektiv aus Westdeutschland oder Weitwinkel aus der DDR: Einfach einen schlichten 10-Euro-Adapter dazwischenschrauben und alles passt.

Ich habe mir die Entscheidung für ein Kamerasystem nicht leicht gemacht, damals vor drei Jahren – genauer gesagt, es war die am heftigsten umbrütete Wahl meines Lebens. Heute bin ich froh, damals auf Sony gesetzt zu haben. Auch wenn ich inzwischen fast nur noch mit der großen A7II unterwegs bin, die kleine Nex-6 wird in Ehren gehalten. Vorhin durfte das Leichtgewicht mal wieder mit zum Joggen.

Unisommer

Sony A7 mit Pentacon 2.8 135, ca. F8, 1/320s, ISO 100
Sony A7 mit Pentacon 2.8 135, ca. F8, 1/320s, ISO 100

Es war ein kleines Déjá vu: Es ist ein schöner Sommermontag und ich hänge wieder mit irgendwelchen dunklen Gestalten an der Uni rum. Ganz wie früher, nur dass die Studenten damals noch keine Pokémons gesucht haben.

Im Jagdfieber

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Während im Aachener Westpark heute die Schnäppchenjäger über den Flohmarkt stromerten, lauerte nur ein paar Meter weiter im Teich ein ganz anderer Jäger auf Beute.

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Ein Blick nach rechts …

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… ein Blick nach links …

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… und – happs! – zugeschlagen.

Glückwunsch, Kollege. Andere Jäger gingen mit einer für fünf Euro ergatterten, originalverpackten Gegenlichtblende für das nagelneue Rollei 2.8 85 samt Filtersatz nach Hause. Die Zufriedenheit dürfte vergleichbar gewesen sein.

Fotos: Carl Zeiss Jena Sonnar 3.5 135 „Zebra“, 1/125, ISO 320, freihändig

Passanten

Sony A7II mit Rollei Carl Zeiss Planar 2.8 85, F5.6, 1/125s, ISO 160
Sony A7II mit Rollei Carl Zeiss Planar 2.8 85, F5.6, 1/125s, ISO 160

Ganz schön was los an diesem lauen Juliabend am Suermondtplatz. Angenehmerweise hat aber kaum jemand der Anwesenden Pokémons gejagt.