Seitenblick nach Springerstadt

Kein deutsches Medium reizt Journalisten und normale Menschen so sehr wie das Blatt mit den vier Buchstaben: die Bild. Das gilt für Medienjournalisten (Bild hat mit dem Bildblog sogar ein eigenes Wächtermedium an der Seite) ebenso wie für Otto Normalverbraucher (das Bildblog wiederum verzeichnet so viele Seitenabrufe wie eine mittlere deutsche Tageszeitung). Richtig spannend wird es, wenn die glatte Fassade des Springer-Hochhauses in Hamburg aufbricht und einen Seitenblick in die Kulissen ermöglicht.

So war es vor einigen Tagen unterhaltsam zu lesen, wie Chefredakteur Kai Diekmann im Interview mit der Netzeitung auf die Frage nach seinem Gehalt reagierte. Oder dass die Bild-Mitarbeiter am Tag der Pressefreiheit (3. Mai) vor allem über den geplanten Umzug nach Berlin debattierten, von dem sie gerade in einem Diekmann-Interview in der FAZ gelesen hatten, wurde berichtet.

Was aber heute hinter den Firewalls des Konzerns geschah, wirft ein interessantes Licht auf die Wertschätzung Diekmanns unter seinen eigenen Kollegen ebenso wie auf die innere Pressefreiheit im Verlag. Und auf die Macht der Blogosphäre, in der jetzt der Text kursiert, um den es geht.

Geschrieben hat ihn Alan Posener, Kommentarchef beim Springer-Blatt Welt am Sonntag. In seinem Blog „Apocalypso„. Posener hatte Diekmanns Abrechnung mit der 68er-Generation in Buchform („Der große Selbstbetrug“) als Anlass für eine bissige Replik mit dem Titel „Wir sind Papst!“ genommen:

[…] Ah ja, klar. Die 68er haben K. D. gezwungen, Politiker zu wählen, die haltlose Versprechen abgaben. (Wen meint er? Den Mann, dessen Autobiographie er als Ghostwriter mitverfasste? Den Mann der „blühenden Landschaften“?) Die 68er haben K. D. gezwungen, Verantwortung zu scheuen. (Was meint er damit?) Die 68er haben K. D. gezwungen, als Chefredakteur der Bildzeitung nach Auffassung des Berliner Landgerichts „bewusst seinen wirtschaftlichen Vorteil aus der Persönlichkeitsrechtsverletzung Anderer“ zu ziehen. Die 68er zwingen ihn noch heute, täglich auf der Seite 1 eine Wichsvorlage abzudrucken, und überhaupt auf fast allen Seiten die niedrigsten Instinkte der Bild-Leser zu bedienen, gleichzeitig aber scheinheilig auf der Papst-Welle mitzuschwimmen. Die 68er zwingen ihn, eine Kampagne gegen die einzige vernünftige Reform der Großen Koalition zu führen, die Rente mit 67. Die 68er zwingen ihn… aber das wird langweilig. Hier die Kurzfassung: ich bin’s nicht, die 68er sind’s gewesen. Das ist jämmerlich. […]

Was für offene Worte. Donnerwetter, staunte die Szene. Wie war das mit der Wahrheit und dem Mutigen, der sie ausspricht? Das Staunen war kurz. Schon um 11.47 Uhr, das Bildblog hat’s gestoppt, war der Beitrag aus dem Blog verschwunden. Nun war Poseners aktuellster Text wieder der vom Vortag, ausgerechnet über Zensur bei Welt.de (kein Scherz).

Da war es freilich schon zu spät: Findige Blogger hatten den Originaltext per Google-Caching gerettet. Da half es dem Verlag auch nichts mehr, die ganze Angelegenheit um 16.55 Uhr überhaupt nicht amüsant zu finden:

Dies ist die Entgleisung eines einzelnen Mitarbeiters. Der Beitrag von Alan Posener über Kai Diekmann ist ohne Wissen der Chefredaktion in den Weblog von Alan Posener gestellt worden.

Der Beitrag ist eine höchst unkollegiale Geste und entspricht nicht den Werten unserer Unternehmenskultur.

Bei Axel Springer gilt Meinungspluralismus, aber nicht Selbstprofilierung durch die Verächtlichmachung von Kollegen.

Was für geharnischte Worte. Posener hat das Mitgefühl der Blog-Szene (wie auf Technorati unschwer zu erkennen ist), und dass der komplette Text inzwischen auf vielen einschlägigen Blogs in voller Länge zu lesen ist und webauf, webab diskutiert wird, mag ihm zum Trost gereichen. Nebst diverser Auszeichnungen zum Kopf, Tropf bzw. Held des Tages.

Für den Autor, soviel gab der Verlag dann noch gegen 18.40 Uhr bekannt, werde die Angelegenheit immerhin keine personalrechtlichen Konsequenzen haben. Schön für ihn.

Die Zeitung mit den vier Buchstaben geht mit den Objekten ihrer Berichterstattung nicht immer zärtlich um. Und so mag sich der eine oder andere Leser wünschen, ihre Unternehmenskultur würde nicht nur vor der Verächtlichmachung von Journalistenkollegen Halt machen. Sondern auch vor der normaler Menschen.

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