Erschüttert

Hauptbahnhof Köln, Bahnsteig 8, 9.30 Uhr. Es ist Freitag, es ist bislang eine ziemlich überflüssige Woche gewesen (nein, nichts Dramatischeres als eine halbgare Erkältung und eine anstehende Autoreparatur) und der Schreiber dieser Zeilen wartet auf den Regionalexpress. Es soll nach Aachen gehen, und wer sich fragt, warum der Schreiber dieser Zeilen nicht wie üblich auf den bescheidenen Komfort seiner ollen C-Klasse zurückgreift, der fragt sich das zu Recht. Doch der brave Kilometerfresser steht seit einem Tag auf dem Firmenparkplatz. Sein Besitzer hat es am Donnerstag geschafft, auf dem Weg vom Parkplatz ins Büro den Autoschlüssel zu verlieren. Ja, auf den paar Metern über die Dresdener Straße und das Verlagsgelände. Vielleicht ist das Ding auch irgendwo im Verlag selbst aus der Hosentasche gehüpft, wer weiß das schon.

Das Erlebnis am Donnerstagnachmittag, auf dem Weg zu einem ziemlich wichtigen Termin vor dem Auto zu stehen und sich in wachsender Ungläubigkeit sämtliche Hosen- und Manteltaschen immer wieder aufs Neue zu durchwühlen, zählte zu den unangenehmsten Erlebnissen der vergangenen Tage. Irgendwo muss er doch sein! Doch Fehlanzeige. Also in Laufschritt und wachsender Nervosität zurück ins Büro, über Dresdener Straße und Verlagsgelände. Schreibtisch, Rollcontainer, der Kabelsalat auf dem Boden: Fehlanzeige. Konferenzräume, Kantine, Klo: Fehlanzeige. Der Schlüssel samt Ring – ich clipse ihn normalerweise während der Fahrt vom Rest des Schlüsselbunds ab, damit dessen Gewicht das Zündschloss nicht auf Dauer ausleiert – bleibt verschwunden.

Und mir nichts übrig, als mich für den wichtigen Termin das Auto einer netten Kollegin zu leihen. Und mich abends in den Zug nach Köln zu setzen, nach einem erfrischenden Fußweg zum Bahnhof Rothe Erde, durch Aachener Dauerregen. Unnötig zu sagen, dass nirgendwo im Büro ein Schirm greifbar liegt – erst auf den Stufen des Bahnhofs findet sich ein herrenloses, aber noch weitgehend intaktes Exemplar, das ich tatsächlich dankbar aufhebe und für den Rest des Nachhausewegs mitnehme. Es sind oft Kleinigkeiten, für die man am dankbarsten ist. Wie sehr man sich manchmal selbst über Weggeworfenes noch freuen kann.

Und wie sehr einen so ein Erlebnis erschüttern kann. Wie kann man nur seinen Autoschlüssel verschusseln? Die Dinger kosten beim Händler stolze 32 Euro (und fragt bitte nicht, woher ich das so genau weiß).

Seit geschlagenen zwanzig Minuten stehe ich also nun am Morgen danach auf Bahnsteig 8. Noch zehn Minuten bis zur Einfahrt des Zuges um 9.47 Uhr. Wenn das Smartphone nicht erfunden worden wäre, könnte man sich glatt in trüben Gedanken verlieren an diesem trüben Novembertag. Wie gut, dass das über drei Jahre alte iFon 4 noch halbwegs funktioniert. Nachrichtenportale, Twitter, Facebook; man so kann wunderbar eintauchen in die schöne bunte Netzwelt, wenn man etwas vergessen möchte, vor allem die eigene Vergesslichkeit. Ich lese Interessantes, ärgere mich über einen Twitterer, verpasse ein paar Beiträgen von Facebook-Freunden den Daumen, den es – auch das lese ich mit Interesse – demnächst nicht mehr geben soll. Dazu noch schnell eine Mail an die Redaktion.

Als ich wieder aufsehe, ist es 9.50 Uhr. Die Anzeigetafel für den nächsten Zug auf Gleis 8 kündigt statt meines RE9 einen Express aus Basel an. Und dem Schreiber dieser Zeilen fällt die Farbe aus dem Gesicht: Kann das sein? Kann es wirklich sein, dass hier gerade vor drei Minuten nur zwei Meter von mir entfernt mein Zug eingelaufen und wieder abgefahren ist – und ich nichts davon gemerkt habe? Kann man 300 Tonnen Regionalexpress einfach so übersehen? Hundertfünfzig Meter knallrote Doppelstockwagen samt vierachsiger Elektrolok? Bitte nicht! Erst der Autoschlüssel, jetzt das. So dämlich darf man doch nicht sein, wenn man noch frei und ohne Betreuer durch die Gegend laufen will!

Mühsam ringe ich um Fassung. Es muss an der Erkältung liegen. Am Zementschädel. Muss. Eine andere Erklärung gibt es nicht, jedenfalls keine angenehme. Die Erschütterung vom Vortag kommt mit Macht zurück, und sie ist tatsächlich noch zu steigern. Oh Mann! Ich gehöre ins Bett, am besten für den Rest der Woche. Oder gleich in ein Heim. Wie heißen noch diese Gedächtnistabletten für tüdelige Senioren, für die abends immer Werbung im ZDF läuft? Granustol? Sanofink?

Irgendwann beruhigt sich der Puls wieder etwas. Trotz allen Entsetzens, es hilft ja nichts: Ich muss nach Aachen, und zwar mangels Schlafwagen mit dem nächstmöglichen Regionalzug. Werde ich jetzt zur Strafe noch eine Stunde lang hier stehen müssen? Auf der Suche nach der günstigsten Verbindung streift der Blick über die Abfahrtspläne und Anzeigetafeln für die nächsten Zugläufe. Und bleibt auf einer solchen Anzeige schließlich hängen an einem Satz in kleiner Laufschrift: RE9 nach Aachen heute 35 Minuten später.

Er war also doch noch nicht da, mein Zug. So versunken ich auch war, einen ganzen Regionalexpress habe ich denn doch nicht übersehen. Oh Mann. Es dürfte eine ganze Weile her sein, dass sich ein Kunde des schienengebundenen Personnennahverkehrs so sehr über eine so saftige Verspätung gefreut hat. Ja, es sind manchmal Kleinigkeiten, für die man im Leben am dankbarsten ist. Etwa die Erkenntnis, doch noch nicht reif für diese Gedächtnispillen zu sein, diese… Dings, na, wie heißen sie noch…

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