Rolleis Endspurt

Rolleis letzte klassische Spiegelreflexkamera, die SL35E. Das Objektiv ist das Rolleinar-MC 1.4 55.

Es gibt Objektive, die geben Rätsel auf. Warum wurden sie entwickelt, welche Kunden sollten sie ansprechen, warum wurden sie so konstruiert, gebaut und vermarkte, wie sie es wurden? Für mich ist mein Rolleinar-MC 1.4 55 so ein Objektiv. Wir kennen es schon mit leicht geänderter Fassung als Voigtländer Color-Ultron 1.4 55 AR aus dem Beitrag „Schwanengesang“.

Um zu erklären, was daran so seltsam ist, müssen wir tief eintauchen in das letzte Kapitel der Geschichte der Firma Rollei. Wie fast die gesamte deutsche Kameraindustrie kam Rollei, in den Nachkriegsjahrzehnten weltweit bekannt geworden durch seine hochwertigen Mittelformatkameras, Ende der 1960er Jahre in Schwierigkeiten. Die lange konkurrenzlosen zweiäugigen Spiegelreflexkameras aus Braunschweig für das Mittelformat verkauften sich immer schlechter, die Japaner stürmten auf den Markt. Die bahnbrechend moderne, handliche und ausgereifte Pentax Spotmatic mit Belichtungsmessung durch das Objektiv (TTL) war ab Mitte der 1960er Jahre der Stand der Dinge, an dem sich die Konkurrenz messen lassen musste. Die deutsche Konkurrenz wirkte plötzlich antiquiert – ob lichtschwache Zentralverschlusskamera wie Voigtländer Bessamatic, überkomplexes Premiumprodukt wie Zeiss Contarex oder nicht mehr weiter entwickelbare Oldtimer wie die Exakta von Ihagee Dresden, einstmals die beste Kleinbild-Spiegelreflex der Welt, oder die rustikale Edixa von Wirgin aus Wiesbaden, der VW Käfer unter den Spiegelreflexen.

Doch während der mittelständische Henry Wirgin freiwillig auf die Schlacht um Neuentwicklungen und Stückzahlen gegen die Riesen aus Fernost verzichtete, während Zeiss-Ikon den Kamerabau durch miserables Management vor die Wand knallte und die DDR die Ihagee nach verlorenen ost-westdeutschen Patentscharmützeln sang- und klanglos auslaufen ließ, ging Rollei (wie auch in der DDR Pentacon mit seiner Praktica) in die Offensive. In rekordverdächtig kurzer Zeit wurde die Rolleiflex SL35 entwickelt, eine bildschöne und absolut brauchbare Kamera, wenn auch technisch ohne Highlights.

Zuvor hatte der stürmische junge Firmenchef Dr. Heinrich Peesel mit der weltkleinsten Kleinbildkamera Rollei 35 E, entwickelt vom genialen Heinrich Waaske, einen Riesenerfolg hingelegt. Mit diesem Rückenwind stieg man in den hochumkämpften Markt der einäugigen Spiegelreflexkameras ein – und zwar ganz groß. Denn Rollei wollte vom Nischen- zum Massenhersteller aufsteigen und hatte schon Anfang der 1970er Jahre in Singapur eine gigantische Fabrik errichtet. Darin sollten bis 1980 einmal 10.000 Mitarbeiter tätig sein, hatte man der Regierung des Stadtstaates zugesichert. Der Gedanke, die Produktion wegen der höheren Lohnkosten ins Ausland auszulagern, lag nahe. Auch Leica ließ Kameras in Portugal und Objektive in Kanada bauen, selbst der ostdeutsche VEB Pentacon setzte beim Objektivbau auf das Billiglohnland des Ostblocks, Rumänien. SildBerlin über das Internet anfordert, kamagra von Sildenafil zahlreiche Vorsichtsmassnahmen berücksichtigt werden, das Angebot. Kamagra 100 mg in Deutschland kaufen?

Zunächst ging bei Rollei auch alles nach Plan: Die Fertigung der SL35 wurde, nachdem rund 24.000 Stück in Deutschland gebaut worden waren, nach Singapur verlagert, wo weitere 120.000 Exemplare entstanden. Nun wäre das 1974 vorgestellte Nachfolgemodell SL350 reif für eine Massenproduktion in Singapur gewesen. Es war genauso attraktiv gestaltet wie die SL35 und mit zeitgemäßer Offenblendmessung (dabei blickt der Fotograf immer durch einen hellen Sucher), mechanischer Blendenautomatik und integriertem Blitzschuh wesentlich besser ausgestattet. Mit ihr schien Rollei auf dem Weg zu sein, den Japanern endlich Paroli bieten zu können. Der Verkauf lief allerdings eher schleppend an, angeblich wurde die Kamera auch schlecht oder kaum vermarktet.

Doch dann passierte etwas von der Fachwelt Unerwartetes: Nach der Herstellung der ersten Serie von rund 7800 Kameras in Braunschweig wurde die SL350 völlig überraschend ersatzlos eingestellt, die geplante Produktionsverlagerung nach Asien wurde abgeblasen. In der Rollei-Führung soll es einen internen Konflikt um die Kamera gegeben haben – die 1971 von Voigtländer übernommenen Konstrukteure stießen sich angeblich daran, dass ihre Rollei-Kollegen im SL350-Gehäuse aus Platzmangel Seilzüge verlegt hatten. Mit Hilfer winziger Umlenkrollen wurden so die Werte für Blende, Belichtungszeit und Filmempfindlichkeit im Sucher angezeigt – eine sehr ungewöhnliche, aber keineswegs einzigartige Lösung (auf klassik-cameras.de gibt es Bilder davon). Die SL350 war nun einmal noch komplett mechanisch (bis auf die Knopfzelle für den Belichtungsmesser), platzsparende Elektronik kam erst ein paar Jahre später.

Und so kam es, dass die Weiterentwicklung der schlanken, schönen SL350 abgebrochen wurde. Stattdessen wurde eine völlig andere Kamera aus der Versenkung geholt und in die Massenproduktion nach Singapur geschickt: die letzte eigene Voigtländer-Konstruktion aus der Zeiss-Ära, die mittlerweile rund fünf Jahre alte, 1971 vorgestellte Zeiss Ikon SL706, die Nachfolgerin der Icarex. Diese schwere, klobige und im Vergleich grobschlächtig anmutende Kamera, wenn auch mit Offenblendmessung durchs Objektiv zumindest zeitgemäß ausgestattet, war schon unter Zeiss-Regie am Markt gescheitert. Jetzt wurde sie von Rollei erneut als Voigtländer VSL-1 angeboten. Als Rolleiflex SL35M erschien eine Schwesterversion, optisch etwas durch ein abgerundetes Prisma aufgehübscht. Der nicht wirklich attraktive Brocken floppte, wenig überraschend, prompt ein zweites Mal. Nicht besser erging es den innerlich, aber nicht äußerlich überarbeiteten Nachfolge-Geschwistern VSL-2 und Rolleiflex SL35ME mit Zeitautomatik, die zudem Elektronikprobleme hatten.

Jetzt geriet die ganze Rollei-Offensive ins Stocken. Durch die von Heinrich Peesel forcierte Produktoffensive auf allen Kanälen und unrealistische Zeitvorgaben waren die Entwickler völlig überfordert. Etliche Rollei-Produkte wurden unausgereift auf den Markt geworfen oder wiesen konzeptuelle Fehler auf wie die Mini-Kamera Rollei 16, für die kein Filmhersteller Filmmaterial anbieten wollte. Durch die völlig überdimensionierten Produktionsanlagen in Fernost liefen währenddessen die Kosten aus dem Ruder. Auch die 1977 vorgestellte, nun wieder attraktiv geratene Rolleiflex SL35E und ihre Schwester Voigtländer VSL3-E konnten das Blatt nicht mehr wenden. Peesel wurde schon 1974 geschasst, seine Nachfolger agierten ohne Fortune, die Lage wurde zusehends schlechter.

Aber was hat das alles mit dem Rolleinar-MC 1.4 55 zu tun? Einer der besten Gründe, sich für eine Rolleiflex zu entscheiden, waren von Anfang an die Objektive. Konstruiert von Zeiss und Schneider-Kreuznach, gehörten sie zum Besten, was es am Markt gab – schon das Standardobjektiv, das siebenlinsige Planar 1.8 50, ist bis heute zu überragenden Leistungen fähig. Dazu gab es Hochleistungsobjektive wie das Distagon 1.4 35, Planar 1.4 50 oder Planar 1.4 85. Fotografen und Sammlern lecken sich die Finger nach ihnen. Die gängigsten Brennweiten fertigte Rollei ab etwa 1972 in Lizenz auch selbst in Singapur, erkennbar an dem hübschen roten Rollei-Logo im Frontring und der Kennung HFT für die „High Fidelity Transfer“-Vergütung. Allerdings blieben einige Lücken im Angebot. Einige beliebte Brennweiten wurden von Zeiss nie für das Rollei-Bajonett angeboten, etwa 20/21 Millimeter, 28 Millimeter, 100/105 Millimeter und alles über 200 Millimeter (die gab es bei Zeiss alle erst später in der Contax/Yashica-Ära). Auch auf die immer beliebter werdenden Zooms mussten Rolleiflex-Nutzer vorerst verzichten.

Was Rollei außerdem fehlte, waren billige Objektive für den Massenmarkt. Dieses Angebot hatte von Schneider-Kreuznach kommen können, doch die drei 1970 zur Rolleiflex SL35 angebotenen Objektive Angulon 2.8 35, Xenar 1.8 50 und Tele-Xenar 3.5 135, allesamt alte Bekannte, wurden kein Erfolg. Schneider zog sich danach aus dem Markt für Kleinbildobjektive zurück und beteiligte sich auch nicht, wie von Rollei gehofft, an der Fabrik in Singapur, die ursprünglich „German Optical“ heißen sollte. Enna München, ebenfalls ein in die Krise geratener Objektivhersteller, hat offenbar noch eine Mini-Serie 28-Millimeter-Weitwinkel mit QBM-Bajonett vorgestellt. Auch er zog sich aber vom Markt zurück. Rollei stand alleine da.

Um auf die dringend nötigen hohen Stückzahlen zu kommen, brauchte Rollei neben den fehlenden Brennweiten offenbar unbedingt eine Preisgünstig-Linie. Die Zeiss-Objektive sollten zweifellos Premiumlinsen bleiben. Offen bleibt die Frage: Warum baute man in so einer Situation die Billigobjektive nicht einfach selbst, statt sie für teures Geld einzukaufen? Hatte man keine geeigneten Konstruktionspläne zur Hand? Im Konzernregal lagen noch die ab 1965 zur Icarex-Kamera angebotenen, alten Bessamatic-Objektive wie Skoparex 3.4 35, Skopar/Tessar 2.8 50 oder Dynarex 3.4 90. Sie stammten konstruktionstechnisch noch aus den späten 1950er Jahren und wären jetzt, Mitte der 1970er, wohl nicht mehr auf großen Zuspruch gestoßen. Einzig das alte Voigtländer Super-Dynarex 4 135 erfreute sich in neuer Rollei-Hülle als Carl Zeiss/Rollei Tele-Tessar 4 135 oder unter seinem alten Namen größerer Beliebtheit. Es war das meistgekaufte Zusatzobjektiv und sollte noch bis in die 1980er Jahre angeboten werden, zuletzt zur Rollei SL2000/3000.

Vielleicht lief Rollei einfach die Zeit davon: Schnell eine eigene, moderne Objektivreihe aus dem Boden zu stampfen, hätte wohl einfach zu lange gedauert. Die hauseigene Objektiventwicklung von Voigtländer scheint nach dem grandiosen Icarex-Ultron 1.8 50 keine Neukonstruktionen mehr gerechnet zu haben, bis Zeiss-Ikon das Unternehmen an Rollei übergab. Wurde diese Abteilung von Rollei einfach wegrationalisiert? Blieben die Ingenieure bei der Konzernmutter Zeiss? Wenn dem so war, rächte sich für Rollei die Abhängigkeit von Zeiss nun womöglich.

So oder ähnlich mag es gekommen sein, dass der im April 1975 nach achtmonatiger Vakanz an der Unternehmensspitze eingestellte Nachfolger Peesels, der frühere Canon-Manager Peter C.J. Peperzak, mit dem japanischen Hersteller Mamiya Kontakt aufnahm. Er bestellte eine komplette Objektivfamilie samt Fischauge, 200er und Zoom-Objektiven, die Rollei dann unter eigenem Namen als „Rolleinar-MC“ und „Voigtländer AR“ anbot. Gegenüber den Zeiss-Objektiven sind sie gut zu unterscheiden an den auffälligen eingravierten Brennweitenangaben in geschwungener gelber Schrift, die sehr der auf den Leica-Objektiven dieser Zeit ähnelt. Auf ihrer Rückseite steht „Made in Japan“. Immerhin war nun mit den Brennweiten 14, 21, 28 und 105 Millimetern das ehemalige Zeiss-Angebot sinnvoll ergänzt. Andere Brennweiten wie 35, 85, 135 und 200 Millimeter waren dagegen jetzt bis zu dreifach besetzt, wobei die – im übrigen optisch hervorragenden – Mamiya-Rolleinare als Einsteigermodelle angeboten wurden. Im Normalbereich gab es mit den Zeiss-Planaren 1.4 50 und 1.8 50 sowie den Rolleinaren 1.4 55 und 2.0 50 sogar gleich vier Objektive zur Auswahl. Und mit den gleichzeitig bei Tokina zugekauften Zoom-Objektiven 4 28-85, 3.5 35-105 Macro (später 3.5-4.3 35-105 Macro) und dem klassischen 4 80-200 hatten auch Vario-Fans ein Argument, sich für eine Spiegelreflexkamera von Rolleiflex/Voigtländer zu entscheiden.

Aber was für eine bizarre Situation: Ein Kamerahersteller hat sich eine nagelneue riesige Fabrik für Tausende von Arbeitern gebaut, die nur zu kleinen Teilen ausgelastet ist und deren Betrieb ihn allmonatlich ein Vermögen kostet. Und bezahlt dennoch Konkurrenten dafür, Objektive in großen Stückzahlen zuzuliefern. Erst 1979 bemühte sich Rollei darum, die ungenutzten Produktionskapazitäten durch Fremdaufträge besser auszulasten, was aber kaum noch zum Tragen kam. Es gibt tatsächlich Mamiya-Rolleinare mit dem Aufdruck „Made in Singapore“. Ob sie als Fremdaufträge aus Japan dort gebaut wurden, entzieht sich meiner Kenntnis, große Stückzahlen liefen aber offenbar nicht mehr von den Rollei-Bändern.

Die Rollei-Chefs werden aus ihrer Sicht nachvollziehbare Gründe für dieses Konstrukt gehabt haben, erklärbar ist es aus heutiger Sicht aber eigentlich nur durch blanke Zeitnot, gravierende Konzeptmängel in der eigenen Produktpalette – oder schlichte Kopflosigkeit. Und den Rollei-Konkurs 1981 hat es nicht verhindert. Peperzak, der Initiator des Mamiya-Abenteuers, musste schon 1978 gehen. Kurze Zeit später kam die Insolvenz.

Nach diesem Exkurs in das turbulente letzte Jahrzehnt eines großen deutschen Kameraherstellers wieder zurück zum Rolleinar-MC 1.4 55. Es hat, wie kürzlich beschrieben, ebenfalls eine bewegte Geschichte. In seinem Inneren steckt eigentlich das alte Planar 1.4 55, von Johann Berger 1959 für die Zeiss-Spitzenkamera Contarex gerechnet. Zeiss hatte das entsprechende Patent auslaufen lassen, da das neue Planar 1.4 50 des genialen Erhard Glatzel von 1972 in jeder Hinsicht besser war. Rollei konnte die fast 20 Jahre alte Konstruktion nachbauen lassen, ohne Lizenzgebühren zu zahlen.

Und so steht es hier vor uns: 1975 als billige Alternative zum neuen Zeiss-Planar 1.4 50 angeboten, war es eine schon damals ältere Konstruktion. Auf dem Papier kann es mit beeindruckender Lichtstärke aufwarten, aber in der Praxis überstrahlt es bei Blende 1.4 doch arg. Abgeblendet wird es hervorragend scharf und das Bokeh ist von beeindruckender Cremigkeit – heute schätzte man solche Objektive wieder sehr als „Charakterlinsen“. Damals sollte es den preisbewussten Kunden ansprechen.

Warum aber baute Rollei dann nicht zumindest dieses Objektiv in den eigenen Hallen in Singapur? Es war immerhin ein hochlichtstarkes Normalobjektiv, eines also, mit dem viele SL35E und VSL3-E ausgeliefert würden. Und es war – im Gegensatz etwa zu den von Mamiya konstruierten Rolleinaren 2.8 105 oder dem 3.5 200 – eine komplett „eigene“ Konstruktion, über die man selbst verfügen konnte. Ebenso übrigens wie das ebenfalls neu hinzugekommene lichtschwache Einsteigerobjektiv der Rolleinar-Serie, das 2.0 50, das wohl ebenfalls auf ein altes Zeiss-Planar zurückgeht. Stattdessen aber ließ Rollei auch diese beiden Objektive in Japan herstellen.

Und um die Sache weiter rätselhaft zu machen, ist sogar auf den Schaubildern in den Betriebsanleitungen beider Kameras stets das Rolleinar/Voigtländer 1.4 55 abgebildet. Ja genau, das zum überwiegenden Teil vom Konkurrenten Mamiya aus Japan zugelieferte Objektiv und nicht etwa das in der eigenen Fabrik in Lizenz gebaute, viel modernere und leistungsstärkere Rollei-Planar 1.4 50 HFT! Mehr noch: In der Betriebsanleitung werden als Wechselobjektive nur die japanischen Rolleinare erwähnt, als gäbe es die eigenen, hochwertigeren Zeiss-Lizenzbauten gar nicht. War die Begeisterung für die zugekauften Mamiyas so groß, dass man die eigenen Produkte unter den Tisch fallen ließ?

Doch es geht noch weiter. Mein Exemplar des 55ers trug nämlich nicht den ovalen goldenen „Passed“-Aufkleber des Japan Camera Inspection Institute (JCII), der noch heute auf so vielen Objektiven und Kameras aus den 1970er Jahren klebt und die bestandene Qualitätsprüfung signalisiert. Mein Rolleinar ist auch nicht „Made in Singapore“, wie es die Positionierung am Markt als günstiges Standardobjektiv hätte vermuten lassen. Es ist, weshalb auch immer, „Made in Germany“ (nicht „West Germany“ wie mein Voigtländer Color-Ultron). Warum – tja, das bleibt wohl ewig ungelöst. War es eine Vorserie, bevor die Produktion an Mamiya übergeben wurde? Eine Nachproduktion nach dem chaotischen Ende des Fernost-Abenteurers? Ein Billigobjektiv mit deutschen Premium-Wurzeln, das sinnvollerweise in Singapur hätte gebaut werden können, stattdessen aber serienmäßig meist von einem Konkurrenten aus Japan kam, existiert in einer im Hochlohnland Deutschland zusammengeschraubten Variante. Geht es noch bunter?

Die Geschichte der Katastrophe der bundesdeutschen Fotoindustrie in den 1970ern ist voller Dramen. Es gab mutige Entwürfe und technische Höchstleistungen, katastrophale Fehlentscheidungen und versäumte Gelegenheiten, es gab kundenfeindliche Bräsigkeit und unternehmerischen Größenwahn, Spitzenprodukte und Schrott ab Werk. Es gab heute längst vergessene Kameras wie die zu späte Edixa Electronica, die einsame Regula Reflex, die gescheiterte Exakta Real und die Rolleimatic, bei der schon die Präsentation zum Desaster wurde. Es gibt noch heute berühmte Superobjektive wie das Zeiss-Distagon 2 28 (genannt „Hollywood“, weil Filmregisseure es lieben) und das hochwertige Shift-Objektiv Schneider PC-Curtagon 2.8 35.

Und am Rande des Schlachtfeldes, unbemerkt in den Schatten, blühen so seltsame Orchideen wie das Rolleinar-MC 1.4 55 aus Germany. Nicht das beste Objektiv aller Zeiten, nicht einmal ein besonders herausragendes Objektiv zu seiner eigenen Zeit, aber ein bemerkenswerter Sonderling. Und mit seiner buntgescheckten Biographie durchaus typisch für die chaotische Epoche, in der er entstand.


Heimkehr nach Trollhättan

Seit gut zwei Jahren bringt mich Bengt durch den Alltag, ein Saab 900 der zweiten Generation. Und auch wenn mich sein Verbrauch nicht restlos glücklich macht, Automatik, Klimaanlage und Autogasanlage fordern ihren Triple-Tribut , bin ich fahrtechnisch mit ihm nach 50.000 pannen-, wenn auch nicht reparaturfreien Kilometern durchaus zufrieden. Dafür hatte er sich eine Belohnung verdient: Als jetzt ein Schwedenurlaub anstand, gab’s einen Abstecher in die Heimat der Saabs, nach Trollhättan nördlich von Göteborg.

Das Saab Car Museum an der Åkerssjövägen 18 wird privat betrieben, ist folglich nicht allzu groß und nicht mit den offiziellen Werksmuseen etwa von BMW in München oder Mercedes in Stuttgart vergleichbar. Wer Fan der verblichenen schwedischen Automarke mit den skurrilen Autos ist, dem geht hier aber das Herz auf.

Rund 120 Fahrzeuge stehen hier in der Halle in der ehemaligen Nohab-Lokomotivfabrik im Technologiepark Innovatum. Die Sammlung sollte nach der endgültigen Saab-Insolvenz öffentlich versteigert werden, aber mit Unterstützung der schwedischen Großindustriellen-Familie Wallenberg konnte sie gerettet und als Ganzes wieder der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden.

Fotografisch begleiten durfte mich nach Trollhättan ein einziges Objektiv, das Schacht Ulm Travelon 1.8 50. Mit einem 50-Millimeter-Objektiv in ein Automuseum zu gehen, wo man sicher auch hervorragend mit dem Ultraweitwinkel spielen kann, mag eine etwas seltsame Idee sein. Für mich schließt sich damit ein Kreis, der im September 2015 mit dem Besuch des BMW-Museums begonnen hatte.

Damals hatte ich in München meinen Cousin Frank besucht, den ich davor jahrzehntelang nicht gesehen hatte. Als der Kontakt kurz zuvor wieder aufgelebt war, musste ich erfahren, dass er an Krebs erkrankt war. Ich wollte ihn unbedingt treffen und er lud mich ein, in seinem leeren Appartement zu wohnen, was ich auch tat. Seine Krankheit erlaubte nur eine kurze, aber um so emotionalere Begegnung im Krankenhaus.

Auf seine Empfehlung – er war selbst Autofan, besaß mehrere historische Geländewagen vom Typ VW Iltis – besuchte ich am Tag darauf das BMW-Museum und war schwer begeistert von den Fahrzeugen, der Art ihrer Präsentation – und den Fotos, die meine Kamera mit einem alten Canon FD 1.4 50 gemacht hatte. Es stand irrtümlich fest auf Offenblende, was den Bildern einen 3D-Effekt verlieh, wie ich ihn zuvor nicht kannte. Es war mein fotografisch bis dahin schönstes Erlebnis. Zugleich beflügelte in diesen Sommertagen die Welle der Hilfsbereitschaft in Deutschland während der anschwellenden Flüchtlingskrise meine Stimmung.

Frank überlebte seine Krankheit nicht, er starb im Frühjahr darauf. Trotz der Trauer blieb mir ein Gefühl der Dankbarkeit, ihn vor seinem Tod noch einmal getroffen haben zu dürfen. Wenn ich heute mit einem 50er-Objektiv in einem Museum Autos fotografiere, denke ich an die Begegnung von damals zurück.

Sonniger Samstag im Städtchen

Ein Spaziergang durch Aachen. Mit dem Carl Zeiss Ultron 1.8 50 (Icarex) und dem Meyer Optik Görlitz Orestor 2.8 100 (sechs Lamellen). Klickt auf das erste Bild, um die Galerie-Ansicht zu starten.

Ist doch eine schöne Gegend, in die ich mich da habe verschlagen lassen…

Lost Place

Auf eines der Bilder klicken, um die Galerieansicht zu starten.

Alle Bilder: Rollei Distagon 2.8 35 HFT, Planar 1.4 50 HFT, Sonnar 2.8 135 HFT an Sony A7II.

Von Biotaren und Biografien

Das Biotar 2 58 von Carl Zeiss Jena ist einer der Klassiker in der Geschichte der Fotografie. Schon 1946, gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ging das berühmte Standardobjektiv der Vorkriegszeit wieder in die Produktion. Die Konstruktion mit sechs Linsen erhielt eine neue Fassung und – je nach Ausführung – vergütete Gläser, die gegen Streulichteinfall immun machen sollten.

Mit einer Offenblende von f2.0 ist es für die 50er Jahre sehr lichtstark. Fotografen lieben den spiralförmigen Schwurbel-Effekt – auch „Swirly Bokeh“ genannt – bei unruhigem Hintergrund, etwa Baumkronen oder Gebüschen. Spitzlichter im Hintergrund werden zu Ellipsen – „Cat’s Eyes“ – und arrangieren sich in Kreisform um das Hauptmotiv. Könner können so regelrechte Heiligenscheine erzeugen.

Doch auch wenn gerade kein Frauenkopf vor Parklandschaft zur Hand ist: Mich fasziniert das nachdrückliche Rendering der Biotar-Bilder. Was für eine Schärfe, was für ein ganz eigener Charakter! Fast scheint mein Bengt aus den Bildern herausgefahren zu kommen.

Es ist ja Außenstehenden nicht leicht zu erklären, warum man alte Objektive sammelt. Und zwar gleich Dutzende, von jeder Brennweite mehrere Modelle und Ausführungen. Ich habe heute inzwischen alleine fünf 35-mm-Flektogone, (noch) sechs 135-mm-Sonnare ost- und westdeutscher Herkunft, eine Handvoll Tessare aller möglichen Brennweiten, fast alle erhältlichen Prakticare, mehrere Distagone, etliche Meyers, Rolleis und wie sie alle heißen.

Und wie sie heißen! Es gibt Primotare und Primagone, Primoplane, Pancolore und Planare, Pentacons und Prakticars, Orestors und Orestons, Orestegors und Orestegons, Tessare und Teletessare, Telemegore und Telefogare, Trioplans und Triotare. Und jedes macht andere Bilder, jedes hat seine Vorzüge und Schwächen. In den nächsten Jahren möchte ich sie alle nach und nach kennenlernen.

Das Zeiss-Biotar, mit dem am Sonntag diese Bilder von Bengt und der Schwurbelblume am Rande der Tihange-Menschenkette entstanden, ist so ein Vertreter für einen ganz eigenen Bildcharakter (alle JPGs direkt out of the cam, ohne Nachbearbeitung). Haben diese Fotos nicht etwas ganz Spezielles? Etwas geradezu brennend Nachdrückliches?

Aufgenommen mit fast ganz offener Blende 2.4, ist die Schärfe in der Bildmitte auch heute noch absolut ausreichend. Aber der Hintergrund! Den kriegt keine moderne Linse so hin. Diese Mischung aus Verschwommenheit, Sich-ums-Motiv-herum-Krümmen, von leichtem Schwurbel und dem ganz speziellen Kontrastbild der 50er-Jahre: Das kann nur ein Biotar (und natürlich seine russische Kopie, das Helios).

Mein Biotar mit M42-Gewinde war das erste historische Objektiv, dass ich mir vor einem Jahr von Foto Olbrich in Görlitz habe aufbereiten lassen. Es war ein Schlüsselerlebnis für mich, es danach wieder hin der Hand zu halten, vor knapp einem Jahr. Eine neue Welt tat sich auf.

Kann man von solchen Effekten genug kriegen? Heute kam ein neues Biotar mit der Post. Eine andere Ausführung, mit schnell wechselbarem Exakta-Bajonett statt des M42-Gewindes. Gut zwei Stunden habe ich heute Abend an dem anfangs eher unansehnlichen Alukorpus herumpoliert und -gewienert, bis er halbwegs vorzeigbar war. Man sieht ihm die rund 60 Jahre durchaus an, die er schon durch Fotografenhänden gewandert ist. Doch die Linsen sind klar und scharf wie am ersten Tag. Keine Kratzer, keine Schlieren, kein Nebel und kein Objektivpilz.

Ich habe mich entschieden: Auch wenn der Blendenring etwas verschrammelt und ein wenig schwergängig ist, der Fokusring ein bisschen trocken läuft, reichlich Staubflusen zwischen den Linsen sitzen und der eine oder anderer Kratzer den Tubus ziert, werde ich es behalten. Schon wegen des roten „T“ auf dem Zierring, der auf die aufpreispflichtige, begehrte Vergütung hinweist. Ich werde es bei Olbrich zerlegen, reinigen, neu justieren und zusammenbauen lassen. Und danach wird es ein samtiger Genuss sein, damit Bilder zu machen, so wie mit dem ersten Biotar oder seinem Bruder, dem Alu-Flektogon 2.8 35.

Da liegt es, mein neues Biotar. Bios heißt Leben. Der Name lässt Gedanken aufkommen – wenn Objektive Biografien hätten, was wäre darin zu lesen? Was für Bilder mag dieses Objektiv schon gemacht haben? Die volle Bezeichnung „Carl Zeiss Jena“ und das „T“ statt eines „V“ deutet auf einen Verkauf in der DDR hin. Hat man damit Menschenporträts gemacht, Landschaftsaufnahmen, Technisches oder Blumenbilder? Hat seinerzeit ein Profi dieses in der Nachkriegszeit extrem teure Hochleistungsobjektiv gekauft? Oder ein reicher Amateur, der es kaum benutzt hat?

Wie oft spiegelte sich wohl schon das Bild einer schönen Frau vor dieser Linse? Vielleicht sogar das eines Aktmodells? Oder das eines gutaussehenden Mannes, den eine der wenigen Fotografinnen der Nachkriegsjahrzehnte abgelichtet hat? Eher eines Malochers mit verwittertem Gesicht im Rahmen einer Sozialstudie? Bilder wie die von Gundula Schulze Eldowy? Oder war es eher Industrieromantik, das den Menschen am Auslöser faszinierte? Rauchende Dampflokomotiven, qualmende Fabrikschornsteine? Der Aufbau des Sozialismus in den Anfangsjahren der noch jungen DDR?

Und später dann, hat der Mensch hinter dem Objektiv den Verfall dokumentiert? Subversive Bilder gemacht, die nicht gezeigt werden durften? Von leeren Läden, abblätterndem Putz, gähnenden Fensterhöhlen? Bilder wie die von Siegfried Wittenburg, von Harald Hauswald oder von Gerd Danigel? Oder lagen die Fotos auf Systemlinie? Marschierende NVA-Soldaten im Stechschritt? Plattenbauten, Industriekombinate, davor Reihen ordentlich geparkter Wartburgs, Trabants und Ladas?

Der polierte Aluminiumzylinder erzählt seine Geschichte nicht. Kein Speicherchip lässt sich auslesen, kein Zählwerk verrät auch nur die Anzahl der Auslösungen, die Mechanik schweigt – und funktioniert. Es müssen viele Hundert oder Tausend Filme gewesen sein, die durch diese Glaslinsen Bild für Bild belichtet wurden. Und das Objektiv funktioniert immer noch, hätte nur allmählich gerne einmal etwas neues Schmierfett, dankeschön.

Was für Bilder wird es noch machen, in den kommenden Jahren an meiner Digitalkamera? Ich hoffe, nicht die schlimmsten seiner Karriere. Immerhin eines hat sich geändert im Jahr 2017: Alles ist transparent. Wie gut oder schlecht die Fotos sein mögen, die ich und andere nach mir mit diesem Biotar machen mögen, im Internetzeitalter müssen die Abzüge nicht in irgendwelchen Schubladen verschwinden. Wenn etwas Brauchbares dabei sein sollte: Ihr werdet es hoffentlich erfahren.

Willkommen, Biotar, in meiner Sammlung. Willkommen in meiner fotografischen Biografie.