Mitfahrgelegenheit VIII: Das Duo

„Am Hauptbahnhof“ lautet eine häufige Antwort, wenn ich meine abendlichen Mitfahrer frage, wo in der Domstadt Köln ich sie absetzen darf. Ich bemühe mich dann stets, möglichst zartfühlend zu erklären, warum ich als Südrandlagenbewohner wenig Neigung verspüre, im Abendverkehr nochmal eben schnell mitten ins Herz der Millionenstadt zu fahren. Für die Nichtkölner unter euch aber gerne hier die Erklärung in der Langversion: Köln ist groß. Sehr groß sogar. Selbst von der günstigsten Autobahnabfahrt aus dauert es je nach Verkehrsdichte mindestens 20 bis 40 Minuten zum Bahnhof – und zwar pro Fahrt. Ich käme also im günstigsten Fall 40 Minuten später nach Hause, im ungünstigsten fast anderthalb Stunden. Selbst für einen Extra-Euro hängt da die Money-Life-Balance in einer gewissen Schieflage. Also werfe ich 95 Prozent meiner Mitfahrer an der Straßenbahnhaltestelle Sülzgürtel ab, von wo aus die Linie 18 sie in einer knappen Viertelstunde ohnehin schneller zum Hauptbahnhof bringen kann als ich mit dem Auto.

Es gibt aber auch Ausnahmen, und von einer möchte ich jetzt erzählen. Im letzten Winter war es, und zwar im letzten richtigen Winter – also nicht im Dauerfrühling 2013/14, sondern in der Zwischeneiszeit 2012/13, als ein nicht enden wollendes halbes Jahr lang sich eine wochenlange Schnee- und Kältewelle mit der nächsten abwechselte. Die A4 war ein 60 Kilometer langes, permagefrorenes Eis- und Matschband und ich so froh wie noch nie im Leben, mir die besten Winterreifen gekauft zu haben, die es für Geld zu kaufen gab. Zwei Glatteisunfälle ereigneten sich in ebendiesem Winter auf ebendieser Autobahn just vor meinem Kühlergrill, die Zahl der von der Straße gerutschten Autos weiß ich nicht mehr.

In diesem Winter also, an einem rasch dunkler werdenden Nachmittag – es fielen schon wieder dicke Flocken auf die in den vergangenen Wochen immer weiter verdickte Schneedecke – buchte ein Mitfahrer. Zwei Plätze, für die Fahrt ab 19 Uhr von Aachen nach Köln.

Schon zum Treffen am Bahnhof Rothe Erde erschien ich etliche Minuten zu spät, weil es so lange dauerte, auf dem Firmenparkplatz die Autoscheiben vom Eis freizukratzen und anschließend über die glatten und zugleich verstopften Straßen hinzukommen.

Am Bahnhof warteten ein Afrikaner von etwa Mitte Vierzig und ein Mitteleuropäer, der noch ein paar Jahre mehr auf dem Buckel hatte und kein Wort sagte. „Er ist taubstumm“, erklärte mir der Afrikaner, während er vorne Platz nahm. Ich gestikulierte ein „bitte Anschnallen“ in Richtung Rückbank, was der Mann mit einem Daumen-Rauf-Zeichen quittierte und der Bitte folgte. So machten wir uns vorsichtig auf den Weg – im Schleichtempo.

Auch auf der Autobahn ging die Sache kaum schneller vonstatten. Der Schneefall wurde immer heftiger, mittlerweile war es auch stockdunkel geworden. Fahren war fast nur auf der rechten Spur möglich, wo sich eine langsame Kolonne mühsam ostwärts quälte. Wann wir wohl da sein würden, erkundigte sich der Mann auf dem Beifahrersitz besorgt. Normalerweise brauche ich für die Fahrt rund 40 Minuten; doch diesmal würde das kaum zu schaffen sein, erklärte ich. Was ein Problem war: Es stellte sich heraus, dass mein Mitfahrerduo um 20 Uhr eine Verabredung zur Weiterfahrt hatte. Am Kölner Hauptbahnhof. Nach Frankfurt. Und damit nicht genug: Von dort aus sollte es mit einer dritten Mitfahrgelegenheit nach München weitergehen, danach schließlich mit einer vierten zum endgültigen Ziel nach Augsburg.

Ich war halb beeindruckt vom Organisationstalent, halb mitleidig ob der grenzenlosen Zuversicht meiner Passagiere, dass diese Kette von vier eng getakteten Gelegenheitstaxifahrten auch halten würde. Hilfreich, wie ich bin, machte ich einen Vorschlag: Da jeder Fahrer vom Kölner Hauptbahnhof aus in Richtung Frankfurt über den sogenannten Verteilerkreisel an der Bonner Straße würde fahren müssen, bot ich an, das Duo dorthin zu bringen, was allen Beteiligten wertvolle Zeit sparen würde. Mein Fahrgast willigte ein und rief den Zweitfahrer an, um den neuen Treffpunkt vorzuschlagen. Und dann riss schon das zweite Glied der fragilen Kette: Ach, es sei doch so schlechtes Wetter, antwortete Fahrer Nummer Zwei, also da habe er spontan beschlossen, lieber mit dem Zug zu fahren.

Auf dem Weg von Aachen nach Augsburg bei heftigem Schneefall schon in Köln zu stranden, ist kein schönes Schicksal. Doch mein Mitgefühl wich schnell blankem Staunen. Mein Mitfahrer legte das Handy – es war ein älteres Nokia ohne jegliche Internetfunktion – nicht aus der Hand, rief sofort jemand anderen an und begann in einer mir fremden Sprache Instruktionen auszugeben. Es war sein Bruder, der zuhause am Computer umgehend begann, andere mögliche Mitfahrgelegenheiten herauszufinden. Die so aus Mitfahrbörsen herausgefischten Nummern wurden wiederum von meinem Auto aus angerufen – und binnen kürzester Zeit hatte mein Freund sich eine alternative Anschlussverbindung herbeiorganisiert, ganz ohne Internet.

Beeindruckt war ich dabei, wieviele Sprachen der Mann beherrschte. Deutsch sprach er mit mir, Suaheli mit seinem Bruder, Englisch mit einem der anderen Mitfahrer. Portugiesisch und Französisch könne er auch, erklärte er mir, als ich ihn auf seine Sprachfertigkeit ansprach.

Wer gelegentlich in diesem Blog mitliest, könnte den Eindruck gewinnen, dass ich es auf Afrikaner abgesehen habe, so oft tauchen sie in meinen Geschichten auf. Dafür kann ich nichts – es stammen halt vergleichsweise viele meiner Passagiere von diesem Kontinent. Seit ich Mitfahrgelegenheiten anbiete, habe ich mehr Menschen mit dunkler Hautfarbe kennengelernt als in allen vorhergehenden Jahrzehnten meines Lebens zusammen. Und dass der eine oder andere von ihnen die eine oder andere skurrile Anekdote für dieses Blog beigesteuert hat, macht sie in ihrer Gesamtheit nicht unsympathischer, im Gegenteil. Vor dem Mitfahrer dieses Abends empfand ich jedenfalls so etwas wie Hochachtung.

Unterdessen näherten wir uns dem Autobahnkreuz Köln-West. Es war bereits 19.40 Uhr und damit klar: Am Hauptbahnhof, von wo aus auch der Ersatzfahrer losfahren wollte, würden die beiden mit der Straßenbahn auf keinen Fall mehr rechtzeitig ankommen. Und weil es anders gar nicht zu schaffen gewesen wäre, entschied ich mich, einmal eine Ausnahme zu machen und sie doch zum Hauptbahnhof zu fahren.

Zumindest abends, wenn die Straßen freier sind, kommt man auf der Rheinuferstraße halbwegs gut in die City. Sogar bei Schneefall. Machen wir es kurz: Wir schafften es. Um kurz vor 20 Uhr kurvte ich auf den Kreisverkehr am Breslauer Platz hinter dem Kölner Hauptbahnhof ein. Mein Mitfahrer bedankte sich in aller Eile und drückte mir einen Zehner in die Hand, der Mann von der Rückbank machte nochmal sein Daumen-Rauf-Zeichen. Dann entschwanden beide in die Nacht.

Ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört. Ich weiß nicht, ob sie in dieser Nacht Augsburg noch erreicht haben. Aber als ich über die verschneiten Kölner Straßen stadtauswärts nach Hause fuhr, empfand ich ein warmes Gefühl der Zufriedenheit: Falls es nicht geklappt haben sollte, hatte es jedenfalls nicht an mir gelegen.

Das ist eine der vielen schönen Seiten am Mitfahrenlassen. Manchmal besteht der Lohn in mehr als nur einem Stück Papier im Portemonnaie.

Mitfahrgelegenheit VII: Näher, mein Gott, zu dir

Haben wir Vorurteile? Ressentiments gegenüber Ausländern, Andersfarbigen oder sonstigen Mitbürgern, die nicht so aussehen wie wir? Was für eine Frage, natürlich nicht!

Aber was schießt uns durch den Kopf, wenn nachts um halb Elf an einer Tankstelle zwei schwarze Männer zu uns ins Auto steigen? Also keine depressiven Teenager in emo-schwarzen Klamotten, sondern echte, afrikanischstämmige Erwachsene? Wer schon ein paar hundert Menschen aus allen Kontinenten von A nach K gebracht hat, der ist vielleicht gegenüber neuen Mitfahrern aus anderen Erdteilen tendenziell einen Hauch entspannter als jemand, der noch die in der Kindheit eingehämmerte Reserviertheit gegenüber fremden Männern im Kopf hat. Von der sprichwörtlichen Furcht vorm schwarzen Mann aus dem Kinderspiel ganz zu schweigen.

Trotzdem muss ich gestehen, dass mir blitzartig die Frage durchs Hirn ging, wie die heutige spätabendliche Heimfahrt wohl verlaufen würde. Der auf den Beifahrersitz kletternde Mitfahrer, der die Fahrt gebucht hatte, hatte am Telefon nicht überströmend herzlich geklungen – ein Eindruck, der sich beim Anbordgehen des Duos nicht wesentlich änderte. Sein Kompagnon machte einen aufgeräumteren Eindruck. Nachdem beide meiner Bitte nachgekommen waren, sich anzuschnallen, rollten wir los. Vor uns 65 nachtschwarze Kilometer bis Köln.

Die ersten zehn Minuten verflossen ereignislos – unterbrochen nur durch ein Handytelefonat des Vornesitzenden in jener fließenden Mischung aus Deutsch und Französisch, die so viele Afrikaner zu sprechen scheinen. Der junge Mann auf der Rückbank erkundigte sich höflich nach dem Typ meines Mercedes; wir wechselten ein paar Sätze über Vor- und Nachteile der älteren und neueren Modelle aus Stuttgart.

Schließlich kam von hinten der Satz, der dem Abend eine gänzlich unerwartete neue Drehung gab. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie so frage, aber: Glauben Sie an Gott?“

Auch wenn das grundsätzlich keine völlig abwegige Frage ist – auf stockfinsterer Autobahn habe ich sie noch nicht gestellt bekommen. Waren das Missionare? Ich verdrängte den Gedanken an die Umstände, unter denen im Film „Pulp Fiction“ Jules Winnfield alias Samuel L. Jackson Hesekiel (25:17) zitiert. Zögernd gab ich den Herren Einblick in meine Sichtweise auf Schöpfer und Schöpfung. Und siehe, es stellte sich heraus, dass sie Studenten waren, Studenten aus Bonn. Studenten der Theologie.

Vor fremden Menschen im Auto habe ich meine Scheu mittlerweile weitgehend abgelegt. Gegenüber religiösen Zeitgenossen bin ich noch nicht ganz so ungezwungen im Umgang. Doch die Unterhaltung gewann mit jedem Kilometer an Tiefgang: Von der grundsätzlichen Frage nach der Existenz Gottes kamen wir auf die Rolle des Glaubens im Alltag und zur Bedeutung der Nähe zu Gott. Schließlich erläuterte der Mann auf dem Beifahrersitz die Bedeutung, die Jesus‘ Kreuztod für uns Menschen hatte: Galt zur Zeit des Alten Testamentes noch, dass verdammt war, wer auch nur eines von Gottes Geboten gebrochen hatte, so genießt der Mensch seit Jesus‘ Tod die Gnade, auch als Sünder die Vergebung Gottes erlangen zu können. Und nur Jesus als Mensch gewordener Gott konnte auf diese Weise unsere Sünden aufheben, denn: „Er war das perfekte Opfer, das perfekte Lamm, weil er ohne Fehler war.“

Ich staunte. So schön, so verständlich hatte mir noch niemand erklärt, warum sich Gottes Sohn ans Kreuz hatte schlagen lassen müssen. Was ich auch zugab. Worauf von der Rückbank kam: „Ich habe das aber auch noch nie so toll gehört.“ Wir lachten alle.

Als wir in Klettenberg von der Autobahn fuhren, war meine Stimmung ins Nachdenkliche geschlagen. Wenn es einen Gott gibt, wie kann man seine Nähe suchen? Lässt er sich um Rat fragen? Bietet er Hilfe bei Entscheidungen, vor denen wir ratlos sind?

Ein paar Minuten später stoppten wir an der Straßenbahnhaltestelle Sülzgürtel. Ich verzichtete auf das Fahrtgeld. Zum einen, weil mir die Denkanstöße der vergangenen halben Stunde mehr wert waren. Zum anderen, weil ich mich ein wenig schämte: dass ich, als die Jungs in meinen Wagen stiegen, als erstes nicht an Theologiestudenten gedacht hatte.

Mitfahrgelegenheit VI: Der Freund

Ich habe mir angewöhnt, meine Mitfahrer gleich nach der Kontaktaufnahme mit Namen im Telefonbuch zu speichern. Das ist hilfreich, wenn sich etwa während der 11.30-Uhr-Redaktionskonferenz nacheinander vier Leute auf der Mailbox für die abendliche Fahrt anmelden, von denen man zweien dann sofort wieder absagen muss, weil der Wagen schon längst voll ist, der dritte einem am Nachmittag per SMS selbst cancelt und man schließlich abends am Bahnhof Rothe Erde auf der Suche nach Nummer Vier ist, der möglicherweise einfach nur auf der falschen Seite des Gebäudes wartet. Es ist also immer gut, zu wissen, wer hinter welcher Nummer steckt.

Außerdem, und das ist fast noch wichtiger, kann man sich kleine Hinweise und Gedächtnisstützen zu den Fahrern wegspeichern. Jener Thorsten etwa, der mich beim ersten Mal versetzt hatte und zur Abfahrtszeit auch auf mehrfaches Anrufen und SMS nicht reagierte, fand als „Thorsten WARNICHTDA“ Aufnahme in die Kontaktwelt meines Schlaufons. Was mir einige Wochen später, als er erneut anrief, um eine Fahrt zu buchen, die Entscheidung leichter machte, das Gesspräch anzunehmen oder nicht. Ist schon blöd, wenn man jemanden anruft, und keiner geht ran, gell, Thorsten?

So hatte ich denn auch gleich eine schlechte Vorahnung, als mich eine SMS informierte, dass Lina (tatsächlicher Name dem Verfasser bekannt) einen Platz auf der abendlichen Fahrt von Aachen nach Köln gebucht hatte, die um 22.20 Uhr nach meinem donnerstäglichen Sport beginnen sollte. Lina erschien als „Lina FÜRFREUNDGEBUCHT“ auf dem Display, und ich erinnerte mich gleich an die Dame mit der wenig einnehmenden Stimme, die erst den Platz sicherte und dann mitteilte, dass es für ihren Freund sei. Ein Blick auf ihre Profilseite bei der Mitfahrzentrale hatte enthüllt, dass sie das Kunststück fertiggebracht hatte, trotz einer ganzen Reihe gebuchter Fahrten nur mit durchschnittlich zwei von fünf Sternen bewertet zu werden. Meist war’s, weil sie nicht zur Fahrt erschienen war oder für jemand anderen gebucht hatte (der dann nicht erschienen war). In meinem Fall war die Mitfahrt ebenfalls nicht zustande gekommen, weil der Freund angeblich den Bus zum Treffpunkt verpasst hatte. Nun ja, kann passieren.

Auch diesmal sollte ich letztlich wieder ihren Freund mitnehmen – ich frage mich in solchen Fällen immer, warum nicht der Herr Partner selbst die Fahrt bucht? Vertrauensbildung geht irgendwie anders. Letztlich kam aber doch noch ein telefonischer Direktkontakt zwischen besagtem Partner und seinem angehenden, zusehends un-enthusiastischer werdenden Chauffeur zustande. So einfach wie sonst war die Sache nämlich nicht: Es gab an jenem Abend das Problem, dass sowohl in Aachen als auch in Köln der Öffentliche Personennahverkehr ruhte. Streikbedingt. Der Mitfahrpartner sah sich folglich außerstande, zu einem meiner üblichen Abfahrtspunkte in Aachen zu kommen, auch zu keinem halbwegs am Weg liegenden. Stattdessen bat er um Abholung bei sich zu Hause. Sowie um Hinbringung zu seinem Zielort, der Burgstraße in Köln – wo auch immer die sein mochte. Obwohl mir solche Extratouren wegen ihres meist immensen Zeitbedarfs nicht sonderlich liegen, erklärte ich mich schließlich bereit, trotz Nach-Sport-Müdigkeit und später Stunde für jeweils einen Extra-Euro den Mann a) an seinem Zuhause in Walheim („das sind echt nur vier Minuten von der Autobahn!“) abzuholen und ihn b) nach Köln zu seiner Freundin (ob es dieselbe war, die die Fahrt gebucht hatte…?) zu transportieren.

Wie man es innerhalb von vier Minuten von der Autobahnabfahrt Lichtenbusch nach Walheim schaffen soll, blieb im Dunkel der Nacht verborgen. Mit einer basismotorisierten C-Klasse ginge das jedenfalls höchstens, wenn sie von vier Porsches gezogen würde. Nach zehn Minuten Fahrt über ländlich-hügelige Schleichwege schließlich fand ich mich um 22.45 Uhr in einer ghettoartigen Hochhauslandschaft wieder, in der pittoresk gekleidete Personen jüngeren Baujahrs auf Skateboards um mein Auto herumrollerten. Die Türen von innen fest verriegelt, informierte ich Mr. Freund über mein Eintreffen. „Ich bin in fünf Minuten bei Ihnen!“, versprach er. Es vergingen ihrer etwa zwölf, innerhalb derer mein Adrenalinspiegel nicht sank. Als ich gerade den Motor anlassen wollte, klopfte es an der Beifahrertür.

Herr Freund nahm Platz und machte zunächst einige Punkte wieder gut, indem er mir spontan etwas Kuchen anbot – was ich allerdings dankend ablehnte, da es mit meiner aktuellen Diät kollidierte. Während wir uns mühsam über Bodenwellen und um verkehrsberuhigende Ausbuchtungen aus dem Ghetto herauskurbelten, hielt Mr. Freund nach einem Kumpel Ausschau, dem er noch etwas zu übergeben hatte. Vielleicht war es mein Kuchen. Zwanzig endlose Landstraßenkilometer und ebenso viele Minuten später erreichten wir schließlich die Autobahnauffahrt Brand – die eigentliche Heimfahrt konnte beginnen. Mister Freund sorgte derweil für die Bordunterhaltung, indem er seinem Handy erst eine Vielzahl von schrillen Piepstönchen entlockte und schließlich eine Reihe endloser Telefonate in einer mir trotz erheblicher Sprechlautstärke unverständlichen Sprache einleitete. Ich halte mich für einen durchaus geduldigen Mitfahrfahrer, aber zwei Dinge schätze ich an meinen Gästen nicht: sich nach dem Einsteigen sofort die Ohren mit Lautsprechern zu verstöpseln – oder im Gegenteil um so lauter stundenlange Telefonate zu führen. Beides stempelt mich zum bloßen Dienstleister ab, dessen Gegenwart man getrost ignorieren kann.

Da ich Mister Freund in die Kategorie von Mitfahrern einsortierte, die das Thema Fahrtvorbereitung eher entspannt angehen, erkundigte ich mich in der ersten Sprechpause nach rund Dreivierteln der Strecke höflich, ob er den Fahrtbetrag passend dabei habe. Er hatte nicht. „Können Sie nicht wechseln?“ Ich verneinte. Kurzzeitig erwog ich einen Zwischenstopp an der Raststätte Frechen, denn nach der Visite in Walheim hatte ich wenig Neigung, stundenlang durch Kölns mitternächtlichen Osten zu schleichen auf der Suche nach einem Etablissement, das erstens noch geöffnet und zweitens willens war, Mister Freund einen Schein klein zu machen. Man hört ja so einiges von der Schääl Sick, und dass die Burgstraße nicht in der Südstadt liegt, sondern im tiefsten Vingst, hatte mir in der Walheimpause bereits ein Blick auf die Skobbler-App verraten. Auch war ich zu meiner schier ins Bodenlose wachsenden Begeisterung mittlerweile im Bilde, dass mich der kleine Abstecher auf die andere Rheinseite mit seinen fast 30 Kilometern hin und zurück bestenfalls eine halbe Stunde kostbare Lebens- und Schlafenszeit kosten würde. Andererseits ist in Streikzeiten ja Solidarität erste Bürgerpflicht.

Es kam, wie es kommen musste. Das künstlerisch inander verschlungene Doppel-Autobahnkreuz Gremberg ist schon bei Tageslicht für Unkölner schwer zu meistern, und wer sich bei Nacht zu sehr aufs Display seines Navis konzentriert, der wird schon am ersten Kleeblatt flugs in Richtung Bonn herauszentrifugiert. Mister Freund muss befürchtet haben, an der nächsten Abfahrt der A559 schlichtweg aus dem Wagen geworfen zu werden, so still wurde er ob meiner Flüche – deren Saftigkeit sogar noch steigerbar war, als mich das Navi nach dem Verlassen der Autobahn nicht wieder auf selbige zurücklotste, sondern über Landstraßen stadteinwärts schickte.

Viele, viele Ampeln, Abzweigungen und Kreuzungen später kurvten wir tatsächlich durch ein schlafendes, bodenwellenreiches Wohngebiet auf der Suche nach einem noch offenen Kiosk („ich muss auch noch Zigaretten kaufen und Sahne“ – eine Einkaufsliste, die meine Fantasie zu tollsten Blüten trieb). Doch, was soll ich sagen? Am Ende der Fahrt bekam ich mein Geld und Mister Freund ein „schönen Abend noch“ nachgerufen, eh er in die Nacht verschwand.

Eine weitere Ehrenrunde am Gremberger Kreuz in Richtung Bonn – meine mittlerweile erlangte Ortskenntnis half immerhin dabei, diesmal direkt wieder zurück auf die Autobahn zu finden – und nur etwa zwanzig zusätzliche Fahrtminuten trat ich, weit nach Mitternacht, todmüde vor der eigenen Haustür auf die Parkbremse. Daheim. Fast zwei Stunden hatte die zweifache Odyssee durchs Aachener und Kölner Umland gedauert.

Ehe ich zehn Minuten später im Bett todmüde die Augen schloss, hatte ich noch die Kraft, einen neuen Kontakt im Telefonbuch anzulegen. Vorname: Freundvonlina. Nachname: NIEWIEDER.

Mitfahrgelegenheit V: Mitgefühl

Sie liegen nicht immer auf dem Sonnendeck des Lebens, die Menschen, die sich zur Mitfahrgelegenheit melden. Viele haben erkennbar gerade mehr Restmonat als Restgeld, manche derbe Probleme am Hals. Da war die Frau auf dem Weg zum Scheidungstermin. Der Auszubildende, der sich die 5 Euro für die Fahrt erst von seiner Schwester abholen musste, weil er nicht an sein Konto herankam. Das Mädchen, das als Zeugin zu einem Prozess vor dem Landgericht Aachen musste. Der ältere Herr, dessen Hände von Parkinson zitterten. Die ausländische Praktikantin, die immense Anwaltskosten zahlen sollte, weil sie – wie von zu Hause gewohnt – TV-Serien aus dem Internet gesaugt hatte. Mit manchen Mitfahrern entwickelt man auf der Fahrt durch den dreiviertelstündigen gemeinsamen Lebensabschnitt regelrecht Mitgefühl.

So wie mit der jungen Frau, die ich gerade am Hauptbahnhof abgeholt habe. Das Handy am Ohr, klettert sie auf den Beifahrersitz, und mir ist sofort klar, dass das da gerade kein verliebtes Geturtel ist. „Warum rufst du mich überhaupt an? Ich habe eine einstweilige Verfügung gegen dich beantragt! Du hast Kontaktverbot zu mir!“ Gestikulierte Begrüßung in meine Richtung, einhändiges Anschnallen. Ich nicke wortlos, schalte die Radiomusik aus, lasse den Wagen an und rolle schon mal los.

„Ich weiß nicht, was mein Anwalt dir geschrieben hat! Lies doch erstmal den Brief!“ – „Wahrscheinlich musst du die Verfahrenskosten bezahlen. Schließlich bist du doch schuld!“ – „Du hast doch beim ersten Mal so getan, als ob du da nicht mehr wohnst, und den Brief zurückgehen lassen!“ – „Ich soll dich in Ruhe lassen!? Du verstößt doch gerade gegen die Auflagen, indem du mich anrufst!“

So geht es weiter. Kein Zweifel, da hat jemand eine wirklich unangenehme Geschichte hinter sich. Die Frau kann höchstens Anfang 20 sein, da ist ein gerichtliches Kontaktverbot gegen den Ex-Partner schon harter Tobak. Was mag der Typ ihr angetan haben, denke ich, während sich der Mercedes seinen Weg über die nächtliche Aachener Heinrichsallee sucht.

Ich werde es nie erfahren. „Sorry, das war nicht für deine Ohren bestimmt“, sagt sie, als das Telefonat nach einigen Minuten abrupt zu Ende gegangen ist. „War ja sicher auch kein angenehmes Gespräch“, murmele ich.

Und das war es auch schon mit dem Dialog zwischen Fahrer und Gast. Auf den nächsten 60 Kilometern bis zum Kölner Sülzgürtel sinkt mein Mitgefühl mit der Dame neben mir in jeder einzelnen der gut 40 sich endlos dehnenden Minuten, in denen sie haarklein ihrer besten Freundin vom Anruf des Ex berichtet.

Mitfahrgelegenheit IV: Gutes Karma to go

Kennt Ihr die Aura von natürlicher Autorität, die ein echter Kapitän verströmt? Diese unerschütterliche, fels-in-der-brandungshafte Selbstsicherheit, der man als Passagier ohne zu Zögern sein Leben anvertrauen würde?

Als ich vorgestern meine beiden Mitfahrer – eine afrikanischstämmige Dame und einen Herrn aus irgendeinem Mittelmeeranrainerstaat – wie üblich an der Kreuzung Sülzgürtel/Luxemburger Straße aussetzte, stand plötzlich ein alter Mann neben dem Wagen. Auch er vermutlich irgendwo am Mittelmeer geboren, mit in Ehren ergrauter, etwas zauseliger Bart- und Haarpracht. Was er nuschelte, verstand ich erst beim zweiten Mal: Ob ich ihn nicht ein paar Meter mitnehmen könne, seine Knie täten so weh.

Für einen Straßenräuber war er zu gebrechlich, also machte ich nach einer Sekunde des Zögerns eine einladende Bewegung in Richtung Beifahrertür. Gutes Karma kann man schließlich immer brauchen. Und heißt es nicht schon im Alten Testament: „Vergesst nicht, Gastfreundschaft zu üben! Denn ohne es zu wissen, haben manche auf diese Weise Engel bei sich aufgenommen.“ Großväterchen nahm Platz, und schon bogen wir auf den Klettenbergürtel ein. Nach ein paar Metern ging’s bereits rechts ab in eine Wohnstraße – noch einmal links, einmal rechts, dann waren wir am Ziel. Mein Überraschungsgast murmelte noch etwas von „Meniskus“ und „Operation“, schwang sich mühsam aus dem Wagen und humpelte seiner Wege.

Ich kann mir sein kurzentschlossenes Einsteigen zu einem fremden Mann ins Auto nur so erklären, dass der Gute aus der Situation „Fahrgäste steigen aus heller Mercedes-Limousine“ und meinem Erscheinungsbild geschlossen hat, hier einen durch und durch vertrauenswürdigen Kapitän der Individualpersonenbeförderung vor sich zu haben. Offenbar haben die rund neun Monate, die ich jetzt schon Mitfahrer aus aller Welt durch die Lande kutschiere, Spuren hinterlassen. Vielleicht liegt’s natürlich auch nur an meinem Bart.

So professionell, dass er mir Taxigeld angeboten hätte, wirkte ich denn aber leider doch noch nicht.

Mitfahrgelegenheit III

Wenn einer eine Mitfahrgelegenheit anbietet, dann kann er was erzählen. Menschen aller Art und aus aller Herren Länder quetschen sich seine Fahrgastzelle. Es sind weißbärtige Männer und junge Mädchen, füllige Mütter und durchtrainierte Mittzwanziger. Sie sind Pysiotherapeuten und Friseurinnen, Autoverkäufer und Hartz-IV-Empfänger, Studentinnen und Rentner, Handwerker und Schauspielerinnen, Lehramtsanwärter und Abiturientinnen, Jobcenter-Mitarbeiterinnen und Kiffer. Sie kommen aus Italien, Belgien, England, Finnland und Polen, aus Turkmenistan, China, Kenia und Mexiko, aus der Mongolei, der Türkei und der Ukraine. Sie wollen zur Vorlesung an die Uni, zum Scheidungstermin ans Gericht, zum Bundeswehr-Flug nach Afghanistan oder zum Urlaubsflug nach Istanbul, zur Anschluss-Mitfahrgelegenheit nach Augsburg oder zum Feiern an die Kölner Partymeile. Sie sind gesprächig oder schweigsam, locker oder verkrampft, überpünktlich oder zwei Straßenbahnen zu spät. Sie sind von einer Parfümwolke umgeben oder einer Schweißnote, stehen mit Rollkoffern und Trekkingrucksäcken am vereinbarten Treffpunkt oder haben nicht mal ein eigenes Handy, sind topmodisch gestylt oder tragen schmuddelige Arbeitsklamotten, sind sympathisch oder unsympathisch.

Heute hatte ich das Vergnügen, Leyla mitnehmen zu dürfen: pünktlich am Treffpunkt, von adretter Erscheinung, zurückhaltend im Wesen und zugleich von freundlicher Aufmerksamkeit.

67_Leyla

Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn jeder Mitreisende der vergangenen sieben Monate auch nur die Hälfte dieser Eigenschaften gehabt hätte.

Mitfahrgelegenheit II

67_Autobahnkurve

Gestern schon hatte sich über Mitfahrgelegenheit.de für die 19-Uhr-Heimfahrt am Abend nach Köln eine Elena angemeldet. Heute, am Nachmittag, klingelt mein Handy: „Hallo, mein Names ist Elena, ist noch ein Platz frei nach Köln?“ Natürlich, ist ganz korrekt reserviert. – „Wo in Köln können Sie mich absetzen?“ – An der Luxemburger Straße, Ecke Sülzgürtel. „Hm, ich muss nach Troisdorf weiter, das ist etwas ungünstig. Ich melde mich gleich nochmal.“ Minuten später die SMS: Sorry, komme doch nicht mit.

Kein Problem. Und so ich diesele um 19 Uhr gemütlich alleine nach Köln. Halt, „alleine“ ist nicht richtig, denn auf dem Beifahrersitz des moorbraunsten Dieselcoupés westlich des Rheins findet sich doch noch ein Mitfahrer, Patrick aus Stuttgart. Für ihn ist es die erste Mitfahrgelegenheit überhaupt. „Und dann so ein cooles Auto!“ Wir plaudern nett, am Ende setzte ich ihn wunschgemäß am Obi an der Abfahrt Frechen ab.

Gegen 20 Uhr, glücklich zu Hause angekommen, ein zufälliger Blick aufs Handy: eine SMS von Elena. Sie warte am Bahnhof Rothe Erde. In Aachen. Schamesröte schießt mir ins Gesicht und ein Gedanke durchs Hirn: Jetzt ist es soweit, du bist dement. Aber sie hatte doch eindeutig abgesagt…?

Ein Vergleich der Handynummern hinter den SMS schafft Klarheit. Es waren tatsächlich zwei verschiedene Elenas. Am selben Tag. Für dieselbe Fahrt.

Den Entschuldigungs-Anruf bei Elena 1 hat es mir nicht erspart. Aber ich habe das Gefühl, ich klang so rechtschaffen zerknirscht, dass sie mir zumindest die Begründung fürs Stehenlassen abgenommen hat.

Mitfahrgelegenheit I

Wo in Aachen ich sie absetzen soll, frage ich die beiden Mitfahrer mit dem arabischen Nachnamen: Europaplatz oder Bahnhof Rothe Erde? Schulterzucken. „Wo wollen Sie denn hin in Aachen?“ – „Antoniusstraße“. Alles klar. Vom Europaplatz aus dürfte der Fußweg weniger, äh, kräftezehrend sein.