Die Blüte der Feinmechanik: Schneider-Kreuznach Tele-Xenar 3.5 135

Es gibt bei historischen Objektiven Dinge, die man gesehen haben muss, um sie zu glauben. Dazu gehören die skurrilen mechanischen Schärfetiefe-Anzeigen deutscher Objektive, die von Ende der 1950er- bis etwa Mitte der 1960er Jahre eine kurze Blüte feierten. Das Pancolar 2 50 von Carl Zeiss Jena etwa hatte zwei auseinanderstrebende, freistehende rote Metalldreiecke, der bundesrepublikanische Mitbewerber Albert Schacht aus Ulm setzte für seine Travelons, Travegons und Travenare auf einen sich beim Abblenden verbreiternden roten Streifen hinter Plexiglas.

Die aufwendigste Anzeige aber hatten die Objektive von Schneider aus Bad Kreuznach – einem Unternehmen, dass sich als westdeutsche Oberklasse und mindestens gleichwertige Konkurrenz zum Platzhirsch Carl Zeiss Jena verstand.

Bei Schneider-Kreuznachs Curtagons, Xenaren und Xenons wird die Schärfentiefe durch einen metallisch-blanken Streifen angezeigt, der beim Abblenden nach links und rechts breiter wird.

Dabei schieben sich hinter einem transparenten Plexiglasring einzelne silberne Lamellen aneinander (siehe Bilder), ähnlich einem Balkendiagramm. Eine ebenso feinmechanisch faszinierende wie im Grunde herrlich sinnlose Spielerei.

Das Tele-Xenar 3.5 135 ist ein erstklassiges Teleobjektiv und das westdeutsche Gegenstück zum legendären Sonnar von Carl Zeiss. Mechanisch aus dem Vollen gefräst, im klassischen Zebra-Design, mit dem markentypischen edlen blanken Doppelstreifen oben am Tubus.

Der Käufer bekam reichlich feine Details für sein Geld – man beachte zum Beispiel den wie eine Uhrkrone gefrästen Umschaltknopf zwischen Blendenautomatik und manuellem Betrieb, der wiederum durch ein kleines Sichtfenster auf der Oberseite mit den Lettern „A“ und „M“ angezeigt wird. Die Bildqualität dieses typischen 135ers ist über alle Zweifel erhaben: kristallscharf und kontrastreich.

Fotografisch ergab die Schärfentiefeanzeige wenig Sinn, dürfte aber die Produktionskosten deutlich in die Höhe getrieben haben. Das technische Schmankerl verschwand denn auch nach einigen Jahren schnell wieder, die Nachfolger dieser Objektive kamen wieder ohne das Gimmick aus. Für den Sammler bleiben die winzigen Anzeigen ein optischer Genuss beim Fotografieren.

Dieses Exemplar hier, mit M42-Gewinde, ist zu verkaufen. Kein Fungus, keine größeren Kratzer, Fokussierung geschmeidig, Blendenring freigängig. Preis 70 Euro (ich habe selbst hatte natürlich mal wieder mehr dafür bezahlt). Versand am liebsten als versichertes Paket mit DHL für 4,99 Euro. Wie die Bilder eines Tele-Xenars aussehen, ist hier im Beitrag „Moorbraun in Ornbau“ nachzuschauen.

Die Mediocren. Ein Fotowalk mit Orestegon, Oreston und Orestor.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29
Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29

Schon die Überschrift ist eigentlich eine Unverschämtheit. Die Mediocren, das sind „die Mittelmäßigen“. Ein Film von 1995 hieß so mit Jasmin Tabatabai, Jürgen Vogel und Dany Levi. Mittelmäßig als Attribut für ein Objektivtrio aus der berühmten Linsenschmiede Meyer-Optik Görlitz? Noch dazu in der Version mit dem Bajonett der legendären Exakta-Kameras?

Tja nun. Schauen wir uns die Kandidaten doch einmal an, die da mit uns ins Würselener Wurmtal dürfen.

Meyer Optik Görlitz Orestegon 2.8 29, Oreston 1.8 50 und Orestor 2.8 100
Meyer Optik Görlitz Orestegon 2.8 29, Oreston 1.8 50 und Orestor 2.8 100

Da wäre erst einmal das Orestegon 2.8 29 (links im Bild). Das Weitwinkel mit der einzigartigen Brennweite von 29 Millimetern wurde 1966 vorgestellt, damals noch in der klassischer Zebra-Fassung mit blank geriffeltem Fokusring. Es war nicht nur die weitwinkeligste Brennweite, die je das Görlitzer Werk verlassen hat, es war mit sieben Linsen auch das aufwendigste Objektiv von dort. Ab 1971 gab es die hier vorgestellte Bauform in schwarz mit den metallisch blanken Vierecken am Blendenring. Noch im selben Jahr wechselte der Produktname zu Pentacon 2.9 28, etwas später wurde die Fassung dann durchgehend schwarz und bekam noch etwas später die bekannte Kreuzrändelung am Fokusring und Mehrschichtvergütung auf den Gläsern. In dieser Form wurde das Objektiv – ausschließlich mit M42-Gewindeanschluss – bis zum Ende der DDR gebaut. Es füllte im Objektivangebot die Lücke zwischen dem teuren Superweitwinkel Flektogon 4 20, später 2.8 20 (sowie dem nur einige Jahre lang angebotenen 4 25) und dem Flektogon 2.8 (später 2.4) 35, beide von der Premiummarke Carl Zeiss Jena. Tausende und Abertausende von Praktica-Nutzern überall in Europa und Übersee bauten auf das 29er aus Görlitz. Meyer war, spätestens ab 1971, als der Hersteller ausschließlich unter VEB Pentacon firmierte, für den preisgünstigen Sektor und die hohen Stückzahlen zuständig.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29
Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29

Heute haben Fotofreunde eine gewaltige Auswahl an mittleren Weitwinkeln zwischen 28 und 35 Millimetern, die exotische Brennweite aus Görlitz ist nur eine Alternative von etlichen. Und, das darf man wohl sagen: leider nicht die attraktivste. Die Besprechungen und Testergebnisse des Orestegons waren schon zu dessen Lebzeiten nicht euphorisch und sind heute, höflich gesagt, durchwachsen. Mehrere Rezensenten verreißen das Orestegon völlig („das schlechteste Objektiv, das ich je an der Kamera hatte“), andere loben dagegen Bildqualität, Rendering, Bokeh und Kontrast. Einig sind sich alle Stimmen: Bei offeneren Blendenstufen sei die Bildmitte ja noch halbwegs scharf, aber die Ränder einfach nur flau bis völlig zermatscht, der Kontrast schwach. Erst oberhalb von F4, vor allem bei F8 bis F11, wird das Bild dann durchgehend scharf und kontrastreich. Die Fertigungsqualität sei wechselhaft, vor allem bei den letzten Jahrgängen, die wohl teilweise oder ganz bei IOR in Bukarest gefertigt wurden. Erst als die Konstruktion 1878 zum neuen Pentacon Prakticar 2.8 28 für das PB-Bajonett weiterentwickelt wurde, konnte das Objektiv überzeugen. Unter den Weitwinkeln der Altglaswelt erscheint das Orestegon aus heutiger Sicht – tja, höchstens ausreichend bis okay. Mittelmäßig halt.

Sony A7II mit Meyer Optik Oreston 1.8 50
Sony A7II mit Meyer Optik Oreston 1.8 50

Dann ist da das Oreston 1.8 50 (Mitte). Das 1961 konstruierte, ab 1963 produzierte und 1969 noch einmal optisch überarbeitete Objektiv wurde – spätestens ab 1971, als es in Pentacon 1.8 50 umbenannt wurde und zu Hunderttausenden auf den Weltmarkt gepumpt wurde, für fast 20 Jahre zum lichtstarken Standardobjektiv der DDR-Kameraindustrie. Seine Abstammung ist von Mythen umwoben, es wurde wohl aus dem Hochleistungsobjektiv Domiron 2 50 entwickelt, mit dem Meyer 1960 dem berühmten Biotar 2 58 des großen Rivalen Zeiss Jena Konkurrenz machen wollte. Das ging den DDR-Wirtschaftslenkern zu weit, Konkurrenz war in einer Planwirtschaft nicht vorgesehen, das Domiron musste eingestellt werden.

Sony A7II mit Meyer Optik Oreston 1.8 50
Sony A7II mit Meyer Optik Oreston 1.8 50

Zu seiner Zeit war das Oreston allerdings alles andere als mittelmäßig. Der aufwendige Sechslinser schlug in seiner Bildqualität das Einstiegsobjektiv, den einfachen Dreilinser Meyer Domiplan 2.8 50, um Längen. Das für seine Schärfe gerühmte Tessar 2.8 50 aus dem Hause Zeiss Jena übertraf es in punkto Lichtstärke um mehr als eine ganze Blendenstufe. Einzig dem exzellenten Zeiss-Objektiv Pancolar 1.8 50 musste es sich geschlagen geben. Es war ihm zwar bei den Leistungsdaten auf dem Papier und wohl auch in der Bildleistung bei kleineren Blendenstufen ebenbürtig, hinkte ihm aber in der Königsdisziplin Offenblende messbar hinterher. Was auch gewollt war: Das Oreston war nun einmal die etwas einfachere Konstruktion mit weniger teuren Gläsern. Dafür war es preisgünstiger.

Das Oreston ist aus heutiger Sicht immer noch durchaus befriedigend, größere Schwächen leistet es sich nicht, aus der Masse heraus ragt es andererseits auch nirgendwo. Es gibt ungezählte gleich gute bis deutlich bessere 50-Millimeter-Objektive, angefangen bei den Pancolaren von Zeiss Ost über die Planare von Zeiss West, bis zu den Dutzenden auch heute noch günstiger und hervorragender Standardobjektive aus Japan, etwa von Canon, Minolta oder Nikon. Das Oreston ist in diesem Feld: leider halt auch nur ein Mittelklässler.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100
Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100

Aber das Orestor 2.8 100? Mittelmaß? Nein, wirklich nicht. Nach übereinstimmendem Urteil der Fachwelt ist das Orestor ein echtes Juwel, zusammen mit seinem gleichnamigen Bruder 2.8 135 vielleicht das Beste, was je die Görlitzer Werke verließ. Die Konstruktion vom berühmten Sonnar inspiriert. Brillant, herausragend, übertrifft bereits bei Offenblende 2.8 die Bildleistung vieler anderer, lichtstärkerer Objektive.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100
Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100

Es gab allerdings zwei Versionen des Orestors. Die erste, zylindrische Fassung von 1966 hatte eine einfache Rastblende, 14 Lamellen und eine kreisrunde Iris. Sie ist – gerade an modernen Digitalkameras – zweifellos die optisch bessere und überaus begehrt. Ein kompaktes Porträtobjektiv, das noch heute begeistert.

Dann haben wir die zweite Version ab etwa 1970, mit automatischer Druckblende – und, bei identischem Linsenaufbau, einer Blende mit nur noch sechs Lamellen. Diese Blende ist denn auch das Einzige, das diesem Orestor vorzuwerfen ist: Das Objektiv hat, so wie auch das Oreston und das Orestegon oben, eine sechseckige Iris mit – und das ist ungewöhnlich – schnurgeraden Lamellenkanten. Sechs Lamellen sind grundsätzlich keine Schande, aber bei den allermeisten Objektiven sind sie abgerundet. Die Blätter des späten Orestors machen das berühmte butterweiche Bokeh etwas weniger sanft, vor allem aber werden Spitzlichter im Hintergrund sichtbar kantig.

Warum dieser scheinbare Rückschritt? Jahrzehntelang waren ein Dutzend Lamellen und mehr das Optimum im Objektivbau. Doch beim Aufkommen kürzerer Verschlusszeiten und automatischer Blendensteuerung kamen die feinblättrigen Blütenkonstruktionen beim präzisen und schnellen Öffnen und Schließen nicht mehr mit. Die Konstrukteure gingen also zu sechs oder sogar nur fünf Lamellen über. Die aber waren meist gerundet, so dass Hintergrundlichter nicht ganz so brutal kantig wirkten. Ob die Ingenieure bei Meyer diese streng geometrische Iris wählten, weil die kantigen Lichter technische Modernität signalisieren sollten? Egal, sie haben sich nicht durchgesetzt, auch das Oreston/Pentacon 1.8 50 bekam ab 1975 nicht nur Multi Coating auf die Gläser spendiert, sondern auch – übrigens überaus stark – gerundete Lamellenblätter.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29
Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29

Bleibt noch zu erwähnen, was es mit dem Exakta-Bajonettanschluss auf sich hat. Eigentlich gab es die Görlitzer Spitzenprodukte aus den späten 60er-Jahren nämlich nur noch mit M42-Gewinde für die Praktica-Kameras. Doch 1969 machte man noch einmal eine Ausnahme für die neu entwickelte Kamera Exakta RTL 1000 – eine Variante der Praktica LLC mit Extakta-Bajonettanschluss. Man hoffte, mit ihr den Nutzern der seit 1950 gebauten Ihagee-Kamera Exakta Varex – in ihren Hochzeiten ein weltweit geschätztes Spitzenprodukt der DDR-Fotoindustrie, mittlerweile aber zusehends veraltet – einen zeitgemäßen Nachfolger anbieten zu können. Vier vorhandene Objektive wurden eigens für diese Kamera auf Bajonettanschluss und Innenblendmessung umkonstruiert. Neben den drei hier vorgestellten Meyers gab es noch eine Variante des Zeissschen Pancolars 1.8 50. Doch die RTL 1000 floppte am Markt und wurde nur drei Jahre lang gebaut. Entsprechend gering blieb die verkaufte Auflage der kleinen Objektivfamilie.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29
Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29

Warum nun marschiert man mit Orestegon, Oreston und Orestor auf Fotopirsch statt mit ähnlich teurem, aber anerkannt besseren Altglas? Wenn es unbedingt DDR-Ware sein muss, warum nimmt man nicht Flektogon, Pancolar und Sonnar aus Jena mit, untadelig im Ruf und noch heute überaus beliebt?

Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29
Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29

Schwer zu erklären. Warum fahren Leute in einem ollen 1968er Opel Manta durch die Lande? Warum restaurieren Fans historische Kreidler-Mopeds? Warum legen manche Musikliebhaber lieber Schallplatten auf, als den Streamingdienst einzuschalten? Warum benutzt man zum Fotografieren überhaupt jahrzehntealte manuelle Linsen statt zeitgemäßer Objektive mit Vollautomatik und Autofokus?

Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100
Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100

Vielleicht, weil erst das Reduzieren aufs Wesentliche eine so alltäglich gewordene Tätigkeit wie von das Fahren von A nach B oder das Anfertigen eines Fotos wieder zum Vergnügen macht? Weil beim Rühren im Getriebe eines Oldtimers ohne Fahrwerkselektronik ein ganz anderes Gefühl für die Straße aufkommt? Weil man Musik anders schätzt, wenn man erst den Tonträger aus der Papierhülle nehmen und vorsichtig auf den Plattenteller legen muss? Und weil das gefühlvolle Drehen am Fokus und das klickende Einrasten des Blendenrings den Fotografen wieder zwingen, sich aktiv mit Aufbau und Gestaltung seines Bildes auseinanderzusetzen? Wer so denkt, der will irgendwann auch nicht mehr unter den historischen Objektiven das hervorragende oder gar perfekte, eben das moderne und damit langweilige. Er unterwirft sich gerne den Einschränkungen eines aus heutiger Sicht „mangelhaften“ Objektivs und schätzt die Herausforderung, gerade mit diesem nicht vollkommenen Werkzeug kreativ zu sein.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29
Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29

Die drei Meyers hier bieten genau das. Und es ist ja nicht so, dass sich mit ihnen nur stümpern lässt. Weit gefehlt. Schärfe können sie um F8 herum so gut wie jedes moderne Objektiv, da überzeugen sie auch heute. Ihr Bokeh ist ganz anders als das ihrer Nachfolger aus dem 21. Jahrhundert. Bei Offenblende und knapp darunter dagegen bieten sie die Herausforderung: Dass man sich eben genau überlegen muss, was sie können und was nicht – und was für ein Bild man eigentlich erzeugen möchte. Und dann überraschen sie hier und da mit ganz ausgezeichneten Leistungen in Spezialdisziplinen: Das Orestegon 2.8 29 etwa taugt mit seiner Nahgrenze von nur 25 Zentimetern wunderbar für spannende Detailaufnahmen. Ebenso das Oreston, das bis auf exzellente 33 Zentimeter an das Motiv herankriechen kann, für ein 50-Millimeter-Objektiv ein überragender Wert. Und das Orestor 2.8 100 ist in der Summe seiner Eigenschaften ein auch heute noch uwmerfend gutes Porträtobjektiv. Und auch die eckigen Lamellen haben eine gute Seite: Sie produzieren nachts wunderbare Lichtsterne.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100
Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100

In einem Punkt ist das Trio sogar ganz modern: In der Bajonett-Variante lassen sie sich genauso fix durch einen schnellen Dreh an der Kamera wechseln wie ihre modernen Nachfolger. Der Bildqualität wiederum lässt sich auf die Sprünge helfen, indem man den nur einfach vergüteten Gläsern durch Gegenlichtblenden – die hier abgebildeten Exemplare gibt es in der E-Bucht für ein paar Euro aus China – unter die Achseln greift. Und beim Kriechen durchs Moos an einem bewölkten Wintertag ist ein Stativ hilfreich, dann kann auch problemlos bis in die besseren Bildqualitäten hinein abgeblendet werden.

Orestegon, Oreston und Orestor mit Gegenlichtblenden
Orestegon, Oreston und Orestor mit Gegenlichtblenden

Wer also gerne die Konstruktionen der legendären Görlitzer Werkstätten an seiner Kamera hat, ein halbes Jahrhundert alt und mit entsprechend historischem Rendering, aber mit noch immer annehmbaren Leistungsdaten, und wer beim Wechseln keinen Wert auf langes Gefummel mit Schraubanschlüssen legt, der kommt an diesen etwas selteneneren Varianten von Oreston, Orestegon und Orestor nicht vorbei. Ähnlich komfortabel waren aus DDR-Produktion erst wieder die Prakticar-Objektive mit dem PB-Bajonett ab 1978. Die sind aber auch eine ganze Generation „moderner“ und bieten mit ihren Griffringen aus Gummi oder Kunststoff wieder ein ganz anderes haptisches Erlebnis.

Mit einem Ferrari über die Landstraße zu heizen, macht sicher Spaß – aber ist reine Perfektion nicht auch ein bisschen langweilig, ein bisschen steril, ein bisschen ohne Herausforderung? Es muss wohl so sein, sonst würden nicht so viele Leute alte Opel Mantas hegen und pflegen, an Kreidler Floretts herumschrauben – und Meyer Orestegons an ihre Kamera klipsen.

Der einsame Ikarus: Das Zeiss Ultron 1.8 50

Großartig ist es, Opas komplette Fotoausrüstung, bestehend aus einer Zeiss Ikon Icarex 35S, dem legendären Zeiss Ultron 1.8 50, je einem Skoparex 3.4 35 und einem Super Dynarex 4 135, zwei Deckeln, einer seltenen Original-Sonnenblende, gleich zwei (!) passenden Fotokoffertaschen, Blitz, Objektivbox und reichlich Papierkram für einen weiß Gott nicht geschenkten, aber fairen Preis kaufen zu können.

Dumm ist es, am Tag vorher ein Zeiss Ultron 1.8 50 alleine für so ziemlich den selben Preis geebayt zu haben. Habe ich also gerade zwei Exemplare der superedlen Linse. Zum Glück auch ein Widerrufsrecht im zweiten Fall…

Bleibt die Frage: Was will er mit dem alten Plunder?

Für die Antwort muss man etwas ausholen. Die Spiegelreflexkamera Icarex 35 war einer der letzten Nägel zum Sarg der westdeutschen Fotoindustrie. Im Jahr 1966 vorgestellt, war sie die fünfte eigenständige Kameraklasse im Zeiss-/Voigtländer-Konzern und mit ihrem eigens entwickelten BM-Bajonett inkompatibel zu allen anderen Kamerasystemen der Welt. Objektivbrennweiten gab es in den ersten Jahren stolze drei Stück: Zum einfachen Dreilinser Pantar 2.8 50 und dem klassischen Tessar 2.8 50 kam noch ein – für die eher schwache Lichtstärke arg teures – Porträtobjektiv Dynarex 3.4 90 und schließlich das Tele Super Dynarex 4 135. Alles ziemlich biedere Konstruktionen, seit den 50er-Jahren bekannt aus der Bessamatic-Serie der Firma Voigtländer (die Zeiss 1956 übernommen hatte und 1971 an Rollei weiterverkaufen sollte). Dabei blieb es zunächst auch schon.

Die Kameras selbst waren schwere, unelegante und komplizierte „Zeiss-Briketts“, mechanisch von höchster Wertigkeit, aber technisch in jedem Jahr ein Stück weiter von den Japanern abgehängt, die in diesen Jahren ein aufregendes Modell nach dem anderen auf den Markt warfen. Bei Zeiss dagegen diktierte ein schwerfälliges Management, dass die Icarex in ihrer Ausstattung gefälligst einen deutlichen Abstand zum Flaggschiff Contarex einzuhalten haben, dessen Verkaufskurve aber stramm nach Süden zeigte. So musste die Icarex etwa ohne die längst übliche TTL-Belichtungsmessung auskommen. Die Käufer wechselten da lieber zu Pentax, Nikon & Co. – wer sollte bitte diese seltsame Icarex kaufen?

Erst nach zwei (!) Jahren schob Zeiss widerwillig eine Handvoll weiterer Brennweiten nach: Erstmals ein – arg gemäßigtes – Weitwinkel, das Skoparex 3.4 35, das längere Tele Super Dynarex 4 200, das Telomar 4 500 und – das immerhin war tatsächlich ein Schmankerl – das seinerzeit erste Zoomobjektiv, das 2.8 36-82 Zoomar. Alle diese Linsen waren ebenfalls über ein Jahrzehnt alte Bessamatic-Konstruktionen und leistungsmäßig längst in die Mittelklasse durchgereicht worden.

Die Objektivfamilie war damit zwar endlich halbwegs vollständig, große Magnetwirkung dürfte sie nicht erzeugt haben. Der ostdeutsche Bruder Carl Zeiss Jena hatte längst spektakuläre 20- und 25-Millimeter-Weitwinkel im Angebot, im fernen Osten lockte Pentax mit einem 35-Millimeter mit der immens hohen Lichtstärke 2.0. Die Icarex – und mit ihr die Kameraproduktion der einst so stolzen Marke Zeiss Ikon – ging denn auch nach gerade einmal sechs Jahren 1972 sang- und klanglos unter, ein letzter Versuch in Form der Spiegelreflexkamera SL 706 scheiterte kläglich.

Es gibt eigentlich heute kaum einen Grund, sich noch für diesen traurigen Ikarus der Fotografie zu interessieren, der nie der Sonne nah genug kam, als dass seine Flügel hätten schmelzen können, wie es Frank Mechelhoff auf seiner sehr empfehlenswerten Seite www.klassik-cameras.de schreibt, von der ich einen Großteil dieser Informationen habe.

Wäre da nicht das Ultron.

Das Ultron 1.8 50 ragt nicht nur aus der kleinen Familie der braven Icarex-Durchschnittslinsen heraus wie ein Leuchtturm aus einem Campingplatz. Es schlägt auch mühelos so ziemlich alles, was zu seiner Zeit und in folgenden Jahren – und nach der Meinung vieler Verehrer bis heute – an 50-Millimeter-Objektiven gebaut wurde. Das 1968 von Albrecht Tronnier noch für Voigtländer neu gerechnete lichtstarke Standardobjektiv ist technisch in einer Hinsicht nahezu einzigartig: Es hat eine Frontlinse, die nicht wie üblich konvex gewölbt, sondern konkav geformt ist. Angeblich steckte dahinter eine Wette Tronniers, der beweisen wollte, dass es auch mal andersherum ging.

Das Ergebnis beeindruckt bis heute. Das Ultron liefert bereits offen eine gestochene Schärfe, höchsten Kontrast und, trotz seiner nur fünf Blendenlamellen, ein einzigartig cremiges Bokeh. Einzigartiger „Pop“ und Dreidimensionalität werden seinen Bildern nachgesagt. Die Schärfeleistung ließ damals die versammelte Konkurrenz alt aussehen: „Bei f/4 übertrifft dieses Objektiv die maximale Bildleistung von nahezu jedem anderen getesteten Objektiv dieses Typs“, hieß es in einem Test der Zeitschrift „Popular Photography“ von 1969.

Das einsame Ultron ist immer noch: ein Leuchtfeuer. So schreibt etwa Walter Owens auf vintage-camera-lenses.com: „It performs much better than all other 50mm prime lenses and always delivers outstanding image sharpness combined with an outstanding bokeh. I therefore think this is one of the best 50mm prime lenses that you can get.“ Etliche Fotografen auch in meinem Bekanntenkreis schwärmen, das Ultron sei ihre liebste 50er-Linse überhaupt.

Jetzt stehen gleich zwei davon auf meinem Tisch, eine wird wieder gehen müssen. Ausprobieren kann ich keine davon, der Adapter für meine A7 ist noch auf dem Weg von Hongkong hierher. Sie sind überraschend schwer, wenn man sie in die Hand nimmt: Die massive, extrem hochwertige Metallfassung scheint innerlich nur aus Glas zu bestehen. Fokus- und Blendenring gleiten geradezu durch die Fassungen. Sie sind wohl die am besten verarbeiteten Objektive, die ich habe. So passen sie gut zur Ikarex, die bei allem kantigen Altherrendesign eine Solidität und Wertigkeit verströmt, wie sie zu einem Mercedes der /8er-Serie passen würde, die damals ebenfalls neu auf den Markt kam. Ein Schmuckstück von eigenwilliger Ästhetik.

Geplatzte Träume umweht etwas Tragisches. Auch das großartige Ultron hat Icarex und Zeiss Ikon nicht retten können. Das einsame Edel-Objektiv fiel in die Ära des Schwanengesanges der westdeutschen Kameraindustrie. Zeiss Ikon/Voigtländer stellte den Kamerabau noch 1972 komplett ein, Leica ließ längst in Portugal bauen, Rollei verlagerte 1975 seine Produktion in die übergroße neue Fabrik in Singapur (deren Überkapazitäten dem Unternehmen bald das Genick brechen sollten). Seltsamerweise hatte Rollei 1970 von Zeiss für die neue SL35-Kamera noch ein neues, ebenfalls sehr hochwertiges 1.8 50 Planar entwickelt bekommen, dass parallel ebenfalls unter dem Label Voigtländer Color-Ultron produziert wurde, aber nichts mit dem Ikarex-Ultron zu tun hat. Angeblich war das gerade erst zwei Jahre alte Icarex-Ultron von Tronnier zu teuer in der Herstellung.

So endete die Karriere des Wunderkindes nach gerade einmal vier Jahren. Trotzdem ist das Icarex-Ultron zur Legende geworden, die bis heute fasziniert. Dank spiegelloser Kameratechnik lässt sich inzwischen digital die Leistung der nächstes Jahr 50 Jahre alt werdenden Konstruktion bewundern. Nach fast einem halben Jahrhundert hat Ikarus doch noch vom Erdboden abgehoben.

Primadonna Primagon

Zu den schönsten Nebensächlichkeiten beim Sammeln der alten Objektve gehören die Namen. Und niemand benannte Objektive so schön und fantasievoll wie die altehrwürdige Görlitzer Linsenschmiede Meyer Optik. Zum Beispiel das Helioplan: War das nicht der griechische Gott der Überbelichtung? Domiplan und Domiron: die antiken Helden der In-Haus-Fotografie. Und dann das mächtige Geschlecht der Orestonen: Orestor, Oreston, Orestegor und Orestegon. Objektivnamen wie Donnerhall, da ahnt man die bildgewaltige Dramatik der damit gemachten Fotos schon, bevor man sie auch nur an die Kamera geschraubt hat.

Doch am schönsten klingen die P-Liner (Segelschiff-Fans verstehen die Anspielung). Carl Zeiss hatte Planar und Pancolar, doch Meyer hatte mehr. Da sind erst einmal die Primotare, Allzweckwaffen mit 50, 80, 135 und 180 Millimeter Brennweite. Dann natürlich die legendären Primoplane – Wunderlinsen mit eingebauten Aquarellhintergrund in 58 und 75 Millimeter Brennweite.

Und dann gab es das Primagon. Kein Wunderwerk, aber ein solides, erschwingliches Alltags-Weitwinkel für den Hobbyfotografen der späten 50er Jahre. Man darf nicht vergessen: Die heute ziemlich unspektakulären 35 Millimeter Brennweite galten damals als die Spitze des absolut technisch Machbaren, sie hatten gerade erst die 40 Millimeter des Tessars 4.5 40 von Zeiss und des ähnlichen Helioplans von Meyer abgelöst. Carl Zeiss war 1953 mit der ersten Generation des Flektogons 2.8 35 vorausgegangen – eine mit sechs Linsen in sechs Gruppen überaus aufwändige und entsprechend teure Konstruktion (die auch heute noch exzellente Schärfe und Kontrast liefern kann).

Meyer zog nach und präsentierte auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1956 das Weitwinkelobjektiv Primagon 4.5 35 mm, ausgerichtet auf ein preisbewussteres Kundenklientel. Den Ingenieuren gelang es, das Grundobjektiv aus nur drei Linsen aufzubauen, davor setzten sie noch eine große Zerstreuungslinse. Das ließ sich günstig produzieren und brachte – bei der nicht gerade überwältigenden weitesten Blende von 4.5 – erstaunlich gute Bildergebnisse. Denn: „(…) zwischen tiefem Blau und mittlerem Rot ist das Objektiv frei von chromatischer Aberration. Mit diesen Eigenschaften würden Werbestrategen einem solchen Objektiv heute das Attribut „Apo“ anhängen“, schreibt Marco Kröger auf der sehr lesenswerten Webseite Zeiss Ikon VEB.

Sagen wir es kurz: Für Indoor- und Available-Light-Fotografie, für Straßenszenen im Dämmerlicht und Partyfotografie ist das Primagon nicht wirklich etwas. Im Hellen produziert es dagegen Bilder, die sich immer noch sehen lassen können. Marco Kröger schreibt: „Es handelt sich auch nach heutigen Maßstäben um ein erstaunlich leistungsfähiges gemäßigtes Weitwinkelobjektiv, das sein Gütezechen damals nicht unverdient erhalten hat.“ Das Primagon wurde seinerzeit mit dem Qualitätssiegel Q1 ausgezeichnet, mit dem die DDR Produkte von Weltmarktniveau („oder besser“) kennzeichnete. Mit mancher heutigen Zoom-Kit-Linse könne es der Oldtimer durchaus aufnehmen, meint Altobjektiv-Experte „praktinafan“ im Digicamclub-Forum.

Heute brachte mir der Postbote ein solches Spitzenprodukt volkseigener Optikerzeugnisse. In blau-weißer Meyer-Originalschachtel, mit beiden Kappen. Es glänzt wie unbenutzt – es ist nach den Varianten mit Exa- und Altix-Bajonett mein drittes Primagon und das schönste.

Ganz einfach zu handhaben dürfte der Silberling nicht sein. Die schwache Lichtstärke ist bei allen anderen als guten Lichtverhältnissen so etwas wie ein eingebauter Unschärfegenerator. Und die exponierte übergroße Frontlinse dürfte trotz des roten „V“-Zeichens zur Kennzeichnung der Glasvergütung neben dem Licht auch die ungewollten Streulichteffekte wie Ghosts und Flares sammeln. Das Primagon ist wohl eine ganz schöne Primadonna, die in eine Gegenlichtblende gehüllt sein will, um strahlen zu können. Sie soll sie bekommen, in bestem zeitgenössischen Bakelit natürlich. Damit hoffe ich dann auf Bilder in typischem Meyer-Stil, mit weichem Hintergrund und schönen warmen Farben, nicht zuletzt dank der Blende mit zehn Lamellenblättern. Zeige sie uns, was sie kann, Primadonna!

Ach ja: Abgelöst wurde das Primagon im Jahre 1964 von dem Objektiv mit dem wohl schönsten Namen überhaupt – Lydith 3.5 30. Lydith – war das nicht diese hübsche junge Frau aus dem Alten Testament, die den obersten General des feindlichen Heeres beim Baden fotografierte?

Von Biotaren und Biografien

Das Biotar 2 58 von Carl Zeiss Jena ist einer der Klassiker in der Geschichte der Fotografie. Schon 1946, gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ging das berühmte Standardobjektiv der Vorkriegszeit wieder in die Produktion. Die Konstruktion mit sechs Linsen erhielt eine neue Fassung und – je nach Ausführung – vergütete Gläser, die gegen Streulichteinfall immun machen sollten.

Mit einer Offenblende von f2.0 ist es für die 50er Jahre sehr lichtstark. Fotografen lieben den spiralförmigen Schwurbel-Effekt – auch „Swirly Bokeh“ genannt – bei unruhigem Hintergrund, etwa Baumkronen oder Gebüschen. Spitzlichter im Hintergrund werden zu Ellipsen – „Cat’s Eyes“ – und arrangieren sich in Kreisform um das Hauptmotiv. Könner können so regelrechte Heiligenscheine erzeugen.

Doch auch wenn gerade kein Frauenkopf vor Parklandschaft zur Hand ist: Mich fasziniert das nachdrückliche Rendering der Biotar-Bilder. Was für eine Schärfe, was für ein ganz eigener Charakter! Fast scheint mein Bengt aus den Bildern herausgefahren zu kommen.

Es ist ja Außenstehenden nicht leicht zu erklären, warum man alte Objektive sammelt. Und zwar gleich Dutzende, von jeder Brennweite mehrere Modelle und Ausführungen. Ich habe heute inzwischen alleine fünf 35-mm-Flektogone, (noch) sechs 135-mm-Sonnare ost- und westdeutscher Herkunft, eine Handvoll Tessare aller möglichen Brennweiten, fast alle erhältlichen Prakticare, mehrere Distagone, etliche Meyers, Rolleis und wie sie alle heißen.

Und wie sie heißen! Es gibt Primotare und Primagone, Primoplane, Pancolore und Planare, Pentacons und Prakticars, Orestors und Orestons, Orestegors und Orestegons, Tessare und Teletessare, Telemegore und Telefogare, Trioplans und Triotare. Und jedes macht andere Bilder, jedes hat seine Vorzüge und Schwächen. In den nächsten Jahren möchte ich sie alle nach und nach kennenlernen.

Das Zeiss-Biotar, mit dem am Sonntag diese Bilder von Bengt und der Schwurbelblume am Rande der Tihange-Menschenkette entstanden, ist so ein Vertreter für einen ganz eigenen Bildcharakter (alle JPGs direkt out of the cam, ohne Nachbearbeitung). Haben diese Fotos nicht etwas ganz Spezielles? Etwas geradezu brennend Nachdrückliches?

Aufgenommen mit fast ganz offener Blende 2.4, ist die Schärfe in der Bildmitte auch heute noch absolut ausreichend. Aber der Hintergrund! Den kriegt keine moderne Linse so hin. Diese Mischung aus Verschwommenheit, Sich-ums-Motiv-herum-Krümmen, von leichtem Schwurbel und dem ganz speziellen Kontrastbild der 50er-Jahre: Das kann nur ein Biotar (und natürlich seine russische Kopie, das Helios).

Mein Biotar mit M42-Gewinde war das erste historische Objektiv, dass ich mir vor einem Jahr von Foto Olbrich in Görlitz habe aufbereiten lassen. Es war ein Schlüsselerlebnis für mich, es danach wieder hin der Hand zu halten, vor knapp einem Jahr. Eine neue Welt tat sich auf.

Kann man von solchen Effekten genug kriegen? Heute kam ein neues Biotar mit der Post. Eine andere Ausführung, mit schnell wechselbarem Exakta-Bajonett statt des M42-Gewindes. Gut zwei Stunden habe ich heute Abend an dem anfangs eher unansehnlichen Alukorpus herumpoliert und -gewienert, bis er halbwegs vorzeigbar war. Man sieht ihm die rund 60 Jahre durchaus an, die er schon durch Fotografenhänden gewandert ist. Doch die Linsen sind klar und scharf wie am ersten Tag. Keine Kratzer, keine Schlieren, kein Nebel und kein Objektivpilz.

Ich habe mich entschieden: Auch wenn der Blendenring etwas verschrammelt und ein wenig schwergängig ist, der Fokusring ein bisschen trocken läuft, reichlich Staubflusen zwischen den Linsen sitzen und der eine oder anderer Kratzer den Tubus ziert, werde ich es behalten. Schon wegen des roten „T“ auf dem Zierring, der auf die aufpreispflichtige, begehrte Vergütung hinweist. Ich werde es bei Olbrich zerlegen, reinigen, neu justieren und zusammenbauen lassen. Und danach wird es ein samtiger Genuss sein, damit Bilder zu machen, so wie mit dem ersten Biotar oder seinem Bruder, dem Alu-Flektogon 2.8 35.

Da liegt es, mein neues Biotar. Bios heißt Leben. Der Name lässt Gedanken aufkommen – wenn Objektive Biografien hätten, was wäre darin zu lesen? Was für Bilder mag dieses Objektiv schon gemacht haben? Die volle Bezeichnung „Carl Zeiss Jena“ und das „T“ statt eines „V“ deutet auf einen Verkauf in der DDR hin. Hat man damit Menschenporträts gemacht, Landschaftsaufnahmen, Technisches oder Blumenbilder? Hat seinerzeit ein Profi dieses in der Nachkriegszeit extrem teure Hochleistungsobjektiv gekauft? Oder ein reicher Amateur, der es kaum benutzt hat?

Wie oft spiegelte sich wohl schon das Bild einer schönen Frau vor dieser Linse? Vielleicht sogar das eines Aktmodells? Oder das eines gutaussehenden Mannes, den eine der wenigen Fotografinnen der Nachkriegsjahrzehnte abgelichtet hat? Eher eines Malochers mit verwittertem Gesicht im Rahmen einer Sozialstudie? Bilder wie die von Gundula Schulze Eldowy? Oder war es eher Industrieromantik, das den Menschen am Auslöser faszinierte? Rauchende Dampflokomotiven, qualmende Fabrikschornsteine? Der Aufbau des Sozialismus in den Anfangsjahren der noch jungen DDR?

Und später dann, hat der Mensch hinter dem Objektiv den Verfall dokumentiert? Subversive Bilder gemacht, die nicht gezeigt werden durften? Von leeren Läden, abblätterndem Putz, gähnenden Fensterhöhlen? Bilder wie die von Siegfried Wittenburg, von Harald Hauswald oder von Gerd Danigel? Oder lagen die Fotos auf Systemlinie? Marschierende NVA-Soldaten im Stechschritt? Plattenbauten, Industriekombinate, davor Reihen ordentlich geparkter Wartburgs, Trabants und Ladas?

Der polierte Aluminiumzylinder erzählt seine Geschichte nicht. Kein Speicherchip lässt sich auslesen, kein Zählwerk verrät auch nur die Anzahl der Auslösungen, die Mechanik schweigt – und funktioniert. Es müssen viele Hundert oder Tausend Filme gewesen sein, die durch diese Glaslinsen Bild für Bild belichtet wurden. Und das Objektiv funktioniert immer noch, hätte nur allmählich gerne einmal etwas neues Schmierfett, dankeschön.

Was für Bilder wird es noch machen, in den kommenden Jahren an meiner Digitalkamera? Ich hoffe, nicht die schlimmsten seiner Karriere. Immerhin eines hat sich geändert im Jahr 2017: Alles ist transparent. Wie gut oder schlecht die Fotos sein mögen, die ich und andere nach mir mit diesem Biotar machen mögen, im Internetzeitalter müssen die Abzüge nicht in irgendwelchen Schubladen verschwinden. Wenn etwas Brauchbares dabei sein sollte: Ihr werdet es hoffentlich erfahren.

Willkommen, Biotar, in meiner Sammlung. Willkommen in meiner fotografischen Biografie.

Mit den Rolleis ins Wollgras

Geplant war es nicht, dass ich neulich mal wieder im Venn gelandet bin. Sonst wäre ich sicher nicht in meinen zweitbesten Schuhen (blaues Wildleder!) und im feinen Jackett angereist. Geplant war, dass ich die Vernissage einer Fotoausstellung besuchen wollte, in der unter anderem Bilder meines Freundes Andreas Gabbert hingen.

Von der aus er dann aber mit seinem Kompagnon Daniel Raab nahtlos weiter zu einem Workshop ins Venn fuhr, den die beiden unter dem Label Fotogara für Fotografie-Interessierte anboten. Ob ich mitwollte, fragte Andreas. Ein mehrstündiger Fotospaziergang durchs Venn, geleitet von zwei Auskennern der Gegend und des Fotografierens? Natürlich wollte ich – Wildleder hin oder her.

Das Venn und ich, das ist ja eine Liebe, die etwas Zeit brauchte, um zu wachsen. Wie verloren irrte ich damals, beim ersten fotografischen Vennspaziergang vor drei Jahren, durch die scheinbar leere Landschaft. Und wie viele Bilder mir heute ins Auge springen.

Plötzlich ist jedes Grasbüschel malerisch, ist jeder Strauch zum Niederknien schön, symbolisiert jedes gebrochene Brett im Holzsteg das dramatische Scheitern des Menschen in der Natur. Oder zumindest einen Investitionsstau im Naherholungsgebiet. Wieso habe ich das früher nicht gesehen?

Und wie vielfältig diese rauhe Natur sein kann. Saftig grünes Gewucher hier, sandfarben dürres Gestrüpp da; leuchtende Blätter und ein paar Schritte weiter verbrannte schwarze Äste. Und natürlich, als Sahnehäubchen an diesem Tag: die weißen Tupfer des Wollgrases. Mal wie Inseln im Grün, mal flächig verteilt als weißes Meer.

Zusammen mit einem Dutzend weiterer Venn- und Fotojünger krieche, recke, balanciere und krabbele ich den ganzen Nachmittag durch die Natur. Als einziger ohne Trekkingschuhe, ohne Gore-Tex-Jacke, ohne Stativ und ohne Kamerarucksack. Und ohne Mittagessen im Bauch – es war halt alles anders geplant gewesen. Aber, hey, die Schuhe haben es überlebt und so war ich am Abend, als wir drei noch zusammen in der „Bodega“ in Imgenbroich den Tag bei Schnitzel und Leffe Revue passieren ließen, mehr als nur etwas zufrieden. Hach, das Venn. Immer gerne hin, immer ein Gewinn.

Noch das übliche Wort zur Ausrüstung: Während der Venngang für mich eine Wiederholungstat war, war es für die Objektive in meiner Tasche (immerhin, eine Tasche mit Objektiven hatte ich schlauerweise noch eingepackt, man geht ja schließlich nicht nackt auf eine Vernissage) eine Premiere. Zum Einsatz kam nämlich – Trommelwirbel – erstmals Familie Rollei. Diese um 1970 für die Rolleiflex SL 35 vorgestellte Objektivserie fällt durch die ausgesprochen kompakten, fast zierlichen schwarzen Fassungen mit geriffelten Fokusringen auf.

Die sechs günstigsten Standardlinsen zwischen 25 und 200 Millimeter hatte ich mir in den vergangenen Monaten nach und nach ge-ebayt. Bevor sie erstmals das Haus verlassen durften, musste allerdings ein Fachmann das trockengelaufene 35er-Distagon neu schmieren und beim Planar 1.8 50 Nebel von der Austrittslinse entfernen.

Eine Familie mit Kompetenz: Da ist der einzigartig aufwendig konstruierte Siebenlinser Planar 1.8 50, der Nahbereichs-Experte Distagon 2.8 25, das ausgewogene Weitwinkel Distagon 2.8 35 und das fantastisch scharfe und kontrastreiche Sonnar 2.8 85, mit dem einfach jede Aufnahme gut wird. Sie wurden jahrzehntelang für mehrere Kamerasysteme weitergebaut, vor allem in der Contax-/Yashica-Version wurden sie weltweit Verkaufsschlager. Fast alle von ihnen sind heute noch für Canon- und Nikon-Kameras zu haben.

Für einen Nachmittag im Venn sind die Rolleis – die beiden größeren Tele-Tessare 4 135 und 4 200 hatte ich zu Hause gelassen – jedenfalls eine mehr als passable Ausstattung. Und darum bestimmt nicht zum letzten Mal dort gewesen – hoffentlich.

Meine blauen Wildlederschuhe allerdings schon. Hoffentlich.

Der Glücksgriff

Sony A7II mit Carl Zeiss Jena Macro-Prakticar, F22
Sony A7II mit Carl Zeiss Jena Macro-Prakticar, F22

Ich freue mich gerade über einen etwas exotischen Vogel, der mir heute Morgen aus der allseits geschätzten Elektrobucht zugeflogen ist.

Darf ich vorstellen? Ein Meyer Optik Primotar E 3.5/50. Das ungewohnte „E“ steht für „Einstellblende“: Das auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1957 neu vorgestellte Objektiv ist für damalige Verhältnisse äußerst modern mit sogenannten hochbrechenden Krongläsern und Tiefflinten konstruiert. Doch die gute Bildqualität hatte ihren Preis in der eher unterwältigenden Offenblende von F3.5 – das berühmte Tessar vom direkten Konkurrenten Carl Zeiss Jena glänzte schon längst mit F2.8. Also kamen die Görlitzer Ingenieure auf den Trick, die Linsen etwas größer anzulegen als für 3.5 nötig wäre. Öffnet der Fotograf nun beim Fokussieren die Blende mit Hilfe eines vorgesetzten zweiten Umschaltrings noch etwas weiter, hat er etwa Lichtstärke 3.0 zur Verfügung (zum Fotografieren ist diese Blende nicht nutzbar). Was eine Menge ausmachte, als man noch kein Liveview hatte, sondern auf das Licht im Sucher angewiesen war…

Einen „Geniestreich“ nennt Marco Kröger diesen Kunstgriff auf seiner lesenswerten Webseite Zeissikonveb.de (von der ich all diese beeindruckenden Fachinformationen gecopypasted habe): „Ich halte dieses Primotar E für das bemerkenswerteste Objektiv, das je in Görlitz entwickelt worden ist.“ Beim Verhältnis von Herstellungsaufwand zu erzielter Bildqualität sei das Primotar E nämlich „ein echtes Optimum“.

In meiner Vitrine bekommt der – wie bei Meyer nicht anders zu erwarten ansehnliche – Silberling einen Platz neben dem Zeiss-Biotar 2.0/58, diversen Tessaren 2.8/50, dem Meyerschen Hochleistungs-Klassiker Primoplan 1.9/58 und dem ja mittlerweile völlig überteuerten Trioplan 2.9/50. Und vervollständigt so meine Alu-Sammlung.

Nachdem der Neuzugang eine Stunde lang mit Mikrofaser- und Silberputztuch vom Dreck der vergangenen 60 Jahre befreit wurde, freut er sich auf den ersten Einsatz an der A7II. Ein paar Probeschüsse deuten schon mal auf brauchbare Schärfe und ein angenehm weiches Bokeh hin, typisch für die Meyer-Linsen aus dieser Zeit. Schade, dass das Primotar nur sechs und auch noch schnurgerade Blendenlamellen hat, statt der damals noch verbreiteten acht bis zehn oder gar deutlich mehr. Was beim „E“ nämlich zur Folge hat, dass die Spitzlichter im Hintergrund immer sechseckig sind, sogar bei Offenblende – ziemlich einzigartig in der Welt der Objektive.

Da liegt er nun und glänzt im Licht, der kleine Zylinder aus Metall und Glas. Der Fokusring läuft wie geschmiert, die Blendenlamellen rasten ein, wie sie sollen. Und das, obwohl die Linse als „für Bastler“ angeboten wurde. Und entsprechend günstig zu haben war.

Willkommen in meiner Sammlung, kleiner Geniestreich. Vielleicht bist du nicht das perfekte 50-Millimeter-Objektiv, nach dem wohl jeder Fotograf sucht. Aber ein Glücksgriff bist du bestimmt.

„Eine Verbesserung jeder Aufnahme“

Sony A7II mit Carl Zeiss Jena Prakticar 1.8/80, ca. F4, 0,8s, ISO 250
Sony A7II mit Carl Zeiss Jena Prakticar 1.8/80, ca. F4, 0,8s, ISO 250

Aufgemerkt: Ein gutes Objektiv braucht eine gute Sonnenblende! Vertrauen auch Sie deshalb auf die bewährte Beda-Qualität! Denn:

„Die Beda-Sonnenblende ist die notwendige Ergänzung jeder Kamera, um bei allen Lichtverhältnissen gut ausgeglichene Bilder zu erhalten.

Malerisch reizvolle Stimmungen, wie auch überraschend lebenstreue Wirkungen werden oft gerade bei den früher meist gemiedenen Aufnahmen gegen das Licht erzielt. Zur Verhütung von Verschleierung oder Spiegelflecken werden die direkt ins Objektiv scheinenden Strahlen abgeblendet.

Bei reflektierenden Objekten im Vordergrunde, wie grell beleuchtete und nassglänzende Straßen, Wasser- oder Schneeflächen, sowie für Farbenbilder ist die Blende unentbehrlich.

Aber auch in allen anderen Fällen bewirkt die Beda-Sonnenblende eine Verbesserung jeder Aufnahme.“

Sagt der Beipackzettel in der originalen DDR-Pappschachtel mit Kantenheftung. Damit sich der Neuzugang aus dem Hause Beda auch gleich wie zu Hause fühlt, darf er einen Teil der Familie gleich mal persönlich kennenlernen.

That escalated quickly

Sony A7II mit Meyer Optik Primagon 4.5 35, f22, 5s, ISO 100
Sony A7II mit Meyer Optik Primagon 4.5 35, f22, 5s, ISO 100

Es lässt sich beim Ersteigern von alten Objektiven auf Ebay nicht vermeiden, dass hin und wieder noch eine alte Kamera dranhängt. Oft sind diese Kombinationen sogar günstiger, weil Objektivsammler nicht in die Kamera-Rubrik schauen. Die Gefahr dabei ist allerdings, frei nach Nietzsche: Wenn du dir die schwarzsilbernen Schönheiten aus der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu lange anschaust, schauen sie irgendwann in dich zurück. Und bringen dich dazu, in einen Drogeriemarkt zu gehen und dich – höflich und etwas vorsichtig, als frage man nach Gummiartikeln zur höchstspersönlichen Freizeitgestaltung – nach etwas zu erkundigen, was du seit etwa zwölf Jahren nicht mehr gekauft hast.

Filme, Sie wissen doch. Nein, keine DVDs, ich meine diese altmodischen Rollenfilme, die man früher in Kameras tat. Kennen Sie sowas gar nicht mehr? Haben Sie die noch?

Verschämt versteckt sich ein Dutzend kleiner Schachteln ganz außen in einer Ecke eines Regals – was für ein kümmerlicher Rest der einst so allgegenwärtigen Analogfotowelt. Ganze vier verschiedene Sorten gibt es noch, von 100, 200 und 400 ASA, dazu eine Schwarzweiß-Variante. Entwickelt wird der Spaß heutzutage für 3 Euro, Foto-CD inklusive.

So schnell verschwindet eine komplette, gut hundert Jahre alte Industrie samt ihren Fotoabgabetresen in jedem Supermarkt, den Großregalen mit Dutzenden von Filmsorten, Doppel, Fünffach- und Familienpackungen und dem ganzen Zubehör. Erinnert ihr euch an die Zettel, auf denen man ankreuzen musste, ob die Abzüge matt oder glänzend sein sollten? 9 mal 13 (billig, aber jämmerlich klein) oder 10 mal 15 (ausreichend groß, aber für einen kompletten Urlaub arg teuer). An die Umschläge mit den Negativstreifen, die immer in die falsche Reihenfolge gerieten?

Wie lange das her ist. Jetzt schaue ich etwas ratlos auf das Aufwickelröllchen im Gehäuse der Exa und weiß nicht mal mehr, wie man den Film dort einfädelt. Immerhin, ein Gutes hat das Digitalzeitalter: Dank Youtube, Fachforen und den Webseiten der Kamerafreaks und Bastler gibt es für jedes Modell ausführliche Anleitungen, Dokumentationen und Tutorials.

Also, Fotografie nach alter Väter Sitte: Ich war lange weg, aber jetzt bin ich wieder da. Schön, dass du auf mich gewartet hast. Kann losgehen jetzt. Äh, wie stellt man eigentlich die richtige Belichtung ein, so ohne Display?

Die Mittelformatigen (hinten links und rechts): Pentacon Six TL (1966-90) und Zeiss Ikon Nettar II 516/17 (1951-53)

Die Kleinbildenden (vorne links, Mitte und vorne rechts ): Zeiss Ikon Pentacon (1956-61), Rolleiflex SL35 (1970-1972) und Ihagee Exa (1959-69).