Was wir nicht sehen, was wir nicht wissen

Die junge Frau fiel auf. Nicht etwa, weil schwarze Menschen im Kölner Stadtteil Raderthal mit seiner hohen Rentnerdichte generell eine Seltenheit wären. Auch nicht, weil sie etwa eine besonders ungewöhnliche Erscheinung gewesen wäre, wie sie da an der Ampel direkt vor meinem Auto über die Straße ging: schwarze enge Shorts, Jacke, nach hinten getürmte Rastalockenfrisur – nichts davon war etwas Besonderes.

Was sie von allen anderen Menschen unterschied, die an diesem warmen Freitagabend gegen 20.30 Uhr auf der Brühler Straße unterwegs waren, war ihr Gang. Wer um diese Zeit an der Ausfallstraße einer deutschen Großstadt stadtauswärts durch ein Wohngebiet marschiert und keinen Vierbeiner an der Leine dabei hat, der will normalerweise irgendwo hin. Hat es eilig, hat ein Ziel. Zu Hause warten Familie, Freunde, Partner, die Couch oder zumindest ein Kühlschrank. Vielleicht sind noch letzte Einkäufe zu machen, heimzuschaffen oder jemand zu besuchen. Um halb Neun am Freitagabend will man endlich ankommen. Wo auch immer.

Doch die junge Frau ging ganz langsam. Den Blick starr geradeaus gerichtet, setzte sie fast mechanisch einen Fuß vor den anderen. Wäre sie etwa halb so alt gewesen, wie ich sie einschätzte, und wäre es früher Nachmittag gewesen, hätte ich gedacht: oh, heute muss Zeugnistag sein, und da hat es jemand gerade gar nicht eilig, seinen Eltern unter die Augen zu treten.

Doch es war weder Zeugnistag noch eine Schule in der Nähe. Noch ein Geschäft, Restaurant oder sonst etwas, wo man in Raderthal um diese Zeit noch hätte hingehen können. Vor der jungen Frau lagen noch hundert Meter Wohnhäuser auf beiden Seiten, dann die um diese Zeit menschenleere Konrad-Adenauer-Kaserne und dahinter bereits der Militärring mit seinem Grüngürtel, der die Stadtgrenze Kölns markiert.

Ein paar hundert Meter weiter liegt, an einem Parkplatz, der Straßenstrich.

Für jeden Menschen, dessen detektivische Fähigkeiten nicht mit denen konkurrieren können, die Sir Arthur Conan Doyle seinem Sherlock Holmes mitgegeben hat, dürfte es schwer bis unmöglich sein, aus dem Gang eines Menschen auf seinen Broterwerb zu schließen. Ich bin denn auch alles andere als sicher, dass meine Vermutung zutraf. Wenn ich selbst zu Fuß auf derselben Strecke unterwegs bin, ist mein Ziel der Kalscheurer Weiher im Grüngürtel, wo sich zu jeder Tageszeit die Spaziergänger gleich im Dutzend über den Haufen laufen. Wer kann denn schon mit Sicherheit sagen, dass die junge Frau nicht einfach nur einen entspannten Spaziergang im letzten Abendlicht im Sinn hatte? Ein romantisches Treffen mit einem Lover auf der Parkbank? Ornithologische Beobachtungen an der Vogelinsel im See?

Doch meine Ahnung sagte etwas anderes. Hier ging jemand, der zwar ein Ziel hatte, aber mit äußerstem Widerwillen dahin unterwegs war. Ich weiß nicht viel über Prostituierte und ihre Lebensumstände, aber acht Tage zuvor hatte ich tatsächlich so etwas wie eine kurze, traurige Berührung mit dieser Welt gehabt, die sich meist so unsichtbar unter der Oberfläche unserer Gesellschaft abspielt.

Am Donnerstag der Vorwoche war ich gegen halb elf am Abend nach dem üblichen Sport und einem Tankstopp in Eynatten auf der nächtlichen A44 in Richtung Aachener Kreuz unterwegs gewesen, als auf der Gegenrichtung kurz hinter Aachen-Brand ein großer Auflauf an Polizei, Technischem Hilfswerk, Scheinwerfern und Warnlampen in Sicht kam. Ich stoppte am nächsten Rastplatz, rief den Redaktionsspätdienst an und erfuhr: Dort war in einem Gebüsch direkt neben der Fahrbahn eine Leiche gefunden worden, die einer jungen Frau.

Die Tote war Afrikanerin und so mager, dass Spekulationen aufkamen, sie sei von Schleusern zu Fuß über die belgisch-deutsche Grenze geschmuggelt worden und dabei vor Entkräftung und Hunger gestorben. In den Tagen darauf fanden die Behören heraus, dass die Frau 30 Jahre alt gewesen war und ursprünglich aus Uganda stammte. Über ihre letzte Zeit in Aachen wurde nur bekannt, dass sie drogenabhängig geworden war und, wie so viele Menschen mit diesem Schicksal, ihren Körper verkauft hatte. Wie ihre sterblichen Überreste in das Gebäusch gelangt waren; ob sie selbst dahin gegangen war oder jemand ihre Leiche dort abgelegt hatte, wusste niemand. Ebensowenig, ob sie an einer Überdosis, einer Krankheit oder etwas anderem gestorben war.

Doch wie auch immer ihre letzten Stunden ausgesehen haben mochten: Einmal war auch sie ein kleines Mädchen gewesen, das mit Freundinnen spielte, lachte und weinte, Träume und Hoffnungen hatte – und ein ganzes Leben vor sich. Ein Leben, das im Frühjahr 2014 am Rand von Aachen in einem Gebüsch an einer Autobahn enden sollte.

Nachdem ich meinen Wagen vor dem Haus geparkt und die Einkäufe aus dem Kofferraum geholt hatte, sah ich der jungen Frau noch einmal nach, wie sie weiter langsam die Straße hinunterging. Mich erwartete das, was die meisten Mitteleuropäer nach Feierabend erwartet: ein gemütliches Zuhause, ein Abendbrot, ein Bett. Was erwartete sie am Ende ihres Weges? Wenn es das war, was ich vermutete: Tat sie es freiwillig? Unter Zwang? Für sich selbst oder für jemand anderen? Für einen Mann? Ein Kind? Ihre Familie?

Unsere kleine, mehr oder weniger heile mitteleuropäische Welt mit all ihren Annehmlichkeiten und Selbstverständlichkeiten ist nur eine von vielen. Es gibt andere Welten, mit Zwängen und Abhängigkeiten; Welten, die wir nicht sehen, von denen wir keine Ahnung haben. Und die uns manchmal doch so nahe sind, dass wir sie mit ausgestreckter Hand berühren könnten.

Und wenn wir das Glück haben, in einer Welt leben zu dürfen, die von liebe- oder zumindest respektvollen Menschen bevölkert wird und wir einer Arbeit nachgehen dürfen, die uns nicht nur irgendwie gerade am Leben hält, sondern vielleicht sogar gefällt oder gar inspiriert – dann sollten wir von Zeit zu Zeit all denjenigen da draußen einen Gedanken schenken, denen dieses Glück nicht gegeben ist.

Blick auf die Zukunft

Als ich am Mittwoch mit dem Rad die Bonner Straße entlang in die Kölner Südstadt radelte, da hätte ich die Zukunft fast übersehen, so müde und verschlafen war ich noch.

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Die Zukunft stand am Straßenrand, unauffällig zwischen andere Autos geparkt. Und tat so, als wäre sie einer dieser Jaguar XF oder Maserati Quattroporte, die man in Köln ja gar nicht so selten sieht. Hätte sie nicht auf den Seitentüren Aufkleber getragen, die sie als Zukunft erkennbar machten, ich wäre glatt an ihr vorbeigefahren.

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So aber stieg ich erst voll in die Eisen und dann vom Rad. Gut, dass ich die Handykamera dabei hatte. Hat sie nicht bildschöne Linien, die Zukunft?

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Und auf was für schicken Rädern sie angerollt kommt…

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Ihr Innenleben hält sie dagegen geheimnisvoll versteckt. Durch die spiegelnden Scheiben das elegante Armaturenbrett mit Lederbezug und Edelholzeinlagen zu fotografieren, war fast unmöglich. Immerhin ist das mächtige Hochkant-Display in der Mitte zu sehen.

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Und dann diese Detaillösungen. Die liebevoll gestalteten Klappspiegel. Die bündig mit der Außenhaut abschließenden, verchromten Türgriffe (die ich so noch nirgendwo gesehen habe). Die komplett geschlossene, äh, „Kühler“-Maske.

Es ist ein Tesla Model S, seit 2012 im Handel erhältlich und zu hundert Prozent elektrisch, wie es auf den Türaufklebern draufsteht. Der große Bruder des Roadsters, der neulich in Aachen an der Ampel neben mir stand. In der Version mit 60-KWh-Batterie (knapp 400 Kilometer Reichweite) für gut 65.000 Euro, in der mit 85-KWh-Batterie (rund 500 Kilometer) ab 75.000 Euro zu haben. Die Sportvariante schließlich beschleunigt in 4,4 Sekunden auf Tempo 100, rennt 210 km/h (wie lange, steht nicht auf der Firmenseite) und kostet fast 88.000 Euro. Aufpreispflichtige Extras wie Alcantara-Dachhimmel oder Premium-Innenbeleuchtungspaket gibt es reichlich – für die Leute, die auch in der Zukunft immer noch mehr haben müssen als alle anderen.

Er fügt sich optisch wirklich nahtlos in die Reihe der Premiumlimousinen ein. Ein Quattroporte, wenige hundert Meter weiter unten an derselben Straße geparkt, leugnet die Klassenzugehörigkeit nicht.

Die Zukunft ist hierzulande noch ein bisschen exklusiv. In den USA war der Model S im vergangenen Jahr das meistverkaufte Luxusauto (rund 18.000 Stück gegenüber 13.000 S-Klasse-Mercedes). Doch wenn man die Augen offenhält, begegnet einem die Zukunft auch bei uns öfter, als man geahnt hätte: Nur wenige Stunden später kommt mir am selben Tag das zweite S-Modell entgegen. Nicht etwa in Köln, mit Münchner Kenzeichen. Sondern in Eschweiler. Mit HS(!)-Nummernschild. Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr: Wenn sie erstmal in Heinsberg angekommen ist, dann ist sie bald überall, die Zukunft.

Abendflug

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Schöne Stadt, Aachen. Ich glaube, ich zieh demnächst mal hin.

(Die Bilder zeigen Vaals, Klinikum und Campus Melaten vor einem original Öcher Schauer, Stadtgarten, Quellenhof und Kasino, Europaplatz und Jülicher Straße sowie die beiden Verantwortlichen.)

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Die bildhübsche ASK 16 hat FVA-Mitglied Jackson vor einigen Wochen in der Schweiz gekauft und sie den Motorseglerpiloten des Vereins zur Verfügung gestellt. Beim jährlichen Segelfluglager in Feuers hatte ich vor Ostern ein paarmal Gelegenheit, mit der 40 Jahre jungen Maschine ein paar Runden zu drehen (das neueste Headerbild dieses Blogs mit der Dimona im Abendlicht ist bei so einem Flug entstanden). Mit ihrem einziehbaren Fahrwerk und dem verstellbaren Propeller ist sie ein echtes High-Tech-Schnuckelchen der Siebziger – und mit 200 km/h Spitze auch ganz schön schnell.

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Ihr größter Vorteil ist, dass sie mit wenigen Handgriffen auf- und abgerüstet ist. Jedenfalls auf dem Papier. In der Praxis wuchteten vier Mann heute doch ein paar Minuten länger als erwartet an den Flächen. Für den Einpersonenbetrieb ist das jedenfalls nichts. Selbst zwei Erwachsene dürften ganz gut zu tun haben, den Flieger vor jedem Start zusammenzustecken…

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Doch mit etwas Übung sollte auch das irgendwann flutschen. Das Cockpit jedenfalls ist seit Ostern durch den Höhenmesser in Fuß-Einteilung ein deutliches Stück erwachsener geworden (es hat nicht zur Professionalität meines Funksprechverkehrs beigetragen, beim Anflug auf St. Etienne-Chambéon die englischsprachigen Höhenangaben in Fuß vom Towerlotsen erstmal auf die metrische Skala des alten Höhenmessers übertragen zu müssen).

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Der nächste Schritt soll übrigens ein flammneues Funkgerät sein. Das Alte produzierte beim heutigen Platzrundendrehen so starke Rückkopplungen, dass der „Co“ das Funken übernehmen musste (weshalb ich auf dem Foto oben mal ungewohnt Motorsegler ohne Headset fliege).

Hat Spaß gemacht. Ich glaube, das war nicht die letzte Runde über Aachen.

Kleiner Rückblick

Habe mich heute spontan entschlossen, das Layout dieses Blogs auf das aktuelle WordPress-Theme Twenty Fourteen zu aktualisieren. Richtig hübsch fand ich das alte Design Twenty Eleven eh nicht mehr. Nach vielstündiger Konfigurier- und Anpassarbeit sieht das Ergebnis so aus:

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Das Headerbild ist von 1000 auf 1260 Pixel Breite gewachsen und geht jetzt über die volle Breite meines Monitors. Die Bildhöhe habe ich vom alten Layout beibehalten, mit 460 Pixel ist das Headerformat bei mir dadurch merklich mächtiger als defaultmäßig vorgeschlagen. Aber beim Beschneiden meiner Headerfotos habe ich wieder gemerkt, dass es den Motiven gut tut, nicht allzu flach gesäbelt zu werden.

Es war zwar reichlich Arbeit, die alten Fotos nochmal aus dem Archiv herauszusuchen und neu zu bearbeiten, aber das Ergebnis gefällt mir ausgezeichnet. Besonders hübsch an Twenty Fourteen finde ich den schlanken, eleganten Überschriften-Font und die netten „Tag“-Schildchen unter den Artikeln.

Hier nochmal die alte Seite zum Vergleich:

2014_05_10_Marc-Heckert Screenshot Twenty Eleven

Ach ja. Es hat sich schon einiges verändert, seit dieses Blog Anfang 2007 unter http://moorbraun.twoday.net erstmals ins Netz ging. Damals spiegelten die Farben noch die des Dieselcoupés wieder: Der Hintergrund moorbraun, der Textkasten cremebeige – oder was Photoshop stattdessen ausgab.

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Und dann war da noch Pilotblog.de, das im November 2007 unter http://pilotblog.blog.de startete. Für mein anderes Hobby Fliegen, und weil ich mehrere Bloghoster testen wollte. Schließlich hatten die Alphablogger jener Tage wie Don Alphonso auch mehrere Blogs…

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Blog.de war deutlich moderner und schicker als das mit der Zeit immer steinzeitlicher anmutende Twoday-Interface. Doch irgendwann wurde mir das Gefummel mit zwei unterschiedlichen Seiten zuviel und die Pausen zwischen meinen Beiträgen immer länger, zumal man bei Twoday für große Bilder immer noch auf Flickr verweisen musste.

So wäre es mit dem Bloggen irgendwann wohl vorbei gewesen, hätte ich nicht im Sommer 2012 den Hintern hochbekommen und bei Alfahosting dieses WordPress-Blog hier unter der neuen Adresse www.marc-heckert.de eingerichtet. In den Monaten danach wuchsen Moorbraun.de und Pilotblog.de hier zusammen. Seitdem macht das Bloggen wieder Spaß, sogar dank iPad- und Android-App sogar von unterwegs aus. Und dank der WordPress-Community ist die Software immer auf dem neuesten Stand.

Einziger Wermutstropfen: In monatelanger Arbeit durfte ich die bis dato 434 Artikel auf Moorbraun, die rund 60 Pilotblog-Beiträge und noch rund 100 Texte des mittlerweile abgeschalteten AZ/AN-Blogs „Moin Oche“ händisch hier herüberkopieren, samt Bildern und Leserkommentaren. Manchmal bestraft das Leben nicht nur den, der zu spät kommt – sondern auch den, der zuviel will.

Mitfahrgelegenheit VII: Näher, mein Gott, zu dir

Haben wir Vorurteile? Ressentiments gegenüber Ausländern, Andersfarbigen oder sonstigen Mitbürgern, die nicht so aussehen wie wir? Was für eine Frage, natürlich nicht!

Aber was schießt uns durch den Kopf, wenn nachts um halb Elf an einer Tankstelle zwei schwarze Männer zu uns ins Auto steigen? Also keine depressiven Teenager in emo-schwarzen Klamotten, sondern echte, afrikanischstämmige Erwachsene? Wer schon ein paar hundert Menschen aus allen Kontinenten von A nach K gebracht hat, der ist vielleicht gegenüber neuen Mitfahrern aus anderen Erdteilen tendenziell einen Hauch entspannter als jemand, der noch die in der Kindheit eingehämmerte Reserviertheit gegenüber fremden Männern im Kopf hat. Von der sprichwörtlichen Furcht vorm schwarzen Mann aus dem Kinderspiel ganz zu schweigen.

Trotzdem muss ich gestehen, dass mir blitzartig die Frage durchs Hirn ging, wie die heutige spätabendliche Heimfahrt wohl verlaufen würde. Der auf den Beifahrersitz kletternde Mitfahrer, der die Fahrt gebucht hatte, hatte am Telefon nicht überströmend herzlich geklungen – ein Eindruck, der sich beim Anbordgehen des Duos nicht wesentlich änderte. Sein Kompagnon machte einen aufgeräumteren Eindruck. Nachdem beide meiner Bitte nachgekommen waren, sich anzuschnallen, rollten wir los. Vor uns 65 nachtschwarze Kilometer bis Köln.

Die ersten zehn Minuten verflossen ereignislos – unterbrochen nur durch ein Handytelefonat des Vornesitzenden in jener fließenden Mischung aus Deutsch und Französisch, die so viele Afrikaner zu sprechen scheinen. Der junge Mann auf der Rückbank erkundigte sich höflich nach dem Typ meines Mercedes; wir wechselten ein paar Sätze über Vor- und Nachteile der älteren und neueren Modelle aus Stuttgart.

Schließlich kam von hinten der Satz, der dem Abend eine gänzlich unerwartete neue Drehung gab. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie so frage, aber: Glauben Sie an Gott?“

Auch wenn das grundsätzlich keine völlig abwegige Frage ist – auf stockfinsterer Autobahn habe ich sie noch nicht gestellt bekommen. Waren das Missionare? Ich verdrängte den Gedanken an die Umstände, unter denen im Film „Pulp Fiction“ Jules Winnfield alias Samuel L. Jackson Hesekiel (25:17) zitiert. Zögernd gab ich den Herren Einblick in meine Sichtweise auf Schöpfer und Schöpfung. Und siehe, es stellte sich heraus, dass sie Studenten waren, Studenten aus Bonn. Studenten der Theologie.

Vor fremden Menschen im Auto habe ich meine Scheu mittlerweile weitgehend abgelegt. Gegenüber religiösen Zeitgenossen bin ich noch nicht ganz so ungezwungen im Umgang. Doch die Unterhaltung gewann mit jedem Kilometer an Tiefgang: Von der grundsätzlichen Frage nach der Existenz Gottes kamen wir auf die Rolle des Glaubens im Alltag und zur Bedeutung der Nähe zu Gott. Schließlich erläuterte der Mann auf dem Beifahrersitz die Bedeutung, die Jesus‘ Kreuztod für uns Menschen hatte: Galt zur Zeit des Alten Testamentes noch, dass verdammt war, wer auch nur eines von Gottes Geboten gebrochen hatte, so genießt der Mensch seit Jesus‘ Tod die Gnade, auch als Sünder die Vergebung Gottes erlangen zu können. Und nur Jesus als Mensch gewordener Gott konnte auf diese Weise unsere Sünden aufheben, denn: „Er war das perfekte Opfer, das perfekte Lamm, weil er ohne Fehler war.“

Ich staunte. So schön, so verständlich hatte mir noch niemand erklärt, warum sich Gottes Sohn ans Kreuz hatte schlagen lassen müssen. Was ich auch zugab. Worauf von der Rückbank kam: „Ich habe das aber auch noch nie so toll gehört.“ Wir lachten alle.

Als wir in Klettenberg von der Autobahn fuhren, war meine Stimmung ins Nachdenkliche geschlagen. Wenn es einen Gott gibt, wie kann man seine Nähe suchen? Lässt er sich um Rat fragen? Bietet er Hilfe bei Entscheidungen, vor denen wir ratlos sind?

Ein paar Minuten später stoppten wir an der Straßenbahnhaltestelle Sülzgürtel. Ich verzichtete auf das Fahrtgeld. Zum einen, weil mir die Denkanstöße der vergangenen halben Stunde mehr wert waren. Zum anderen, weil ich mich ein wenig schämte: dass ich, als die Jungs in meinen Wagen stiegen, als erstes nicht an Theologiestudenten gedacht hatte.

Einmal runderneuern, bitte

„Ja, lohnt das denn überhaupt noch?“, wird so mancher fragen. Mehr als 1000 Euro in ein Auto zu stecken, dessen Auslieferungstag sich gerade zum 20. Mal jährt – und das in diesem Zustand schon für irgendwas um die 2000 Euro auf dem Markt zu haben ist. Ein Auto ohne Beifahrerairbag, ohne Kopfstützen hinten, ohne elektrische Fensterheber, ohne Klimaanlage, Tempomat und selbstverständlich ohne Ledersitze, Edelholzarmaturenbrett, Chrom in den Stoßleisten, fünften und sechsten Zylinder und was die Aufpreisliste damals sonst noch hergab. Und das auch noch schon fast 300.000 Kilometerchen auf der Uhr hat.

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Man kann natürlich sagen: Das Geld hättest du mal lieber auf Seite gelegt und demnächst einen halben Neuen damit bezahlt. Was einerseits wahr ist. Aber andererseits negiert, dass dieser unscheinbare classicweiße Geselle in seiner Basismotorisierung und (Fast-)Buchhalterausstattung eine Gasanlage in sich trägt, für deren Einbau 2500 Euro auf den Werkstatttisch zu blättern sind. Und man sich ein Auto, das pro 100 Kilometer gerade mal läppische 4,50 Euro wegnuckelt, auch erstmal basteln muss.

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Und: Dass ich ihn inzwischen mag. Sehr sogar. Seit er mir im Juni 2011 zugelaufen – und dem Verschrotter gerade noch von der Presse gesprungen – ist, hat er mich in einer so unaufgeregten Weise durch die Welt gefahren, wie man sie sich von einem professionellen Butler nicht schöner wünschen könnte. Stolze 120.000 Kilometer ist das jetzt her – dreimal um die Erde. Klar, der Butler ist längst im gesegneten Rentenalter, hier und da hat es auch schon mal etwas geknirscht. Da war das heulende Radlager letztes Jahr auf dem Weg nach Feurs (aber wessen Kniescheibe knackt nicht gelegentlich?), da war das neue Getriebe im Herbst (aber setzt man einen Hausdiener vor die Tür, weil er einen Herzschrittmacher braucht?). Stehengeblieben ist er nie, wenn man die gestorbene Batterie auf dem Campingplatz in Frankreich bei der Portugalreise 2011 mal wegdenkt (und wer hat morgens nicht schon mal verschlafen?). Nicht ein einziges Mal habe ich ihn verflucht, weil er musste und nicht mehr wollte. Was ihn positiv von einigen anderen Autos unterscheidet, die zu fahren ich das manchmal zweifelhafte Vergnügen hatte. Und 120.000 Kilometer, das ist schon ein komplettes Autoleben, verbracht größtenteils auf der A4 zwischen Köln-Eifeltor und Aachen-Rothe Erde. Es waren 120.000 entspannte und angenehme Kilometer.

Ich mag sogar sein Äußeres, das die Unaufgeregtheit seines Charakters so stimmig widerspiegelt. Diese klaren Linien ohne wirr hineingebügelte Kanten oder wild gefletschte Lufteinlässe, dieses abgrundtief nüchterne und dabei so grundsolide Innere ohne jedes verchromte Bling-Bling (den Ausruf „boah, was für ein cooles Retro-Auto!“ einer Mitfahrererin werde ich nie vergessen). Als dieses Design entwickelt wurde, war gerade die Mauer gefallen, und trotzdem wirken die im automobilen Alltag immer noch allgegenwärtigen W202 so vertraut wie zeitlos. Und die Käseecken-Rücklichter, Anfang der Neunziger das Höchstdenkbare an Stuttgarter Schrillheit, fallen heute ungefähr so auf wie gefärbte Männerhaare in einer Fußgängerzone. Nämlich gar nicht.

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Also hat er sie bekommen, die nochmal ganz große Rundumrenovierung. Zwei neue gebrauchte Kotflügel vorne, einer frisch lackiert. Den Rempelschaden im Stoßfänger vorne rechts gespachtelt und gelackt. Die Rostansätze aus den hinteren Radläufen getilgt. Kantenschäden an der Fahrertür beseitigt und übertüncht. Ein neuer Antennenstab. Neue Stabilisatorgummis. Eine neue Wasserpumpe. Und, nur fürs Auge, aber dafür um so schöner: Endlich verstärkte hintere Federn, weil unserem treuen Diener dank LPG-Tank und Anhängerkupplung der Hintern doch immer etwas tief hing. Jetzt sieht es aus, als ob das Mini-Muscle-Car vor lauter Drehmoment kaum die Räder auf die Straße bekommt.

Und das Beste: Alles ist noch vor Feurs 2014 fertiggeworden. Wie ein Brett liegt der Wagen wieder auf der Straße, die frische Optik scheint sogar auf die Motorleistung heilende Auswirkungen gehabt zu haben. Der Butler strahlt. Eine neue Lackschicht ist wie ein neues Leben.

Tankentreffen

Und als ich am Abend nach dieser ganz persönlichen Geburtstagsüberraschung mal wieder an meiner Stammtanke in Eynatten für 48 Cent pro Liter den Gastank vollmache, da tut mir der ebenfalls bestens gepflegte C200 an der Zapfsäule rechts neben mir, trotz seiner 14 Mehr-PS, sogar etwas leid. Hängt ja doch etwas tief, der Hintern.

Flache Freunde

Neulich, auf dem Parkplatz eines größeren Aachener Supermarktes. Was versteckt sich denn da Niedliches zwischen den großen Autos?

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Schau an. Auch ein Kleinwagen muss im automobilen Alltag also nicht zur grauen Maus gerinnen. Welche Wunder eine auffällige Lackierung doch wirken kann…

Das Foto des flachen Freundchens – es handelt sich um einen Lotus Elise – löste auf Twitter einige fröhliche Kommentare aus, die Euch vorzuhalten nicht meine Absicht sein kann:

Lotus-Effekt