Heimkehr nach Trollhättan

Seit gut zwei Jahren bringt mich Bengt durch den Alltag, ein Saab 900 der zweiten Generation. Und auch wenn mich sein Verbrauch nicht restlos glücklich macht, Automatik, Klimaanlage und Autogasanlage fordern ihren Triple-Tribut , bin ich fahrtechnisch mit ihm nach 50.000 pannen-, wenn auch nicht reparaturfreien Kilometern durchaus zufrieden. Dafür hatte er sich eine Belohnung verdient: Als jetzt ein Schwedenurlaub anstand, gab’s einen Abstecher in die Heimat der Saabs, nach Trollhättan nördlich von Göteborg.

Das Saab Car Museum an der Åkerssjövägen 18 wird privat betrieben, ist folglich nicht allzu groß und nicht mit den offiziellen Werksmuseen etwa von BMW in München oder Mercedes in Stuttgart vergleichbar. Wer Fan der verblichenen schwedischen Automarke mit den skurrilen Autos ist, dem geht hier aber das Herz auf.

Rund 120 Fahrzeuge stehen hier in der Halle in der ehemaligen Nohab-Lokomotivfabrik im Technologiepark Innovatum. Die Sammlung sollte nach der endgültigen Saab-Insolvenz öffentlich versteigert werden, aber mit Unterstützung der schwedischen Großindustriellen-Familie Wallenberg konnte sie gerettet und als Ganzes wieder der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden.

Fotografisch begleiten durfte mich nach Trollhättan ein einziges Objektiv, das Schacht Ulm Travelon 1.8 50. Mit einem 50-Millimeter-Objektiv in ein Automuseum zu gehen, wo man sicher auch hervorragend mit dem Ultraweitwinkel spielen kann, mag eine etwas seltsame Idee sein. Für mich schließt sich damit ein Kreis, der im September 2015 mit dem Besuch des BMW-Museums begonnen hatte.

Damals hatte ich in München meinen Cousin Frank besucht, den ich davor jahrzehntelang nicht gesehen hatte. Als der Kontakt kurz zuvor wieder aufgelebt war, musste ich erfahren, dass er an Krebs erkrankt war. Ich wollte ihn unbedingt treffen und er lud mich ein, in seinem leeren Appartement zu wohnen, was ich auch tat. Seine Krankheit erlaubte nur eine kurze, aber um so emotionalere Begegnung im Krankenhaus.

Auf seine Empfehlung – er war selbst Autofan, besaß mehrere historische Geländewagen vom Typ VW Iltis – besuchte ich am Tag darauf das BMW-Museum und war schwer begeistert von den Fahrzeugen, der Art ihrer Präsentation – und den Fotos, die meine Kamera mit einem alten Canon FD 1.4 50 gemacht hatte. Es stand irrtümlich fest auf Offenblende, was den Bildern einen 3D-Effekt verlieh, wie ich ihn zuvor nicht kannte. Es war mein fotografisch bis dahin schönstes Erlebnis. Zugleich beflügelte in diesen Sommertagen die Welle der Hilfsbereitschaft in Deutschland während der anschwellenden Flüchtlingskrise meine Stimmung.

Frank überlebte seine Krankheit nicht, er starb im Frühjahr darauf. Trotz der Trauer blieb mir ein Gefühl der Dankbarkeit, ihn vor seinem Tod noch einmal getroffen haben zu dürfen. Wenn ich heute mit einem 50er-Objektiv in einem Museum Autos fotografiere, denke ich an die Begegnung von damals zurück.

Von Biotaren und Biografien

Das Biotar 2 58 von Carl Zeiss Jena ist einer der Klassiker in der Geschichte der Fotografie. Schon 1946, gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ging das berühmte Standardobjektiv der Vorkriegszeit wieder in die Produktion. Die Konstruktion mit sechs Linsen erhielt eine neue Fassung und – je nach Ausführung – vergütete Gläser, die gegen Streulichteinfall immun machen sollten.

Mit einer Offenblende von f2.0 ist es für die 50er Jahre sehr lichtstark. Fotografen lieben den spiralförmigen Schwurbel-Effekt – auch „Swirly Bokeh“ genannt – bei unruhigem Hintergrund, etwa Baumkronen oder Gebüschen. Spitzlichter im Hintergrund werden zu Ellipsen – „Cat’s Eyes“ – und arrangieren sich in Kreisform um das Hauptmotiv. Könner können so regelrechte Heiligenscheine erzeugen.

Doch auch wenn gerade kein Frauenkopf vor Parklandschaft zur Hand ist: Mich fasziniert das nachdrückliche Rendering der Biotar-Bilder. Was für eine Schärfe, was für ein ganz eigener Charakter! Fast scheint mein Bengt aus den Bildern herausgefahren zu kommen.

Es ist ja Außenstehenden nicht leicht zu erklären, warum man alte Objektive sammelt. Und zwar gleich Dutzende, von jeder Brennweite mehrere Modelle und Ausführungen. Ich habe heute inzwischen alleine fünf 35-mm-Flektogone, (noch) sechs 135-mm-Sonnare ost- und westdeutscher Herkunft, eine Handvoll Tessare aller möglichen Brennweiten, fast alle erhältlichen Prakticare, mehrere Distagone, etliche Meyers, Rolleis und wie sie alle heißen.

Und wie sie heißen! Es gibt Primotare und Primagone, Primoplane, Pancolore und Planare, Pentacons und Prakticars, Orestors und Orestons, Orestegors und Orestegons, Tessare und Teletessare, Telemegore und Telefogare, Trioplans und Triotare. Und jedes macht andere Bilder, jedes hat seine Vorzüge und Schwächen. In den nächsten Jahren möchte ich sie alle nach und nach kennenlernen.

Das Zeiss-Biotar, mit dem am Sonntag diese Bilder von Bengt und der Schwurbelblume am Rande der Tihange-Menschenkette entstanden, ist so ein Vertreter für einen ganz eigenen Bildcharakter (alle JPGs direkt out of the cam, ohne Nachbearbeitung). Haben diese Fotos nicht etwas ganz Spezielles? Etwas geradezu brennend Nachdrückliches?

Aufgenommen mit fast ganz offener Blende 2.4, ist die Schärfe in der Bildmitte auch heute noch absolut ausreichend. Aber der Hintergrund! Den kriegt keine moderne Linse so hin. Diese Mischung aus Verschwommenheit, Sich-ums-Motiv-herum-Krümmen, von leichtem Schwurbel und dem ganz speziellen Kontrastbild der 50er-Jahre: Das kann nur ein Biotar (und natürlich seine russische Kopie, das Helios).

Mein Biotar mit M42-Gewinde war das erste historische Objektiv, dass ich mir vor einem Jahr von Foto Olbrich in Görlitz habe aufbereiten lassen. Es war ein Schlüsselerlebnis für mich, es danach wieder hin der Hand zu halten, vor knapp einem Jahr. Eine neue Welt tat sich auf.

Kann man von solchen Effekten genug kriegen? Heute kam ein neues Biotar mit der Post. Eine andere Ausführung, mit schnell wechselbarem Exakta-Bajonett statt des M42-Gewindes. Gut zwei Stunden habe ich heute Abend an dem anfangs eher unansehnlichen Alukorpus herumpoliert und -gewienert, bis er halbwegs vorzeigbar war. Man sieht ihm die rund 60 Jahre durchaus an, die er schon durch Fotografenhänden gewandert ist. Doch die Linsen sind klar und scharf wie am ersten Tag. Keine Kratzer, keine Schlieren, kein Nebel und kein Objektivpilz.

Ich habe mich entschieden: Auch wenn der Blendenring etwas verschrammelt und ein wenig schwergängig ist, der Fokusring ein bisschen trocken läuft, reichlich Staubflusen zwischen den Linsen sitzen und der eine oder anderer Kratzer den Tubus ziert, werde ich es behalten. Schon wegen des roten „T“ auf dem Zierring, der auf die aufpreispflichtige, begehrte Vergütung hinweist. Ich werde es bei Olbrich zerlegen, reinigen, neu justieren und zusammenbauen lassen. Und danach wird es ein samtiger Genuss sein, damit Bilder zu machen, so wie mit dem ersten Biotar oder seinem Bruder, dem Alu-Flektogon 2.8 35.

Da liegt es, mein neues Biotar. Bios heißt Leben. Der Name lässt Gedanken aufkommen – wenn Objektive Biografien hätten, was wäre darin zu lesen? Was für Bilder mag dieses Objektiv schon gemacht haben? Die volle Bezeichnung „Carl Zeiss Jena“ und das „T“ statt eines „V“ deutet auf einen Verkauf in der DDR hin. Hat man damit Menschenporträts gemacht, Landschaftsaufnahmen, Technisches oder Blumenbilder? Hat seinerzeit ein Profi dieses in der Nachkriegszeit extrem teure Hochleistungsobjektiv gekauft? Oder ein reicher Amateur, der es kaum benutzt hat?

Wie oft spiegelte sich wohl schon das Bild einer schönen Frau vor dieser Linse? Vielleicht sogar das eines Aktmodells? Oder das eines gutaussehenden Mannes, den eine der wenigen Fotografinnen der Nachkriegsjahrzehnte abgelichtet hat? Eher eines Malochers mit verwittertem Gesicht im Rahmen einer Sozialstudie? Bilder wie die von Gundula Schulze Eldowy? Oder war es eher Industrieromantik, das den Menschen am Auslöser faszinierte? Rauchende Dampflokomotiven, qualmende Fabrikschornsteine? Der Aufbau des Sozialismus in den Anfangsjahren der noch jungen DDR?

Und später dann, hat der Mensch hinter dem Objektiv den Verfall dokumentiert? Subversive Bilder gemacht, die nicht gezeigt werden durften? Von leeren Läden, abblätterndem Putz, gähnenden Fensterhöhlen? Bilder wie die von Siegfried Wittenburg, von Harald Hauswald oder von Gerd Danigel? Oder lagen die Fotos auf Systemlinie? Marschierende NVA-Soldaten im Stechschritt? Plattenbauten, Industriekombinate, davor Reihen ordentlich geparkter Wartburgs, Trabants und Ladas?

Der polierte Aluminiumzylinder erzählt seine Geschichte nicht. Kein Speicherchip lässt sich auslesen, kein Zählwerk verrät auch nur die Anzahl der Auslösungen, die Mechanik schweigt – und funktioniert. Es müssen viele Hundert oder Tausend Filme gewesen sein, die durch diese Glaslinsen Bild für Bild belichtet wurden. Und das Objektiv funktioniert immer noch, hätte nur allmählich gerne einmal etwas neues Schmierfett, dankeschön.

Was für Bilder wird es noch machen, in den kommenden Jahren an meiner Digitalkamera? Ich hoffe, nicht die schlimmsten seiner Karriere. Immerhin eines hat sich geändert im Jahr 2017: Alles ist transparent. Wie gut oder schlecht die Fotos sein mögen, die ich und andere nach mir mit diesem Biotar machen mögen, im Internetzeitalter müssen die Abzüge nicht in irgendwelchen Schubladen verschwinden. Wenn etwas Brauchbares dabei sein sollte: Ihr werdet es hoffentlich erfahren.

Willkommen, Biotar, in meiner Sammlung. Willkommen in meiner fotografischen Biografie.