Das letzte Meyer

In der Facebookgruppe „Fotografie mit manuellen Objektiven“ habe ich gerade ein kleines Ratespielchen für die Auskenner gespielt. Das hier brachte heute Morgen der Hermes-Bote (nach einer halben Ewigkeit, orr): eine stinknormale, etwas abgenutzte Praktica MTL-5B mit dem hunderttausendfach gebauten Standardobjektiv Prakticar 1.8 50.

Nichts besonderes, oder? Doch.

Was wir hier sehen, ist nicht nur eines der letzten Objektive aus der traditionellen Produktion von Meyer Optik Görlitz, um 1970 im VEB Pentacon aufgegangen. Es ist auch die letzte Version des Orestons, eines der großen Klassiker der Fotogeschichte.

Äußerlich ist dieses unscheinbare Objektiv ein stinknormales Pentacon Prakticar 1.8 50 in der (ziemlich scheußlichen) „Ratio“-Fassung der späten 1980er-Jahre mit eingepressten Plaste-Noppen. In der Wendezeit nach 1989 wurden die letzten Exemplare davon wieder unter dem stolzen alten Namen „Meyer Optik“ in den Verkauf gebracht.

Dieses Exemplar hat darüber hinaus nicht das übliche Prakticar-Bajonett („Meyer Optik“-Prakticare mit Bajonett sind selten, aber bekannt), sondern ein M42-Gewinde. Nur deshalb passt es überhaupt an die MTL-Praktica. Das hätte es eigentlich so gar nicht geben dürfen, die Objektive in der Prakticar-Optik hatten allesamt auch das Prakticar-Bajonett. Diese Version ist nur noch in minimalen Stückzahlen in den Handel gegangen, wenn sie dann überhaupt je offiziell angeboten wurde.

Meines Erachtens spiegelt dieses Objektiv die ganze Tragik des Untergangs der DDR-Fotoindustrie wieder. Es ist die aller-, allerletzte Version des alten Meyer Optik Oreston 1.8 50, das 1961 konstruiert und ab 1963 produziert wurde. Es wurde zu Hunderttausenden gebaut, erst als Zebra, später in einer schwarz-silbernen, schließlich schwarzen Version, dann mit Kreuzrändelfassung, in Abwandlungen als „Revuenon“ und „Pentaflex“ für westdeutsche Versandhäuser, zuletzt noch einmal als anfangs durchaus hochwertiges Prakticar mit genopptem Gummiring. Die Linsenkonstruktion war 1969 noch einmal verbessert worden und von da an bis zum Ende der DDR durchproduziert. In den 1970ern kam noch Multischicht-Vergütung als Neuerung dazu.

Die hier gezeigte allerletzte Version aus der zweiten Hälfte der 80er-Jahre unterschied sich von ihren Vorgängern nicht nur durch das billig wirkende Kunststoffgehäuse, sondern auch einen geänderten inneren Aufbau, der sich in einer schlechteren Nahgrenze von 45 statt 33 Zentimetern bemerkbar machte. Ob sich auch an der Bildqualität etwas geändert hatte, weiß ich nicht.

Millionen von Fotografen haben jahrzehntelang mit dem Oreston-Pentacon 1.8 50 fotografiert. Es ist, vor allem etwas abgeblendet, auch heute noch exzellent in Sachen Schärfe.

Der Millionenseller ist im Grunde eine durchaus kompetente Mittelklasse-Festbrennweite, die um 1975 herum sogar ein exzellentes Preis-Leistungs-Verhältnis geboten haben dürfte. Nur: Als diese letzte Variante um 1990 in die Läden kam, waren längst Zoomobjektive der Standard und Autofokus groß im Kommen. Und auf diesen Feldern hatten weder Carl Zeiss Jena noch Pentacon (die zu dieser Zeit schon verschmolzen waren) etwas im Angebot. Dort regierten längst die Japaner. Sigma, Cosina und Samyang aus Korea boten seit Jahren ein ganzes Sortiment an Zooms auch für das Prakticar-Bajonett an. Wer sollte da noch ein altes Oreston kaufen? Zumal mit dem aussterbenden uralten M42-Gewindeanschluss?

Bittere Schlusspointe: Wie Marco Kröger auf seiner sehr empfehlenswerten Webseite zeissikonveb.de schreibt, wurden die letzten Pentacon-/Meyer-Objektive vermutlich allesamt bei IOR in Bukarest gefertigt – auch die, auf denen „Made in Germany“ oder „German Democratic Republic“ stand. Wenn das auf für dieses Exemplar zutrifft, dann war das letzte Oreston von Meyer Optik Görlitz im Grunde schon keines mehr.

Primadonna Primagon

Zu den schönsten Nebensächlichkeiten beim Sammeln der alten Objektve gehören die Namen. Und niemand benannte Objektive so schön und fantasievoll wie die altehrwürdige Görlitzer Linsenschmiede Meyer Optik. Zum Beispiel das Helioplan: War das nicht der griechische Gott der Überbelichtung? Domiplan und Domiron: die antiken Helden der In-Haus-Fotografie. Und dann das mächtige Geschlecht der Orestonen: Orestor, Oreston, Orestegor und Orestegon. Objektivnamen wie Donnerhall, da ahnt man die bildgewaltige Dramatik der damit gemachten Fotos schon, bevor man sie auch nur an die Kamera geschraubt hat.

Doch am schönsten klingen die P-Liner (Segelschiff-Fans verstehen die Anspielung). Carl Zeiss hatte Planar und Pancolar, doch Meyer hatte mehr. Da sind erst einmal die Primotare, Allzweckwaffen mit 50, 80, 135 und 180 Millimeter Brennweite. Dann natürlich die legendären Primoplane – Wunderlinsen mit eingebauten Aquarellhintergrund in 58 und 75 Millimeter Brennweite.

Und dann gab es das Primagon. Kein Wunderwerk, aber ein solides, erschwingliches Alltags-Weitwinkel für den Hobbyfotografen der späten 50er Jahre. Man darf nicht vergessen: Die heute ziemlich unspektakulären 35 Millimeter Brennweite galten damals als die Spitze des absolut technisch Machbaren, sie hatten gerade erst die 40 Millimeter des Tessars 4.5 40 von Zeiss und des ähnlichen Helioplans von Meyer abgelöst. Carl Zeiss war 1953 mit der ersten Generation des Flektogons 2.8 35 vorausgegangen – eine mit sechs Linsen in sechs Gruppen überaus aufwändige und entsprechend teure Konstruktion (die auch heute noch exzellente Schärfe und Kontrast liefern kann).

Meyer zog nach und präsentierte auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1956 das Weitwinkelobjektiv Primagon 4.5 35 mm, ausgerichtet auf ein preisbewussteres Kundenklientel. Den Ingenieuren gelang es, das Grundobjektiv aus nur drei Linsen aufzubauen, davor setzten sie noch eine große Zerstreuungslinse. Das ließ sich günstig produzieren und brachte – bei der nicht gerade überwältigenden weitesten Blende von 4.5 – erstaunlich gute Bildergebnisse. Denn: „(…) zwischen tiefem Blau und mittlerem Rot ist das Objektiv frei von chromatischer Aberration. Mit diesen Eigenschaften würden Werbestrategen einem solchen Objektiv heute das Attribut „Apo“ anhängen“, schreibt Marco Kröger auf der sehr lesenswerten Webseite Zeiss Ikon VEB.

Sagen wir es kurz: Für Indoor- und Available-Light-Fotografie, für Straßenszenen im Dämmerlicht und Partyfotografie ist das Primagon nicht wirklich etwas. Im Hellen produziert es dagegen Bilder, die sich immer noch sehen lassen können. Marco Kröger schreibt: „Es handelt sich auch nach heutigen Maßstäben um ein erstaunlich leistungsfähiges gemäßigtes Weitwinkelobjektiv, das sein Gütezechen damals nicht unverdient erhalten hat.“ Das Primagon wurde seinerzeit mit dem Qualitätssiegel Q1 ausgezeichnet, mit dem die DDR Produkte von Weltmarktniveau („oder besser“) kennzeichnete. Mit mancher heutigen Zoom-Kit-Linse könne es der Oldtimer durchaus aufnehmen, meint Altobjektiv-Experte „praktinafan“ im Digicamclub-Forum.

Heute brachte mir der Postbote ein solches Spitzenprodukt volkseigener Optikerzeugnisse. In blau-weißer Meyer-Originalschachtel, mit beiden Kappen. Es glänzt wie unbenutzt – es ist nach den Varianten mit Exa- und Altix-Bajonett mein drittes Primagon und das schönste.

Ganz einfach zu handhaben dürfte der Silberling nicht sein. Die schwache Lichtstärke ist bei allen anderen als guten Lichtverhältnissen so etwas wie ein eingebauter Unschärfegenerator. Und die exponierte übergroße Frontlinse dürfte trotz des roten „V“-Zeichens zur Kennzeichnung der Glasvergütung neben dem Licht auch die ungewollten Streulichteffekte wie Ghosts und Flares sammeln. Das Primagon ist wohl eine ganz schöne Primadonna, die in eine Gegenlichtblende gehüllt sein will, um strahlen zu können. Sie soll sie bekommen, in bestem zeitgenössischen Bakelit natürlich. Damit hoffe ich dann auf Bilder in typischem Meyer-Stil, mit weichem Hintergrund und schönen warmen Farben, nicht zuletzt dank der Blende mit zehn Lamellenblättern. Zeige sie uns, was sie kann, Primadonna!

Ach ja: Abgelöst wurde das Primagon im Jahre 1964 von dem Objektiv mit dem wohl schönsten Namen überhaupt – Lydith 3.5 30. Lydith – war das nicht diese hübsche junge Frau aus dem Alten Testament, die den obersten General des feindlichen Heeres beim Baden fotografierte?