Nachts im Venn

Sony A7 II mit Meyer Optik Primagon 4.5 35, F8, 2s, ISO 400
Sony A7 II mit Meyer Optik Primagon 4.5 35, F8, 2s, ISO 400

Zuerst hatte ich mich noch geärgert, dass ich die Blaue Stunde verpasst hatte. Eine gute halbe Stunde danach war ich froh für die Gelegenheit, das Venn – wieder einmal – ganz neu erleben zu können.

Primadonna Primagon

Zu den schönsten Nebensächlichkeiten beim Sammeln der alten Objektve gehören die Namen. Und niemand benannte Objektive so schön und fantasievoll wie die altehrwürdige Görlitzer Linsenschmiede Meyer Optik. Zum Beispiel das Helioplan: War das nicht der griechische Gott der Überbelichtung? Domiplan und Domiron: die antiken Helden der In-Haus-Fotografie. Und dann das mächtige Geschlecht der Orestonen: Orestor, Oreston, Orestegor und Orestegon. Objektivnamen wie Donnerhall, da ahnt man die bildgewaltige Dramatik der damit gemachten Fotos schon, bevor man sie auch nur an die Kamera geschraubt hat.

Doch am schönsten klingen die P-Liner (Segelschiff-Fans verstehen die Anspielung). Carl Zeiss hatte Planar und Pancolar, doch Meyer hatte mehr. Da sind erst einmal die Primotare, Allzweckwaffen mit 50, 80, 135 und 180 Millimeter Brennweite. Dann natürlich die legendären Primoplane – Wunderlinsen mit eingebauten Aquarellhintergrund in 58 und 75 Millimeter Brennweite.

Und dann gab es das Primagon. Kein Wunderwerk, aber ein solides, erschwingliches Alltags-Weitwinkel für den Hobbyfotografen der späten 50er Jahre. Man darf nicht vergessen: Die heute ziemlich unspektakulären 35 Millimeter Brennweite galten damals als die Spitze des absolut technisch Machbaren, sie hatten gerade erst die 40 Millimeter des Tessars 4.5 40 von Zeiss und des ähnlichen Helioplans von Meyer abgelöst. Carl Zeiss war 1953 mit der ersten Generation des Flektogons 2.8 35 vorausgegangen – eine mit sechs Linsen in sechs Gruppen überaus aufwändige und entsprechend teure Konstruktion (die auch heute noch exzellente Schärfe und Kontrast liefern kann).

Meyer zog nach und präsentierte auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1956 das Weitwinkelobjektiv Primagon 4.5 35 mm, ausgerichtet auf ein preisbewussteres Kundenklientel. Den Ingenieuren gelang es, das Grundobjektiv aus nur drei Linsen aufzubauen, davor setzten sie noch eine große Zerstreuungslinse. Das ließ sich günstig produzieren und brachte – bei der nicht gerade überwältigenden weitesten Blende von 4.5 – erstaunlich gute Bildergebnisse. Denn: „(…) zwischen tiefem Blau und mittlerem Rot ist das Objektiv frei von chromatischer Aberration. Mit diesen Eigenschaften würden Werbestrategen einem solchen Objektiv heute das Attribut „Apo“ anhängen“, schreibt Marco Kröger auf der sehr lesenswerten Webseite Zeiss Ikon VEB.

Sagen wir es kurz: Für Indoor- und Available-Light-Fotografie, für Straßenszenen im Dämmerlicht und Partyfotografie ist das Primagon nicht wirklich etwas. Im Hellen produziert es dagegen Bilder, die sich immer noch sehen lassen können. Marco Kröger schreibt: „Es handelt sich auch nach heutigen Maßstäben um ein erstaunlich leistungsfähiges gemäßigtes Weitwinkelobjektiv, das sein Gütezechen damals nicht unverdient erhalten hat.“ Das Primagon wurde seinerzeit mit dem Qualitätssiegel Q1 ausgezeichnet, mit dem die DDR Produkte von Weltmarktniveau („oder besser“) kennzeichnete. Mit mancher heutigen Zoom-Kit-Linse könne es der Oldtimer durchaus aufnehmen, meint Altobjektiv-Experte „praktinafan“ im Digicamclub-Forum.

Heute brachte mir der Postbote ein solches Spitzenprodukt volkseigener Optikerzeugnisse. In blau-weißer Meyer-Originalschachtel, mit beiden Kappen. Es glänzt wie unbenutzt – es ist nach den Varianten mit Exa- und Altix-Bajonett mein drittes Primagon und das schönste.

Ganz einfach zu handhaben dürfte der Silberling nicht sein. Die schwache Lichtstärke ist bei allen anderen als guten Lichtverhältnissen so etwas wie ein eingebauter Unschärfegenerator. Und die exponierte übergroße Frontlinse dürfte trotz des roten „V“-Zeichens zur Kennzeichnung der Glasvergütung neben dem Licht auch die ungewollten Streulichteffekte wie Ghosts und Flares sammeln. Das Primagon ist wohl eine ganz schöne Primadonna, die in eine Gegenlichtblende gehüllt sein will, um strahlen zu können. Sie soll sie bekommen, in bestem zeitgenössischen Bakelit natürlich. Damit hoffe ich dann auf Bilder in typischem Meyer-Stil, mit weichem Hintergrund und schönen warmen Farben, nicht zuletzt dank der Blende mit zehn Lamellenblättern. Zeige sie uns, was sie kann, Primadonna!

Ach ja: Abgelöst wurde das Primagon im Jahre 1964 von dem Objektiv mit dem wohl schönsten Namen überhaupt – Lydith 3.5 30. Lydith – war das nicht diese hübsche junge Frau aus dem Alten Testament, die den obersten General des feindlichen Heeres beim Baden fotografierte?

That escalated quickly

Sony A7II mit Meyer Optik Primagon 4.5 35, f22, 5s, ISO 100
Sony A7II mit Meyer Optik Primagon 4.5 35, f22, 5s, ISO 100

Es lässt sich beim Ersteigern von alten Objektiven auf Ebay nicht vermeiden, dass hin und wieder noch eine alte Kamera dranhängt. Oft sind diese Kombinationen sogar günstiger, weil Objektivsammler nicht in die Kamera-Rubrik schauen. Die Gefahr dabei ist allerdings, frei nach Nietzsche: Wenn du dir die schwarzsilbernen Schönheiten aus der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu lange anschaust, schauen sie irgendwann in dich zurück. Und bringen dich dazu, in einen Drogeriemarkt zu gehen und dich – höflich und etwas vorsichtig, als frage man nach Gummiartikeln zur höchstspersönlichen Freizeitgestaltung – nach etwas zu erkundigen, was du seit etwa zwölf Jahren nicht mehr gekauft hast.

Filme, Sie wissen doch. Nein, keine DVDs, ich meine diese altmodischen Rollenfilme, die man früher in Kameras tat. Kennen Sie sowas gar nicht mehr? Haben Sie die noch?

Verschämt versteckt sich ein Dutzend kleiner Schachteln ganz außen in einer Ecke eines Regals – was für ein kümmerlicher Rest der einst so allgegenwärtigen Analogfotowelt. Ganze vier verschiedene Sorten gibt es noch, von 100, 200 und 400 ASA, dazu eine Schwarzweiß-Variante. Entwickelt wird der Spaß heutzutage für 3 Euro, Foto-CD inklusive.

So schnell verschwindet eine komplette, gut hundert Jahre alte Industrie samt ihren Fotoabgabetresen in jedem Supermarkt, den Großregalen mit Dutzenden von Filmsorten, Doppel, Fünffach- und Familienpackungen und dem ganzen Zubehör. Erinnert ihr euch an die Zettel, auf denen man ankreuzen musste, ob die Abzüge matt oder glänzend sein sollten? 9 mal 13 (billig, aber jämmerlich klein) oder 10 mal 15 (ausreichend groß, aber für einen kompletten Urlaub arg teuer). An die Umschläge mit den Negativstreifen, die immer in die falsche Reihenfolge gerieten?

Wie lange das her ist. Jetzt schaue ich etwas ratlos auf das Aufwickelröllchen im Gehäuse der Exa und weiß nicht mal mehr, wie man den Film dort einfädelt. Immerhin, ein Gutes hat das Digitalzeitalter: Dank Youtube, Fachforen und den Webseiten der Kamerafreaks und Bastler gibt es für jedes Modell ausführliche Anleitungen, Dokumentationen und Tutorials.

Also, Fotografie nach alter Väter Sitte: Ich war lange weg, aber jetzt bin ich wieder da. Schön, dass du auf mich gewartet hast. Kann losgehen jetzt. Äh, wie stellt man eigentlich die richtige Belichtung ein, so ohne Display?

Die Mittelformatigen (hinten links und rechts): Pentacon Six TL (1966-90) und Zeiss Ikon Nettar II 516/17 (1951-53)

Die Kleinbildenden (vorne links, Mitte und vorne rechts ): Zeiss Ikon Pentacon (1956-61), Rolleiflex SL35 (1970-1972) und Ihagee Exa (1959-69).