Hundert Jahre her

Der alte Grabstein steht halb versteckt auf dem Südfriedhof von Leipzig. Einer von Hunderten und Aberhunderten auf dem 80 Hektar großen Gelände. Keines der auffälligen, prunkvollen Grabmäler, die mit imposanten Engelsfiguren oder Heldenstatuen an berühmte Geschlechter oder zumindest finanzkräftige Mitbürger erinnern. Kein Faltblatt führt ihn auf, die Friedhofsführer-App verzeichnet ihn nicht. Man kann ihn leicht übersehen, wenn man die Reihen der Gräber entlangschlendert. Aber wer sich ihm zuwendet, dem erzählt er eine ganze Geschichte: die einer Familientragödie vor hundert Jahren.

Sie beginnt im Ersten Weltkrieg, an einem Frühlingstag des Jahres 1915. In einem Militärkrankenhaus in Nürnberg liegen Hunderte von verwundeten deutschen Soldaten in ihren Betten. Stöhnen und Schreien erfüllt die Krankenzimmer, Schwestern eilen auf den Fluren hin und her. In einem der Betten liegt der junge Albert Fischer, geboren in Leipzig. Er ist gerade erst angekommen.

Vor sechs Tagen ist der 22-Jährige an der Westfront schwer verwundet worden, in Verlinghem, einem Vorort der französischen Stadt Lille. Bis dahin, rund 240 Kilometer weit von der deutschen Westgrenze bei Aachen, ist der Vormarsch der Truppen des Kaisers gekommen. Dann verbissen sich die deutschen und alliierten Heere hoffnungslos ineinander, es begann der jahrelange furchtbare Stellungskrieg, das gegenseitige Abschlachten in den Schützengräben ohne Aussicht auf Sieg oder Niederlage. Vor neun Monaten erst hat der Krieg begonnen, doch Deutschland und Europa werden nie mehr so sein vor zuvor.

Mit einem Lazarettzug hat man Albert Fischer wieder ins Deutsche Reich gebracht, fast 700 Kilometer weit. Tagelang rumpelten die Waggons langsam über die Gleise, bis der Zug endlich in Nürnberg einrollte und man die Verwundeten aus den Wagen hob.

Der junge Soldat Fischer bekommt keine Sonderbehandlung. Er ist keine hochgestellte Persönlichkeit, kein Offiziersschüler oder verwöhnter Zögling. Er ist ein einfacher Infanterist, aus gutem Hause zwar, aber nicht vermögend, erst vor kurzem eingezogen und an die Front geworfen worden. Einen höheren Dienstgrad als Gefreiter hat er sich noch nicht verdienen können.

Es ist Samstag, der 23. April 1915. Erst vor wenigen Stunden, am Tag zuvor, haben die deutschen Truppen an der Westfront bei Ypern mit dem grauenvollen ersten großen Gasangriff des Krieges die Zweite Flandernschlacht eingeleitet. Alleine an diesem ersten Tag sind 18.000 Mann innerhalb kürzester Zeit unter teils entsetzlichen Qualen gestorben, insgesamt werden die gut vierwöchigen Kämpfe 120.000 Soldaten das Leben kosten – eine ganze Großstadt. Und ändern wird sich für den Kriegsverlauf nichts, die Front wird danach fast genauso verlaufen wie zu Beginn.

Während in Flandern seine Kameraden mit ihren Gewehren auf die zurückweichenden Franzosen schießen und erschossen werden, mit Bajonetten im Zweikampf zustechen und erstochen werden, während Artilleriegranaten einschlagen und Handgranaten explodieren und die weißen, tödlichen Nebel des Chlorgases zu den Schutzsuchenden in die Bombentrichter kriechen, kämpft Hunderte von Kilometern entfernt Albert Fischer tief in der Heimat um sein eigenes Leben. Vergeblich. Er wird nie wieder einen Fuß auf die Straßen Leipzigs setzen, nie wieder seine Eltern sehen, die fünf, sechs Zugstunden entfernt in Sachsen um ihren einzigen Sohn bangen, ohne zu wissen, dass er wieder in Deutschland liegt.

An diesem Samstag, neun Monate nach Beginn des großen Mordens, stirbt Albert Fischer. Für eine Trauerfeier bleibt keine Zeit. Sein Leichnam wird aus dem Bett gehoben und in einen einfachen Sarg gelegt. Das Bett muss schnell wieder frei sein, in diesen Tagen wird jeder Platz gebraucht. Der junge Mann tritt seine letzte Reise in einem Güterwaggon an. Der Leichnam wird in seine Heimatstadt überführt. Auf dem Südfriedhof wird Albert Fischer beigesetzt.

Der Schmerz seiner Eltern muss unermesslich gewesen sein. Er ist dem mannshohen Grabstein heute noch anzusehen – ihrem „innigstgeliebten, einzigen Sohn“ haben sie den schwarzpolierten Stein auf dem Sockel gewidmet. Aus härtestem „Schwarzer Schwede“-Granit ist er gefertigt, der beste und teuerste Stein überhaupt (und heute geradezu unbezahlbar). Er verjüngt sich nach oben und endet in einer schlichten, aber kunstvollen Verzierung. Ein Stein für die Ewigkeit. Aufwändig wurde der Name des Verstorbenen in 24-karätigem Blattschlägergold eingearbeitet. Ein eingraviertes Eisernes Kreuz krönt ihn, wie es der Geschmack der Zeit war, und erinnert an den Gefreiten Albert Fischer vom Königlich Sächsischen 9. Infanterieregiment 133. Einen von mehr als zwei Millionen deutschen Soldaten, die der Krieg am Ende verschlungen haben sollte.

Doch die Geschichte ist noch nicht zu Ende – und das Leid der Familie Fischer noch nicht vorbei. Der Krieg geht weiter, ins nächste und übernächste Jahr. Das Schlachtenglück wechselt ein ums andere Mal, alle Hoffnungen auf einen baldigen Frieden vergehen im Donnern der Geschütze. Der zweite Kriegswinter geht ins Land, dann der dritte, der als Steckrübenwinter 1916/17 in die Geschichte eingehen soll. Die Not der Menschen in Deutschland wird drückend. Es fehlt an allem, ob Essen, Heizmaterial oder Seife. Krankheiten und Unterernährung raffen die Menschen dahin, Alte, Kranke, Schwache und Kleinkinder sterben zuerst.

Im Oktober des vierten Kriegswinters, des Hungerwinters 1917, folgt Alberts Vater Ernst seinem Sohn ins Grab. Er wird nicht einmal 57 Jahre alt. War es der Kummer über den Tod seines Sohnes, der ihm den Lebenswillen geraubt hat? War es die Entbehrung der jahrelangen Mangelernährung? Die Hoffnungslosigkeit im Deutschen Reich, das Monat um Monat seine Söhne zu Hunderttausenden in den größten Fleischwolf aller Zeiten warf und trotz aller Opfer dem versprochenen Sieg weiter entfernt schien als je?

Der schwarze Stein auf dem Südfriedhof erhält einen weiteren Namen eingemeißelt: Ein zweiter Fischer war lange vor seiner Zeit gestorben. Die Verzweiflung der Witwe, die erst das Kind und nun den Mann zu Grabe tragen muss, ist förmlich in den Stein eingepresst. Alberts „lieber, treusorgender Vater, mein teurer, herzensguter Mann“ sei gestorben, schreibt sie ihrem Gatten nach. „Mein ganzes Glück ist mit Euch gegangen. Auf Wiedersehn!“ Anna Fischer hat alles verloren, was ihr lieb ist. Sie ist alleine, und das in einer furchtbaren Zeit.

Doch die Geschichte des Grabsteins ist noch nicht vorbei – noch lange nicht. Das Schicksal will es nämlich, dass die 50 Jahre alte Witwe ihren Sohn und ihren Gatten trotz der Entbehrungen und Katastrophen, die folgen werden, nicht nur um einige wenige Jahre überleben wird. In Zeiten, in denen unzählige Menschen in Deutschland an Krankheiten, Hunger und Verzweiflung starben, überlebt sie – am Ende fast noch einmal um dieselbe Zeitspanne. Sie übersteht das letzte, furchtbare Kriegsjahr und die chaotische Zeit danach. Den Zusammenbruch des Staates und der Wirtschaft, die Inflation und alle Werteverluste. Die Weimarer Jahre, die Weltwirtschaftskrise, die Nazizeit. Den nächsten, den Zweiten Weltkrieg, der fast sechs Jahre dauern wird und damit noch länger als der Erste. Und sie überlebt die erneuten Hungerjahre danach.

Ob sie das wohl als Segen empfunden hat? Geheiratet hat sie nie wieder, von anderen Kindern oder gar Enkeln erzählt der Grabstein nichts. Selbst ihre Schwester Martha, zehn Jahre jünger als sie, stirbt noch sechs Jahre vor ihr: einen dritten Namen muss Anna Fischer in den Grabstein einarbeiten lassen. Ganz unten diesmal, damit noch Platz bleibt für sie selbst.

Erst 46 Jahre nach ihrem Sohn und 44 Jahre nach ihrem Mann, im hohen Alter von 94 Jahren, findet Anna Fischer im Jahr 1961 ebenfalls die letzte Ruhe. Und in den schwarzen Stein auf dem Südfriedhof wird, fast ein halben Jahrhundert, nachdem er an dieser Stelle aufgerichtet wurde, zum vierten und letztes Mal ein Name in goldenen Buchstaben eingemeißelt. Der Stein hat die Geschichte der Familie Fischer zu Ende erzählt.

Auf dem Ostfriedhof

Aachens Ostfriedhof zählt zu den schönsten der Stadt und ist zugleich der älteste. Wer den Adalbertsteinweg von St. Adalbert in Richtung Rothe Erde hinaufgeht, braucht sich nur vor der hoch aufragenden Josefskirche nach links zu wenden und steht schon fast vor den großen schmiedeeisernen Tor am Eingang. Seit 1803 werden hinter ihnen die Toten aus dem Aachener Osten bestattet.

Fast genau zehn Jahre ist es jetzt her, dass der Verfasser dieser Zeilen im August 2007 als frisch zugegzogener Neu-Aachener erstmals zwischen den zwei Jahrhunderte alten Gräbern herumwanderte. Einen der ersten Blogartikel hat er damals über diesen Spaziergang geschrieben. Die traumverlorene Wanderung endete abrupt in einer Begegnung mit zwei Polizisten, die fragten, ob man Metalldiebe zwischen den Gräbern gesehen habe.

Doch nun ist alles ruhig und still auf den Wegen. Außer dem einsamen Mann mit der Kamera ist jetzt, gegen 20 Uhr abends, niemand mehr hier. Es herrscht wortwörtlich Friedhofsruhe.

Heute, im Jahr 2017, ist der Friedhof noch so schön wie damals. Nur dem Verfasser dieser Zeilen, dem sieht man das vergangene Jahrzehnt hier und da an. Bizarrerweise fotografiert er heute zwar mit einer moderneren Kamera als damals, aber einem noch deutlich älteren Objektiv. Es ist ein weiteres Mal das Biotar 2 58 mm von Carl Zeiss Jena, das im Moment wieder einmal sein Liebling ist.

Die damit gemachten Fotos haben ihren eigenen Reiz. Die Motive in der Bildmitte werden gestochen scharf, aber bei weit geöffneter Blende – fast alle Bilder hier sind mit F2.4 bis F2.8 entstanden – wird der Hintergrund schnell zum berühmten „Schwurbel“. Wie eilig hingetuscht wirken Bäume, Büsche und Blattwerk.

Von ganz eigenem Reiz sind auch die Stimmung und das Licht zwischen den Gräbern und Bäumen. Braun, Grün, Schwarz und Grau sind vorherrschend. Nur hier und da beweisen Blumen und andere Beigaben auf einem frischen Grab, dass der Friedhof noch benutzt wird.

Doch die meisten der Grabstellen im vorderen Bereich des Geländes sind uralt. Moos wächst auf dem Marmor, Efeu rankt sich an Kreuzen hoch, verwitterte Engels- und Heiligenfiguren halten steinerne Arm- und Beinstümpfe in den abendlichen Himmel.

Wer die Augen etwas offen hält, stößt hier und da auf einen der großen Namen der Aachener Stadtgeschichte. Auf Franz Oppenhoff etwa, der erste von den Alliierten nach der Eroberung Aachens eingesetzte Bürgermeister, der 1945 von einem nationalsozialistischen Kommandotrupp ermordet wurde.

Und wer Pech hat, der steht nach dem Rundgang vor den beiden schweren und inzwischen geschlossenen Eisentoren. Und fragt sich, ob er jetzt zwischen den trauernden Damen mit ihren Urnen übernachten muss. Was tun, die Polizei rufen? Eine niedrige Stelle an der Friedhofsmauer suchen, drüberkraxeln und auf der anderen Seite herunterspringen?

Doch dann ist einer der Torflügel zum Glück nur angelehnt, nicht abgeschlossen. Der Verfasser dieser Zeilen drückt sich in die Freiheit. Irgendwann enden wir alle auf einem Friedhof, schießt es ihm durch den Kopf. Schön, dass es noch nicht heute sein muss.