Das letzte Meyer

In der Facebookgruppe „Fotografie mit manuellen Objektiven“ habe ich gerade ein kleines Ratespielchen für die Auskenner gespielt. Das hier brachte heute Morgen der Hermes-Bote (nach einer halben Ewigkeit, orr): eine stinknormale, etwas abgenutzte Praktica MTL-5B mit dem hunderttausendfach gebauten Standardobjektiv Prakticar 1.8 50.

Nichts besonderes, oder? Doch.

Was wir hier sehen, ist nicht nur eines der letzten Objektive aus der traditionellen Produktion von Meyer Optik Görlitz, um 1970 im VEB Pentacon aufgegangen. Es ist auch die letzte Version des Orestons, eines der großen Klassiker der Fotogeschichte.

Äußerlich ist dieses unscheinbare Objektiv ein stinknormales Pentacon Prakticar 1.8 50 in der (ziemlich scheußlichen) „Ratio“-Fassung der späten 1980er-Jahre mit eingepressten Plaste-Noppen. In der Wendezeit nach 1989 wurden die letzten Exemplare davon wieder unter dem stolzen alten Namen „Meyer Optik“ in den Verkauf gebracht.

Dieses Exemplar hat darüber hinaus nicht das übliche Prakticar-Bajonett („Meyer Optik“-Prakticare mit Bajonett sind selten, aber bekannt), sondern ein M42-Gewinde. Nur deshalb passt es überhaupt an die MTL-Praktica. Das hätte es eigentlich so gar nicht geben dürfen, die Objektive in der Prakticar-Optik hatten allesamt auch das Prakticar-Bajonett. Diese Version ist nur noch in minimalen Stückzahlen in den Handel gegangen, wenn sie dann überhaupt je offiziell angeboten wurde.

Meines Erachtens spiegelt dieses Objektiv die ganze Tragik des Untergangs der DDR-Fotoindustrie wieder. Es ist die aller-, allerletzte Version des alten Meyer Optik Oreston 1.8 50, das 1961 konstruiert und ab 1963 produziert wurde. Es wurde zu Hunderttausenden gebaut, erst als Zebra, später in einer schwarz-silbernen, schließlich schwarzen Version, dann mit Kreuzrändelfassung, in Abwandlungen als „Revuenon“ und „Pentaflex“ für westdeutsche Versandhäuser, zuletzt noch einmal als anfangs durchaus hochwertiges Prakticar mit genopptem Gummiring. Die Linsenkonstruktion war 1969 noch einmal verbessert worden und von da an bis zum Ende der DDR durchproduziert. In den 1970ern kam noch Multischicht-Vergütung als Neuerung dazu.

Die hier gezeigte allerletzte Version aus der zweiten Hälfte der 80er-Jahre unterschied sich von ihren Vorgängern nicht nur durch das billig wirkende Kunststoffgehäuse, sondern auch einen geänderten inneren Aufbau, der sich in einer schlechteren Nahgrenze von 45 statt 33 Zentimetern bemerkbar machte. Ob sich auch an der Bildqualität etwas geändert hatte, weiß ich nicht.

Millionen von Fotografen haben jahrzehntelang mit dem Oreston-Pentacon 1.8 50 fotografiert. Es ist, vor allem etwas abgeblendet, auch heute noch exzellent in Sachen Schärfe.

Der Millionenseller ist im Grunde eine durchaus kompetente Mittelklasse-Festbrennweite, die um 1975 herum sogar ein exzellentes Preis-Leistungs-Verhältnis geboten haben dürfte. Nur: Als diese letzte Variante um 1990 in die Läden kam, waren längst Zoomobjektive der Standard und Autofokus groß im Kommen. Und auf diesen Feldern hatten weder Carl Zeiss Jena noch Pentacon (die zu dieser Zeit schon verschmolzen waren) etwas im Angebot. Dort regierten längst die Japaner. Sigma, Cosina und Samyang aus Korea boten seit Jahren ein ganzes Sortiment an Zooms auch für das Prakticar-Bajonett an. Wer sollte da noch ein altes Oreston kaufen? Zumal mit dem aussterbenden uralten M42-Gewindeanschluss?

Bittere Schlusspointe: Wie Marco Kröger auf seiner sehr empfehlenswerten Webseite zeissikonveb.de schreibt, wurden die letzten Pentacon-/Meyer-Objektive vermutlich allesamt bei IOR in Bukarest gefertigt – auch die, auf denen „Made in Germany“ oder „German Democratic Republic“ stand. Wenn das auf für dieses Exemplar zutrifft, dann war das letzte Oreston von Meyer Optik Görlitz im Grunde schon keines mehr.

Die Mediocren. Ein Fotowalk mit Orestegon, Oreston und Orestor.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29
Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29

Schon die Überschrift ist eigentlich eine Unverschämtheit. Die Mediocren, das sind „die Mittelmäßigen“. Ein Film von 1995 hieß so mit Jasmin Tabatabai, Jürgen Vogel und Dany Levi. Mittelmäßig als Attribut für ein Objektivtrio aus der berühmten Linsenschmiede Meyer-Optik Görlitz? Noch dazu in der Version mit dem Bajonett der legendären Exakta-Kameras?

Tja nun. Schauen wir uns die Kandidaten doch einmal an, die da mit uns ins Würselener Wurmtal dürfen.

Meyer Optik Görlitz Orestegon 2.8 29, Oreston 1.8 50 und Orestor 2.8 100
Meyer Optik Görlitz Orestegon 2.8 29, Oreston 1.8 50 und Orestor 2.8 100

Da wäre erst einmal das Orestegon 2.8 29 (links im Bild). Das Weitwinkel mit der einzigartigen Brennweite von 29 Millimetern wurde 1966 vorgestellt, damals noch in der klassischer Zebra-Fassung mit blank geriffeltem Fokusring. Es war nicht nur die weitwinkeligste Brennweite, die je das Görlitzer Werk verlassen hat, es war mit sieben Linsen auch das aufwendigste Objektiv von dort. Ab 1971 gab es die hier vorgestellte Bauform in schwarz mit den metallisch blanken Vierecken am Blendenring. Noch im selben Jahr wechselte der Produktname zu Pentacon 2.9 28, etwas später wurde die Fassung dann durchgehend schwarz und bekam noch etwas später die bekannte Kreuzrändelung am Fokusring und Mehrschichtvergütung auf den Gläsern. In dieser Form wurde das Objektiv – ausschließlich mit M42-Gewindeanschluss – bis zum Ende der DDR gebaut. Es füllte im Objektivangebot die Lücke zwischen dem teuren Superweitwinkel Flektogon 4 20, später 2.8 20 (sowie dem nur einige Jahre lang angebotenen 4 25) und dem Flektogon 2.8 (später 2.4) 35, beide von der Premiummarke Carl Zeiss Jena. Tausende und Abertausende von Praktica-Nutzern überall in Europa und Übersee bauten auf das 29er aus Görlitz. Meyer war, spätestens ab 1971, als der Hersteller ausschließlich unter VEB Pentacon firmierte, für den preisgünstigen Sektor und die hohen Stückzahlen zuständig.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29
Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29

Heute haben Fotofreunde eine gewaltige Auswahl an mittleren Weitwinkeln zwischen 28 und 35 Millimetern, die exotische Brennweite aus Görlitz ist nur eine Alternative von etlichen. Und, das darf man wohl sagen: leider nicht die attraktivste. Die Besprechungen und Testergebnisse des Orestegons waren schon zu dessen Lebzeiten nicht euphorisch und sind heute, höflich gesagt, durchwachsen. Mehrere Rezensenten verreißen das Orestegon völlig („das schlechteste Objektiv, das ich je an der Kamera hatte“), andere loben dagegen Bildqualität, Rendering, Bokeh und Kontrast. Einig sind sich alle Stimmen: Bei offeneren Blendenstufen sei die Bildmitte ja noch halbwegs scharf, aber die Ränder einfach nur flau bis völlig zermatscht, der Kontrast schwach. Erst oberhalb von F4, vor allem bei F8 bis F11, wird das Bild dann durchgehend scharf und kontrastreich. Die Fertigungsqualität sei wechselhaft, vor allem bei den letzten Jahrgängen, die wohl teilweise oder ganz bei IOR in Bukarest gefertigt wurden. Erst als die Konstruktion 1878 zum neuen Pentacon Prakticar 2.8 28 für das PB-Bajonett weiterentwickelt wurde, konnte das Objektiv überzeugen. Unter den Weitwinkeln der Altglaswelt erscheint das Orestegon aus heutiger Sicht – tja, höchstens ausreichend bis okay. Mittelmäßig halt.

Sony A7II mit Meyer Optik Oreston 1.8 50
Sony A7II mit Meyer Optik Oreston 1.8 50

Dann ist da das Oreston 1.8 50 (Mitte). Das 1961 konstruierte, ab 1963 produzierte und 1969 noch einmal optisch überarbeitete Objektiv wurde – spätestens ab 1971, als es in Pentacon 1.8 50 umbenannt wurde und zu Hunderttausenden auf den Weltmarkt gepumpt wurde, für fast 20 Jahre zum lichtstarken Standardobjektiv der DDR-Kameraindustrie. Seine Abstammung ist von Mythen umwoben, es wurde wohl aus dem Hochleistungsobjektiv Domiron 2 50 entwickelt, mit dem Meyer 1960 dem berühmten Biotar 2 58 des großen Rivalen Zeiss Jena Konkurrenz machen wollte. Das ging den DDR-Wirtschaftslenkern zu weit, Konkurrenz war in einer Planwirtschaft nicht vorgesehen, das Domiron musste eingestellt werden.

Sony A7II mit Meyer Optik Oreston 1.8 50
Sony A7II mit Meyer Optik Oreston 1.8 50

Zu seiner Zeit war das Oreston allerdings alles andere als mittelmäßig. Der aufwendige Sechslinser schlug in seiner Bildqualität das Einstiegsobjektiv, den einfachen Dreilinser Meyer Domiplan 2.8 50, um Längen. Das für seine Schärfe gerühmte Tessar 2.8 50 aus dem Hause Zeiss Jena übertraf es in punkto Lichtstärke um mehr als eine ganze Blendenstufe. Einzig dem exzellenten Zeiss-Objektiv Pancolar 1.8 50 musste es sich geschlagen geben. Es war ihm zwar bei den Leistungsdaten auf dem Papier und wohl auch in der Bildleistung bei kleineren Blendenstufen ebenbürtig, hinkte ihm aber in der Königsdisziplin Offenblende messbar hinterher. Was auch gewollt war: Das Oreston war nun einmal die etwas einfachere Konstruktion mit weniger teuren Gläsern. Dafür war es preisgünstiger.

Das Oreston ist aus heutiger Sicht immer noch durchaus befriedigend, größere Schwächen leistet es sich nicht, aus der Masse heraus ragt es andererseits auch nirgendwo. Es gibt ungezählte gleich gute bis deutlich bessere 50-Millimeter-Objektive, angefangen bei den Pancolaren von Zeiss Ost über die Planare von Zeiss West, bis zu den Dutzenden auch heute noch günstiger und hervorragender Standardobjektive aus Japan, etwa von Canon, Minolta oder Nikon. Das Oreston ist in diesem Feld: leider halt auch nur ein Mittelklässler.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100
Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100

Aber das Orestor 2.8 100? Mittelmaß? Nein, wirklich nicht. Nach übereinstimmendem Urteil der Fachwelt ist das Orestor ein echtes Juwel, zusammen mit seinem gleichnamigen Bruder 2.8 135 vielleicht das Beste, was je die Görlitzer Werke verließ. Die Konstruktion vom berühmten Sonnar inspiriert. Brillant, herausragend, übertrifft bereits bei Offenblende 2.8 die Bildleistung vieler anderer, lichtstärkerer Objektive.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100
Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100

Es gab allerdings zwei Versionen des Orestors. Die erste, zylindrische Fassung von 1966 hatte eine einfache Rastblende, 14 Lamellen und eine kreisrunde Iris. Sie ist – gerade an modernen Digitalkameras – zweifellos die optisch bessere und überaus begehrt. Ein kompaktes Porträtobjektiv, das noch heute begeistert.

Dann haben wir die zweite Version ab etwa 1970, mit automatischer Druckblende – und, bei identischem Linsenaufbau, einer Blende mit nur noch sechs Lamellen. Diese Blende ist denn auch das Einzige, das diesem Orestor vorzuwerfen ist: Das Objektiv hat, so wie auch das Oreston und das Orestegon oben, eine sechseckige Iris mit – und das ist ungewöhnlich – schnurgeraden Lamellenkanten. Sechs Lamellen sind grundsätzlich keine Schande, aber bei den allermeisten Objektiven sind sie abgerundet. Die Blätter des späten Orestors machen das berühmte butterweiche Bokeh etwas weniger sanft, vor allem aber werden Spitzlichter im Hintergrund sichtbar kantig.

Warum dieser scheinbare Rückschritt? Jahrzehntelang waren ein Dutzend Lamellen und mehr das Optimum im Objektivbau. Doch beim Aufkommen kürzerer Verschlusszeiten und automatischer Blendensteuerung kamen die feinblättrigen Blütenkonstruktionen beim präzisen und schnellen Öffnen und Schließen nicht mehr mit. Die Konstrukteure gingen also zu sechs oder sogar nur fünf Lamellen über. Die aber waren meist gerundet, so dass Hintergrundlichter nicht ganz so brutal kantig wirkten. Ob die Ingenieure bei Meyer diese streng geometrische Iris wählten, weil die kantigen Lichter technische Modernität signalisieren sollten? Egal, sie haben sich nicht durchgesetzt, auch das Oreston/Pentacon 1.8 50 bekam ab 1975 nicht nur Multi Coating auf die Gläser spendiert, sondern auch – übrigens überaus stark – gerundete Lamellenblätter.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29
Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29

Bleibt noch zu erwähnen, was es mit dem Exakta-Bajonettanschluss auf sich hat. Eigentlich gab es die Görlitzer Spitzenprodukte aus den späten 60er-Jahren nämlich nur noch mit M42-Gewinde für die Praktica-Kameras. Doch 1969 machte man noch einmal eine Ausnahme für die neu entwickelte Kamera Exakta RTL 1000 – eine Variante der Praktica LLC mit Extakta-Bajonettanschluss. Man hoffte, mit ihr den Nutzern der seit 1950 gebauten Ihagee-Kamera Exakta Varex – in ihren Hochzeiten ein weltweit geschätztes Spitzenprodukt der DDR-Fotoindustrie, mittlerweile aber zusehends veraltet – einen zeitgemäßen Nachfolger anbieten zu können. Vier vorhandene Objektive wurden eigens für diese Kamera auf Bajonettanschluss und Innenblendmessung umkonstruiert. Neben den drei hier vorgestellten Meyers gab es noch eine Variante des Zeissschen Pancolars 1.8 50. Doch die RTL 1000 floppte am Markt und wurde nur drei Jahre lang gebaut. Entsprechend gering blieb die verkaufte Auflage der kleinen Objektivfamilie.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29
Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29

Warum nun marschiert man mit Orestegon, Oreston und Orestor auf Fotopirsch statt mit ähnlich teurem, aber anerkannt besseren Altglas? Wenn es unbedingt DDR-Ware sein muss, warum nimmt man nicht Flektogon, Pancolar und Sonnar aus Jena mit, untadelig im Ruf und noch heute überaus beliebt?

Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29
Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29

Schwer zu erklären. Warum fahren Leute in einem ollen 1968er Opel Manta durch die Lande? Warum restaurieren Fans historische Kreidler-Mopeds? Warum legen manche Musikliebhaber lieber Schallplatten auf, als den Streamingdienst einzuschalten? Warum benutzt man zum Fotografieren überhaupt jahrzehntealte manuelle Linsen statt zeitgemäßer Objektive mit Vollautomatik und Autofokus?

Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100
Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100

Vielleicht, weil erst das Reduzieren aufs Wesentliche eine so alltäglich gewordene Tätigkeit wie von das Fahren von A nach B oder das Anfertigen eines Fotos wieder zum Vergnügen macht? Weil beim Rühren im Getriebe eines Oldtimers ohne Fahrwerkselektronik ein ganz anderes Gefühl für die Straße aufkommt? Weil man Musik anders schätzt, wenn man erst den Tonträger aus der Papierhülle nehmen und vorsichtig auf den Plattenteller legen muss? Und weil das gefühlvolle Drehen am Fokus und das klickende Einrasten des Blendenrings den Fotografen wieder zwingen, sich aktiv mit Aufbau und Gestaltung seines Bildes auseinanderzusetzen? Wer so denkt, der will irgendwann auch nicht mehr unter den historischen Objektiven das hervorragende oder gar perfekte, eben das moderne und damit langweilige. Er unterwirft sich gerne den Einschränkungen eines aus heutiger Sicht „mangelhaften“ Objektivs und schätzt die Herausforderung, gerade mit diesem nicht vollkommenen Werkzeug kreativ zu sein.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29
Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29

Die drei Meyers hier bieten genau das. Und es ist ja nicht so, dass sich mit ihnen nur stümpern lässt. Weit gefehlt. Schärfe können sie um F8 herum so gut wie jedes moderne Objektiv, da überzeugen sie auch heute. Ihr Bokeh ist ganz anders als das ihrer Nachfolger aus dem 21. Jahrhundert. Bei Offenblende und knapp darunter dagegen bieten sie die Herausforderung: Dass man sich eben genau überlegen muss, was sie können und was nicht – und was für ein Bild man eigentlich erzeugen möchte. Und dann überraschen sie hier und da mit ganz ausgezeichneten Leistungen in Spezialdisziplinen: Das Orestegon 2.8 29 etwa taugt mit seiner Nahgrenze von nur 25 Zentimetern wunderbar für spannende Detailaufnahmen. Ebenso das Oreston, das bis auf exzellente 33 Zentimeter an das Motiv herankriechen kann, für ein 50-Millimeter-Objektiv ein überragender Wert. Und das Orestor 2.8 100 ist in der Summe seiner Eigenschaften ein auch heute noch uwmerfend gutes Porträtobjektiv. Und auch die eckigen Lamellen haben eine gute Seite: Sie produzieren nachts wunderbare Lichtsterne.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100
Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100

In einem Punkt ist das Trio sogar ganz modern: In der Bajonett-Variante lassen sie sich genauso fix durch einen schnellen Dreh an der Kamera wechseln wie ihre modernen Nachfolger. Der Bildqualität wiederum lässt sich auf die Sprünge helfen, indem man den nur einfach vergüteten Gläsern durch Gegenlichtblenden – die hier abgebildeten Exemplare gibt es in der E-Bucht für ein paar Euro aus China – unter die Achseln greift. Und beim Kriechen durchs Moos an einem bewölkten Wintertag ist ein Stativ hilfreich, dann kann auch problemlos bis in die besseren Bildqualitäten hinein abgeblendet werden.

Orestegon, Oreston und Orestor mit Gegenlichtblenden
Orestegon, Oreston und Orestor mit Gegenlichtblenden

Wer also gerne die Konstruktionen der legendären Görlitzer Werkstätten an seiner Kamera hat, ein halbes Jahrhundert alt und mit entsprechend historischem Rendering, aber mit noch immer annehmbaren Leistungsdaten, und wer beim Wechseln keinen Wert auf langes Gefummel mit Schraubanschlüssen legt, der kommt an diesen etwas selteneneren Varianten von Oreston, Orestegon und Orestor nicht vorbei. Ähnlich komfortabel waren aus DDR-Produktion erst wieder die Prakticar-Objektive mit dem PB-Bajonett ab 1978. Die sind aber auch eine ganze Generation „moderner“ und bieten mit ihren Griffringen aus Gummi oder Kunststoff wieder ein ganz anderes haptisches Erlebnis.

Mit einem Ferrari über die Landstraße zu heizen, macht sicher Spaß – aber ist reine Perfektion nicht auch ein bisschen langweilig, ein bisschen steril, ein bisschen ohne Herausforderung? Es muss wohl so sein, sonst würden nicht so viele Leute alte Opel Mantas hegen und pflegen, an Kreidler Floretts herumschrauben – und Meyer Orestegons an ihre Kamera klipsen.

Primadonna Primagon

Zu den schönsten Nebensächlichkeiten beim Sammeln der alten Objektve gehören die Namen. Und niemand benannte Objektive so schön und fantasievoll wie die altehrwürdige Görlitzer Linsenschmiede Meyer Optik. Zum Beispiel das Helioplan: War das nicht der griechische Gott der Überbelichtung? Domiplan und Domiron: die antiken Helden der In-Haus-Fotografie. Und dann das mächtige Geschlecht der Orestonen: Orestor, Oreston, Orestegor und Orestegon. Objektivnamen wie Donnerhall, da ahnt man die bildgewaltige Dramatik der damit gemachten Fotos schon, bevor man sie auch nur an die Kamera geschraubt hat.

Doch am schönsten klingen die P-Liner (Segelschiff-Fans verstehen die Anspielung). Carl Zeiss hatte Planar und Pancolar, doch Meyer hatte mehr. Da sind erst einmal die Primotare, Allzweckwaffen mit 50, 80, 135 und 180 Millimeter Brennweite. Dann natürlich die legendären Primoplane – Wunderlinsen mit eingebauten Aquarellhintergrund in 58 und 75 Millimeter Brennweite.

Und dann gab es das Primagon. Kein Wunderwerk, aber ein solides, erschwingliches Alltags-Weitwinkel für den Hobbyfotografen der späten 50er Jahre. Man darf nicht vergessen: Die heute ziemlich unspektakulären 35 Millimeter Brennweite galten damals als die Spitze des absolut technisch Machbaren, sie hatten gerade erst die 40 Millimeter des Tessars 4.5 40 von Zeiss und des ähnlichen Helioplans von Meyer abgelöst. Carl Zeiss war 1953 mit der ersten Generation des Flektogons 2.8 35 vorausgegangen – eine mit sechs Linsen in sechs Gruppen überaus aufwändige und entsprechend teure Konstruktion (die auch heute noch exzellente Schärfe und Kontrast liefern kann).

Meyer zog nach und präsentierte auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1956 das Weitwinkelobjektiv Primagon 4.5 35 mm, ausgerichtet auf ein preisbewussteres Kundenklientel. Den Ingenieuren gelang es, das Grundobjektiv aus nur drei Linsen aufzubauen, davor setzten sie noch eine große Zerstreuungslinse. Das ließ sich günstig produzieren und brachte – bei der nicht gerade überwältigenden weitesten Blende von 4.5 – erstaunlich gute Bildergebnisse. Denn: „(…) zwischen tiefem Blau und mittlerem Rot ist das Objektiv frei von chromatischer Aberration. Mit diesen Eigenschaften würden Werbestrategen einem solchen Objektiv heute das Attribut „Apo“ anhängen“, schreibt Marco Kröger auf der sehr lesenswerten Webseite Zeiss Ikon VEB.

Sagen wir es kurz: Für Indoor- und Available-Light-Fotografie, für Straßenszenen im Dämmerlicht und Partyfotografie ist das Primagon nicht wirklich etwas. Im Hellen produziert es dagegen Bilder, die sich immer noch sehen lassen können. Marco Kröger schreibt: „Es handelt sich auch nach heutigen Maßstäben um ein erstaunlich leistungsfähiges gemäßigtes Weitwinkelobjektiv, das sein Gütezechen damals nicht unverdient erhalten hat.“ Das Primagon wurde seinerzeit mit dem Qualitätssiegel Q1 ausgezeichnet, mit dem die DDR Produkte von Weltmarktniveau („oder besser“) kennzeichnete. Mit mancher heutigen Zoom-Kit-Linse könne es der Oldtimer durchaus aufnehmen, meint Altobjektiv-Experte „praktinafan“ im Digicamclub-Forum.

Heute brachte mir der Postbote ein solches Spitzenprodukt volkseigener Optikerzeugnisse. In blau-weißer Meyer-Originalschachtel, mit beiden Kappen. Es glänzt wie unbenutzt – es ist nach den Varianten mit Exa- und Altix-Bajonett mein drittes Primagon und das schönste.

Ganz einfach zu handhaben dürfte der Silberling nicht sein. Die schwache Lichtstärke ist bei allen anderen als guten Lichtverhältnissen so etwas wie ein eingebauter Unschärfegenerator. Und die exponierte übergroße Frontlinse dürfte trotz des roten „V“-Zeichens zur Kennzeichnung der Glasvergütung neben dem Licht auch die ungewollten Streulichteffekte wie Ghosts und Flares sammeln. Das Primagon ist wohl eine ganz schöne Primadonna, die in eine Gegenlichtblende gehüllt sein will, um strahlen zu können. Sie soll sie bekommen, in bestem zeitgenössischen Bakelit natürlich. Damit hoffe ich dann auf Bilder in typischem Meyer-Stil, mit weichem Hintergrund und schönen warmen Farben, nicht zuletzt dank der Blende mit zehn Lamellenblättern. Zeige sie uns, was sie kann, Primadonna!

Ach ja: Abgelöst wurde das Primagon im Jahre 1964 von dem Objektiv mit dem wohl schönsten Namen überhaupt – Lydith 3.5 30. Lydith – war das nicht diese hübsche junge Frau aus dem Alten Testament, die den obersten General des feindlichen Heeres beim Baden fotografierte?

Der Glücksgriff

Sony A7II mit Carl Zeiss Jena Macro-Prakticar, F22
Sony A7II mit Carl Zeiss Jena Macro-Prakticar, F22

Ich freue mich gerade über einen etwas exotischen Vogel, der mir heute Morgen aus der allseits geschätzten Elektrobucht zugeflogen ist.

Darf ich vorstellen? Ein Meyer Optik Primotar E 3.5/50. Das ungewohnte „E“ steht für „Einstellblende“: Das auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1957 neu vorgestellte Objektiv ist für damalige Verhältnisse äußerst modern mit sogenannten hochbrechenden Krongläsern und Tiefflinten konstruiert. Doch die gute Bildqualität hatte ihren Preis in der eher unterwältigenden Offenblende von F3.5 – das berühmte Tessar vom direkten Konkurrenten Carl Zeiss Jena glänzte schon längst mit F2.8. Also kamen die Görlitzer Ingenieure auf den Trick, die Linsen etwas größer anzulegen als für 3.5 nötig wäre. Öffnet der Fotograf nun beim Fokussieren die Blende mit Hilfe eines vorgesetzten zweiten Umschaltrings noch etwas weiter, hat er etwa Lichtstärke 3.0 zur Verfügung (zum Fotografieren ist diese Blende nicht nutzbar). Was eine Menge ausmachte, als man noch kein Liveview hatte, sondern auf das Licht im Sucher angewiesen war…

Einen „Geniestreich“ nennt Marco Kröger diesen Kunstgriff auf seiner lesenswerten Webseite Zeissikonveb.de (von der ich all diese beeindruckenden Fachinformationen gecopypasted habe): „Ich halte dieses Primotar E für das bemerkenswerteste Objektiv, das je in Görlitz entwickelt worden ist.“ Beim Verhältnis von Herstellungsaufwand zu erzielter Bildqualität sei das Primotar E nämlich „ein echtes Optimum“.

In meiner Vitrine bekommt der – wie bei Meyer nicht anders zu erwarten ansehnliche – Silberling einen Platz neben dem Zeiss-Biotar 2.0/58, diversen Tessaren 2.8/50, dem Meyerschen Hochleistungs-Klassiker Primoplan 1.9/58 und dem ja mittlerweile völlig überteuerten Trioplan 2.9/50. Und vervollständigt so meine Alu-Sammlung.

Nachdem der Neuzugang eine Stunde lang mit Mikrofaser- und Silberputztuch vom Dreck der vergangenen 60 Jahre befreit wurde, freut er sich auf den ersten Einsatz an der A7II. Ein paar Probeschüsse deuten schon mal auf brauchbare Schärfe und ein angenehm weiches Bokeh hin, typisch für die Meyer-Linsen aus dieser Zeit. Schade, dass das Primotar nur sechs und auch noch schnurgerade Blendenlamellen hat, statt der damals noch verbreiteten acht bis zehn oder gar deutlich mehr. Was beim „E“ nämlich zur Folge hat, dass die Spitzlichter im Hintergrund immer sechseckig sind, sogar bei Offenblende – ziemlich einzigartig in der Welt der Objektive.

Da liegt er nun und glänzt im Licht, der kleine Zylinder aus Metall und Glas. Der Fokusring läuft wie geschmiert, die Blendenlamellen rasten ein, wie sie sollen. Und das, obwohl die Linse als „für Bastler“ angeboten wurde. Und entsprechend günstig zu haben war.

Willkommen in meiner Sammlung, kleiner Geniestreich. Vielleicht bist du nicht das perfekte 50-Millimeter-Objektiv, nach dem wohl jeder Fotograf sucht. Aber ein Glücksgriff bist du bestimmt.