Der Wiederholungstäter

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Es ist schon seltsam, was die aktuelle Flüchtlingskrise bei den Menschen auslöst. Schon wieder radele ich in ungewohnter Frühe quer durch Aachen. Diesmal brauche ich nicht auf die Navi-App zu schauen: Das Läuten der Glocken macht es leicht, die Auferstehungskirche am Kupferofen zu finden. Es ist Sonntagmorgen, es ist kurz vor halb Zehn, ich bin auf dem Weg in einen Gottesdienst. Ihr lest richtig. Ich. Freiwillig. Ohne dass eine Hochzeit oder Trauerfeier ansteht oder ein Termin für die Zeitung. Es dürfte das erste Mal seit meiner Konfirmation sein, gefühlt zumindest.

Ich bin kein religiöser Mensch. In der Kirche bin ich vor allem, weil ich sie als soziale und seelsorgerische Organisation für wichtig halte – und weil sie mir auch nie ausreichend Grund geliefert hat, um wütend meinen Austritt zu trompeten (da, wo ich herkomme, ist man übrigens evangelisch). Die paar Euro an Kirchensteuern zu sparen, war mir als Grund für einen Bruch denn auch immer zu, ja: billig. Es geht schließlich beim Glauben um eine Sache, die man mit Geld nicht bezahlen kann, auch nicht mit der Mastercard.

Es ist auch nicht die Sehnsucht nach einem spirituellen Erlebnis, die mich jetzt etwas schwer atmend den Forster Berg hinauftreibt. Es ist der Wunsch, all den Wutbürgern und Hassgetriebenen zu entkommen, die im Internet ihre Galle, ihren Neid und ihre Missgunst versprühen. Man lese nur ihre Kommentare unter einem beliebigen Nachrichtenartikel zum Thema Flüchtlinge, in denen sie die ehrenamtlichen Helfer als „Bahnhofsklatscher“, „Stofftierverteiler“ und „Refugees-Welcome-Plärrer“ verhöhnen, die den verbrecherischen und vergewaltigenden „Invasoren“ auf einem Silbertablett unser Land, unsere Zivilisation, unsere Frauen und unsere Kultur überreichen.

Unsere Kultur? War da nicht mal was mit christlichem Abendland? Und gewissen Werten und Idealen? „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, sofern er weiße Hautfarbe hat und einen deutschen Pass“ – ich bin nicht bibelfest, aber so hat Herr C. das vor 2000 Jahren mit Sicherheit nicht gesagt. Ich suche die Gesellschaft von Menschen, die das ähnlich sehen. Man könnte auch sagen, ich bin auf der Suche nach meinen Wurzeln.

Pfarrer Martin Obrikat habe ich vorletzte Woche auf dem Helfertreffen für die Flüchtlinge in der Körner-Kaserne kennengelernt und nach ein paar im Anschluss gewechselten Worten umgehend sympathisch gefunden. Also lasse ich mich, nach sehr, sehr vielen Jahren, einmal wieder auf einen klassischen Gottesdienst ein. Wird es nur ein leeres Ritual sein? Ein schiefes Absingen altertümlicher Lieder und Schweigen zu einer langweiligen Predigt? Oder gibt es noch mehr?

Vom Programm her bekomme ich jedenfalls ordentlich etwas geboten. Mein erster Gottesdienst seit fast dreißig Jahren ist eine echte De-Luxe-Version: Familiengottesdienst mit Erntedank inklusive zweifacher Kindstaufe und Abendmahl. Der weiße Innenraum der – leider arg nüchtern gehaltenen – Auferstehungskirche ist voller Eltern mit Kindern. Die Stimmung ist gelöst und fröhlich, Gemurmel und gelegentliches Babyquengeln füllt den Raum, von Steifheit keine Spur. Im Gottesdienstprogramm sprechen Grundschul- und Kindergartenkinder Verse und singen, und auch wir Erwachsenen dürfen uns bei einem Kinderlied mal im Kreis drehen, mit dem Fuß stampfen und auf- und abhüpfen. Als die Taufen beginnen, werden alle Interessierten eingeladen, sich nah an das Geschehen vor dem Altar zu stellen; ich nehme das Angebot gerne an.

Schließlich das Abendmahl: Alle Anwesenden bilden einen großen Kreis an den Außenwänden, der das Kirchenschiff ganz ausfüllt. Wir fassen uns an den Händen – eine unter wildfremden Erwachsenen ungewohnte Geste der Verbindung. Teller mit Brotstücken und Weintrauben werden durchgereicht. Als der Brotteller bei mir ankommt, ist nur noch ein einziges Stück übrig. Ich reiche den Teller weiter an einen kleinen Jungen im festlichen Anzug rechts neben mir, der das Brot mit ernster Miene entgegennimmt. Der alte Mann zu meiner Linken lächelt mich an, bricht sein Stück durch und reicht mir eine Hälfte. Die kleine Geste mit der großen Bedeutung – das Brot brechen – trifft mich wie ein Schlag. Und ich alter Sack habe plötzlich etwas im Auge. In beiden Augen. Es ist ein zutiefst bewegender Moment.

Als der Gottesdienst vorbei ist, gibt es Kuchen, Kaffee und Apfelsaft für alle. Ich bleibe noch ein paar Minuten, bevor ich mich auf den Weg zum Mittagsessensdienst in der Flüchtlingsunterkunft Körner-Kaserne aufmache, und genieße einfach nur das Gefühl, unter all diesen fröhlichen, Wärme ausstrahlenden Menschen zu sein. Es geht hier ja nicht darum, wer die meisten Bibelverse auswendig kann, wer am schönsten singt oder wer am innigsten betet. Es geht um die Werte, um das Ursprüngliche. Wer heute noch freiwillig in eine Kirche geht, tut das nicht, weil es gesellschaftlich geforderter Mainstream ist. Heute ist es eine Überzeugungstat.

Und so bin auch ich, nach all den kirchenfernen Jahren und Jahrzehnten, zum Wiederholungstäter geworden. Ich kann es nicht weniger pathetisch ausdrücken: Es war ein wunderschönes Erlebnis. An diesem Morgen bin ich froh, all die Jahre der Versuchung widerstanden zu haben, aus kleinlichem Geiz der monatlichen Abbuchung der Clubgebühr widersprochen zu haben.

Die Flüchtlingskrise verändert gerade Deutschland. Sie bringt im Einen das Beste zum Vorschein, im Anderen das Schlechteste. Überall in den Städten und Gemeinden im Land organisieren sich Helferkreise – in Leipzig erfindet der örtliche Pegida-Ableger mal wieder eine Kindsvergewaltigung durch Asylbewerber. Es findet eine Radikalisierung statt – zum Glück auch im Guten.

Mich haben die vergangenen Wochen dazu gebracht, darüber nachzudenken, wer ich eigentlich bin und wer ich sein möchte. Heute bin ich wieder einen kleinen Schritt weitergekommen.