Die ersten Januartage sind keine fröhliche Zeit. Der Himmel wolkengrau, das Wetter nasskalt, die Tage kurz, die Stimmung neigt zu Melancholie. Es ist eine Zeit, schon lange vorgenommene Dinge zu erledigen, To-Do-Listen abzuarbeiten und sich das schlechte Gewissen wenigstens partiell zu erleichtern.
Schweigend stehen die Leichen auf dem Werkstatthof, teils ausgeschlachtet, teils mit den Innereien anderer Schrottopfer ausgestopft, einige bereits aufgebahrt und bereit zu ihrer allerletzten Reise. Während meine C-Klasse im Hintergrund auf die Hebebühne wartet, streife ich zwischen den tristen Hüllen herum und lasse mich anstecken vom morbiden Charme des Morbiden.
Ein unverhofftes Wiedersehen mit einem alten Bekannten – dem Smileymännchen „Mr Happy“ aus der „Glasgow’s Miles Better“-Kampagne, mit der die heruntergekommene schottische Industriemetropole in den 80er-Jahren ihr Image erfolgreich aufzumöbeln begann. Als ich die Stadt 1992 zum ersten Mal mit Interrail besuchte, war der Slogan noch häufig zu sehen, obwohl die Nachfolgekampagne „Glasgow’s Alive“ schon seit längerem lief.
„Alive“ – das ist überhaupt das Stichwort für viele der vor sich hin träumenden Ruinen. Mutter Natur haucht den aus dem Verkehr Verschiedenen auf ihre Weise neues Leben ein, so wie diesem Opel Kadett.
Und so sprießt es still und hoffnungsfroh an mancher verborgenen Stelle…
…oder ganz offen, dem winterlichen Himmel entgegen.
Doch auch, wo noch nichts oder nichts mehr wächst, nimmt das Schicksal seinen Lauf. Alles fließt, sagten die alten Griechen. Manchmal blättert und bröselt es auch. Ich fühle mich an die vergessenen und zerfallenden Eisenbahnwagen hinter dem Geisterbahnhof von Canfranc erinnert.
Und die Schwerkraft tut das Ihrige, wenn Stahl zu Staub wird.
Auch wenn das Reifenprofil noch gut ausschauen mag: Ungewohnte Einblicke entstehen, wo der Zahn der Zeit seine Bissspuren hinterlassen hat, wie am vorderen Radlauf dieses alten W123ers.
Scheußlich auch dieser Schaden, dessen Reparatur offenbar niemand für nötig – halt, das ist ja meine C-Klasse. Was mich daran erinnert, weshalb wir hier bei Dirk sind: Am treuen Flocki ist nach fast zwei Jahren und 60.000 Kilometern mal wieder das eine oder andere zu erledigen.
Das größte Unwohlsein bereiten mir die vorderen Federbeinaufnahmen, die als Blechteile in Form umgedrehter Müslischüsseln ans Radhaus angeschweißt sind. Bricht eine davon ab, so wie es vor fast zwei Jahren auf der Fahrerseite passiert ist, ist die aus dem Wagen herausfallende Feder Anlass genug, sich von dem Fahrzeug zu trennen.
Das möchte ich gerne vermeiden, allein, was lässt sich dagegen tun? Eine Verstärkung einschweißen: eine Abstützung, um die Federbeinaufnahme zu entlasten. Im oberen Bild sind bereits die Stellen blankpoliert, an denen die Strebe angeschweißt werden soll.
Dirk fertigt aus zwei Stücken Rohr (Wandstärke 2-3 Millimeter, also überaus solide) solche Stützen an. An den Enden abgeflacht und entsprechend abgewinkelt, passen sie genau zwischen Radhaus und Federbeinaufnahme.
Während des Anschweißens habe ich das seltene Vergnügen, als Brandwache im Motorraum meines Fahrzeugs die Flammen auszupusten.
Das Ergebnis überzeugt. Nach Grundierung und Lackierung werden die neuen Streben noch mit Fett gegen Wettereinflüsse geschützt. Das sollte eine Weile halten – mehr Stabilität dürfte da vorne kaum möglich sein.
Und noch die eine oder andere Kleinigkeit ist zu flicken. An zwei Stellen werden abgebrochene Halterungen wieder an den Auspuff geschweißt, ins Differential wird neues, bernsteinfarbiges Öl gequetscht und die Hinterachse bekommt zwei neue Federn (auf der Beifahrerseite war ein mehrere Zentimeter langes Stück abgebrochen). Bei letzterer Aktion stellt sich allerdings heraus, dass der Mercedeshändler meines Vertrauens mir Gummipuffer für den W210 statt des W202 mitgegeben hat. Statt der neuen Gummis müssen also die alten wieder rein – arg ärgerlich, die ganze Ausbauprozedur müssen wir irgendwann nochmal wiederholen.
Und sogar der so schlimm zerschrammte Radlauf am Kotflügel vorne links – siehe Foto oben – wird provisorisch wieder ausgebeult und weiß gelackt, auf dass er noch den Winter über halte.
Eine kleine Wellnesspackung für ein Auto, das mir in den letzten anderthalb Jahren sehr ans Herz gewachsen ist, so problemlos und angenehm frisst es täglich brav seine Kilometer. Pro Arbeitstag immerhin mindestens 130 davon.
Es ist längst Nacht, als sich der Wagen und ich wieder auf den Weg nach Köln machen. Müde, aber zufrieden. Wieder etwas erledigt. Es soll halt noch ein paar Jahre dauern, bis Moos auf meinem Auto wächst.
Es ist ein schöner sonniger Morgen an diesem Sonntag, 12. August 2012, gegen 9 Uhr 15. Auf dem Gelände der Esso-Tankstelle am Aachener Europaplatz steht eine Gruppe jüngerer Menschen um eine Gruppe älterer Autos herum. Karten werden auf ausgebreitet, gute Ratschläge erteilt, Gepäck umgeräumt. Wohlgefüllte Picknickkörbe und Packtaschen lassen Großes erahnen.
Irgendwann ist alles geklärt, gepackt, besprochen – Abfahn! Vorweg Dirks 280 TE, dahinter Sebastians frisch restaurierter 230 C, gefolgt vom 600 SEL von Lars. Am Schluss der kleinen Kolonne dasjenige Fahrzeug, das heute zwar die mit Abstand niedrigsten Kilometerkosten haben wird, aus ebendiesem Grunde aber auch ganz hinten fahren muss: mein 240 CD, proudly powered bei Rapsöl. Unser Ziel: Luxemburg. Sebastian hat die ganze Sache angeleiert, die Route gelant und alle eingeladen. Es ist, wenn man den Erinnerungen der Mitfahrer glauben schenken darf, gerade einmal die zweite offizielle Ausfahrt des Aachener Stammtischs des VdH (Verein der Heckflossenfreunde).
Über Lichtenbusch geht es die E40 herunter, dann die E42 an Verviers vorbei, wo wir der Autobahn Lebewohl sagen und uns auf schmalen belgischen Landstraßen durch die herrliche Ardennenlandschaft nach Süden vorarbeiten. Da unser Kolonnenführer netterweise nicht gar so aufs Tempo drückt, bleibt Gelegenheit für den einen oder anderen Schnappschuss – etwa von dieser fröhlichen jungen Dame, die hinter einem artig aufgestellten Warndreieck eine Kuh am Straßenrand von ihrer Milch befreit und den vorbeirauschenden Altfahrzeugen begeistert zuwinkt.
Meine Fahrposition am Ende der Gruppe birgt bei der gegebenen Fahrzeugwahl den Nachteil, dass hochaufragende Kirchen und mächtige Natursteinhöfe mit einem nicht minder ausladenden Fahrzeugheck um die vorhandenen Pixel auf meinem Kamerachip konkurrieren müssen. Aber sehen wir’s positiv: Immerhin ist es nicht die Coupé-Version des W140, die da vor uns die Szenerie befährt…
Die schmalen Straßen führen uns abwechselnd über solch offenes Weideland und romantisch gewundene, bewaldete Täler. Sie sind manchmal kurvig und manchmal schnurgerade, manchmal bequem und manchmal, äh, belgisch. Manchmal überholen Motorradfahrer uns, manchmal wir ein Rudel Radsportler. Eins aber sehen wir nie, fällt uns im Nachhinein auf: Ampeln.
Schließlich überqueren wir die Grenze zu Luxemburg (was sich, wie um das Vorurteil zu bestätigen, von einem Meter auf den anderen an der Qualität der Straßendecke bemerkbar macht). In Wiltz steigt ein alter Studienfreund von Dirk zu, der uns zu einem kaum zugänglichen, aber umso reizvolleren Aussichtspunkt lotsen will. Über schmale Feldwege und vorbei an gestikulierenden Bauern geht es in einen Wald, wo die Aachener Sternenflottille zwischen schattenspendenen Bäumen vor Anker geht. Ein an den Heckwischer geklemmter Zettel mit einer Erklärung in Lëtzebuergesch macht etwaigen Ordnungskräften deutlich, dass wir die Erlaubnis des örtlichen Landwirts haben, zu sein wo wir sind.
Etwa 200 Meter Fußweg dahinter öffnet sich der Wald und wir erreichen die kleine Lichtung des Aussichtspunktes Tempelskamp, wo ein hölzerner Aussichtsturm und einige Bänke mit Tischen die müden Reisenden begrüßen. Was für eine Aussicht!
Nach Süden hin ringelt sich der Obersauerstausee durch die Landschaft, ein künstliches Gewässer, das fast drei Viertel Luxemburgs mit Trinkwasser versorgt. A propos Wasser: Jetzt ist es Zeit…
…für unser Picknick, nachdem wir gut zweieinhalb Stunden in den weitgehend unklimatisierten Wägen gesessen haben. Dirks Bekannter Adrian zeigt uns, was luxemburgische Gastfreundschaft bedeutet und verteilt kühles luxemburgisches „Simons“-Bier in hübschen weißen Blechflaschen, Riesling-Pasteten und Küchlein. Wir würden am liebsten gar nicht mehr weg…
…und beneiden die Badenden unten am Seeufer kein bisschen. Doch nach einer guten Stunde sind wir bereit zu neuen Abenteuern.
Auch Luxemburg hat reichlich landschaftliche Reize, von den gepflegten hübschen Dörfchen und den diversen Burgruinen ganz zu schweigen.
Hinter jeder Kurve scheint eine neue Burg vom Berg zu dräuen. Doch es gibt noch andere faszinierende Bauwerke, etwa zwei Stahlträgerbrücken älteren Baujahrs. Es rumpelt mächtig, als unsere vier Stuttgarter Schwermobile über die schmale einspurige Fahrbahn zockeln.
Nach mehreren Kilometern durch bewaldete Berglandschaft zeigt sich hinter einer Linkskurve dieser Anblick.
Es ist die Burg Vianden, eine imposante Stauferfestung aus dem 12. und 13. Jahrhundert, die in den 80er-Jahren in ihren heutigen Zustand restauriert wurde. Wir halten im kleinen Dorf zu ihren Füßen, doch mit freien Parkplätzen sieht es in diesem Touristenmagnet mau aus. Nach kurzer Fotopause müssen wir uns notgedrungen wieder auf den Weg machen. Doch ein Ziel haben wir noch vor uns, auch wenn es von außen weit weniger eindrucksvoll aussieht.
Das nahegelegene Pumpspeicherwerk Vianden, mit über 1000 Megawatt Leistung eines der stärksten in Europa. Dabei handelt es sich nicht nur um ein normales Wasserkraftwerk, sondern um eine Art Stromspeicher: Wenn wenig Strom benötigt wird, zum Beispiel nachts, wird Wasser in einen Stausee gepumpt. Dieses hochgepumpte Wasser ist nichts anderes als gespeicherte Energie, die zu Spitzenzeiten wieder abgerufen werden kann. Weil sich mit solchen Pumpspeicherwerken der erzeugte Strom speichern lässt, sind sie ein wichtiger Bestandteil bei der Energieerzeugung aus Sonne und Wind.
Das Werk Vianden an der Ourtalsperre wurde 1964 eingeweiht. Heute halten der Staat Luxemburg und die deutsche RWE je 40 Prozent der Anteile. Der erzeugte Strom wird ins europäische Verbundnetz eingespeist.
Der Eingang ist offen. Über einen langen unterirdischen Schacht gelangt man in einen Besucherraum, von dem aus man in die 330 Meter lange und 25 Meter hohe Kaverne mit den neun gewaltigen Turbinen sehen kann. Eine zehnte befindet sich in einem Seitental, eine elfte ist gerade in Arbeit.
Der Leitstand mit seiner Holzverkleidung, den mechanischen Schaltern und analogen Anzeigen erinnert ein wenig an Kernkraftwerke aus dem früheren Ostblock.
Draußen auf dem Besucherparkplatz bietet sich noch Gelegenheit für dieses aussagekräftige Foto: Kraftpakete vor einem Kraftwerk. Dann trennen sich die Wege unserer Gruppe: Dirk und Lars machen einen Schlenker durch Luxemburg, Sebastian und mich zieht es heim gen Aachen beziehungsweise Köln.
Wir fahren hinter Weiswampach über die Grenze, schließlich bei St. Vith auf die Autobahn und zurück nach Aachen. Unterwegs schießt Sebastians Freundin dieses schöne Foto meines Dieselboliden. Gegen 18.30 Uhr kurvt der Moorbraune auf den Europaplatz ein, eine Stunde darauf bin ich zurück in Köln – und reichlich geschlaucht von einer kurzen Nacht und vielen hundert schönen Kilometern Straße durch drei Länder.
Soviel ist aber sicher: In Luxemburg waren wir nicht zum letzten Mal. Das kleine Land verdient, dass man es mit viel Zeit im Kofferraum erkundet. Und irgendwann gibt es auch bestimmt mal einen freien Parkplatz an Burg Vianden.
Der Wagen steht an der Autobahnabfahrt Eynatten, warnblinkend, in der Kurve, die hinauf zur Landstraße nach Aachen führt. Ein dunkler Kombi, offenbar liegengeblieben und mit letzter Kraft gerade noch von der Autobahn gerollt. Eine Frau mit Kopftuch ist ausgestiegen, ein Mann mit dunklem Teint winkt hilfesuchend. Es ist gegen 20.30 Uhr, ich habe nach Feierabend noch rasch am Autohof hinter der belgischen Grenze LPG getankt und beschleunige gerade auf die Zufahrt zur Autobahn. Kaum habe ich das gestrandete Pärchen wahrgenommen, bin ich auch schon an ihnen vorbei, man bremst ja aus voller Beschleunigung nicht ohne weiteres, zumal mit weiteren Autos im Rücken.Auf den folgenden Kilometern wächst das schlechte Gewissen mit jedem Meter: Hattest du nicht auch schon mal eine Panne? Wie lange wird so ein südländisches Pärchen mit Autopanne in dieser Gegend auf Hilfe warten müssen? Bis Aachen-Brand ist das schlechte Gewissen so stark geworden, dass ich mit innerem Seufzen abfahre und wieder umkehre. Der Kombi steht immer noch in der Abfahrt.Ich halte auf dem Seitenstreifen. Der Mann tritt ans Beifahrerfenster. Er sei liegengeblieben, mit leerem Tank und ohne Geld. Ob ich ihm etwas leihen könnte? Er schwört, es zurückzuüberweisen,faltet die Hände, Verzweiflung in der Stimme. Ich werfe einen Blick ins Portemonnaie – mehr als zehn Euro sind nicht drin. Er nimmt das Geld, dankt traurig. Weit wird ihn das nicht bringen. Wo er hin will? „To Paris.“ – „Good luck to you.“ Ich fahre wieder los.In der folgenden Dreiviertelstunde bis Köln legt das schlechte Gewissen erst so richtig los. Du hättest den armen Kerl wenigstens zur Tankstelle fahren können, schimpfe ich mit mir. Oder ihn besser gleich dahin abbeschleppt. Was soll er mit zehn Euro, wenn er sich davon erstmal einen Reservekanister kaufen muss? Man hätte unter den wartenden Autofahrern an der Tankstelle den Hut herumgehen lassen können. Wenn jeder fünf Euro gegeben hätte… wie weit ist es eigentlich nach Paris?
Zu Hause angekommen, erzähle ich von meinem Treffen mit dem ärmsten Autofahrer in ganz Belgien. Meine Freundin bleibt ungerührt. „Du weißt, dass das eine ganz gängige Betrugsmasche ist?“ Böses ahnend, werfe ich Google an. Schnell ist das Stichwort gefunden: „Autobahngold„. Ein verbreiteter Trick, vor allem in der Reisezeit. Die Betrüger – meist aus Osteuropa – simulieren eine Panne, winken mit leeren Kanistern oder Abschleppseilen, leihen sich von hilfreichen Autofahrern Bargeld und bieten als Pfand scheinbar wertvollen Goldschmuck, Lederjacken oder ähnliches. Die Ware ist reiner Tinnef, das geliehene Geld sieht der Geneppte nie wieder. Polizei und Medien warnen seit Jahren vor der Masche.
Kalte Ernüchterung. Ich rufe die Autobahnpolizei am Grenzübergang Lichtenbusch an. Ich sei da einem angeblich liegengebliebenen Pärchen begegnet… „Haben die Ihnen Gold angeboten?“, fragt der Beamte. „So weit sind wir nicht gekommen“, erwidere ich zerknirscht. Für meine zehn Euro gab’s ja nicht mal ein echtes Goldkettchen aus Messing. „Sobald die ihr Geld bekommen haben, sind die gleich über alle Berge“, erklärt der Polizist. Fahndung zwecklos.
Man hätte von selbst drauf kommen können. Wer nach Paris will, bleibt schließlich nicht auf der Strecke von Lüttich nach Aachen mit leerem Tank liegen.
Ich ärgere mich. Über meine Leichtgläubigkeit, über die zehn Euro, aber vor allem darüber, dass ich beim nächsten liegengebliebenen Auto mit dunkelhäutigem Fahrer und/oder Kopftuchfrau wohl noch weniger zum spontanen Hilfshalt geneigt sein werde. Womit das Betrügerpärchen dann noch mehr Opfer auf dem Kerbholz hätte.
Andererseits: Zehn Euro sind kein allzu hoher Preis für eine nachhaltige Lektion Lebenshilfe. So ein falsches Goldkettchen hätte ich trotzdem gerne gehabt – als Andenken. Ob ich es beim nächsten Mal mit 20 Euro versuche? 15! Letztes Wort!
Irgendwann ist der schmale Teerweg zu Ende. Dahinter geht es ein paar Meter über ein Feld, durch dessen zartgrüne Halme die Schatten der Rotorblätter eines Windrades flitzen an diesem sonnigen Herbstnachmittag. Ein paar Schritte die Böschung hinunter zu den Schienen. Den Einschnitt säumt auf jeder Seite ein Feld voll meterhoher Steinpyramiden. Schattig und still ist es hier unten. Doch so still war es nicht immer. Wir sind da, wo für Aachen der Zweite Weltkrieg endete.
Der Schotter klickt unter den Schritten, Züge fahren hier nicht mehr. Ein Stück weiter, neben dem Gleis: der Bunker. Ein „Gruppenunterstand ohne Kampfraum“, Teil des Westwalls, Hitlers letzter Auffanglinie, auf deutschem Boden schon. Mit ein paar Kubikmetern Stahlbeton wollte das untergehende Dritte Reich die heranwalzenden alliierten Armeen aufhalten.
Europa ist voll von solchen grauen Grüßen aus Deutschland. Dieser hatte die Aufgabe, die Bahnlinie nach Holland zu sichern. Doch allzu lange gekämpft wurde hier an der Westkante nicht: Schon im Oktober 1944 war für Aachen alles vorbei und der Alptraum vorüber. Im Rest des Reiches dagegen starben noch mehr als ein halbes Jahr lang die Menschen zu Hunderttausenden, weil der größte Führer aller Zeiten die Zeichen ebenjener nicht erkennen wollte.
Im Inneren ist es stockfinster. Nur ein, zwei Lichtstrahlen dringen durch Ritzen im geborstenen Beton.
So unbedeutend dieses Überbleibsel der Geschichte heute auch wirken mag, es war offenbar wichtig genug, um nach Ende der Kampfhandlungen in die Unbrauchbarkeit gesprengt zu werden. Die Wucht der Explosion im Inneren hob die meterdicke Decke hoch und ließ die Außenwände auseinanderbrechen.
Das Gewicht der herunterstürzenden Decke hat die Wände teilweise niedergerissen. Was noch an Innenraum geblieben ist, wird durch die Betontrümmer auf dem Boden zum niedrigen Höhlenlabyrinth. Die Füße ertasten sich einen Weg über die Geröllhügel, während der Kopf den Brocken ausweicht, die an den abgerissenen Stahlstangen von der Decke hängen. Deren leuchtendes Rostrot ist das einzig Farbige in all diesem Grau und Schwarz.
Halt, es gibt doch noch ein paar andere bunte Tupfer. Vereinzelter Abfall der Moderne beweist, dass im Lauf der Jahrzehnte noch andere Neugierige den Weg in diese Kaverne gefunden haben. Hier eine Bierdose, da eine Tube – was ist das, Gleitcreme? Im Taschenlampenlicht entziffern die Augen mühsam Worte auf Niederländisch. Papierleim. Warum auch immer.
Keine Schautafel erklärt dem Besucher die Geschichte des Baus. Was hier passiert sein mag vor fast 70 Jahren, bleibt offen.
Der Verfall ist fast zu atmen. Für die Ewigkeit wurde nicht gebaut im Tausendjährigen Reich. Doch vom Grauen, von der Angst, die die hier ausharrenden Soldaten empfunden haben müssen, ist nichts mehr zu spüren. Der Bunker ist nur noch Baudenkmal. Der Lichtfleck der Taschenlampe gleitet über unzählige Schnaken, die sich an den Wänden niedergelassen haben. Was die Nazis errichtet haben, erobert nun die Natur.
Das große Morden, mit dem der Bau dieses militärischen Objekts verbunden war, ist zur Geschichte eines anderen Jahrhunderts geworden. Heute geistert nur noch ein kleiner Tod durch die Ruine.
Es ist kalt. Schaudernd klettert der Besucher aus der Gruft ans Freie. Doch das Frösteln vergeht schnell in der warmen Sonne. Der Schotter knirscht. Kein Blick zurück.
Es gibt diese Dinge, die braucht kein Mensch. So ein iPad zum Beispiel. Zum ernsthaften Texteschreiben taugt es kaum, für Bildbearbeitung schon mal gar nicht. Als MP3-Player ist es zu sperrig, als Fernseher zu winzig, die Speicherkapazität ist zu gering, die Kamera ein Witz und telefonieren kann man damit auch nicht richtig. Es ist zu klein, zu groß und zu teuer sowieso. Ich habe schon einen Desktop-Rechner, ein Notebook, ein Netbook und ein iPhone. Warum um alles in der Welt will ich auf einmal unbedingt ein iPad haben? Womit wir beim neuen Magazin „Wired“ wären.
Die „Wired“ ist in den USA seit fast zwei Jahrzehnten das amtliche Pflichtblatt für alle Geeks, also die fröhlichen Technikbejaher (und von seiner deutschen Erstausgabe, die seit Donnerstag in den Kiosken liegt, lernen wir, dass der Geek im Englischen das positive Gegenstück zum eher eigenbrötlerischen Nerd ist). Ehrensache, dass ich gleich morgens um 8 Uhr in der Aachener Bahnhofsbuchhandlung stand, um einen der in Folie eingeschweißten Erstlinge ergattern zu können. (Okay, außerdem hatte ich um diese Zeit noch einen Termin bei der benachbarten Bürgerberatung.)
Die echten Fans sind nicht einmal dadurch abzuschrecken, dass sie den knallgelben 130-Seiter im Doppelpack mit dem Herren Männermagazin „GQ“ erwerben müssen. Auf Twitter hatten sie vorher schon gewitzelt, dass der Satz „Will jemand die neue GQ haben?“ am Donnerstag der meistgeschriebene im Netz sein würde.
Um’s kurz zu machen, die erste deutsche „Wired“ ist ein wunderbares Blatt geworden. Chefredakteur und Blogger Thomas Knüwer („Indiskretion Ehrensache„) hat dafür fast alles aufgeboten, das im deutschsprachigen Netz Rang und Namen hat: Mario Sixtus, Markus Beckedahl, Anke Gröner, Richard Gutjahr, Thomas Wiegold, und, und. Zusammen haben sie eine tolle Ausgabe geschaffen. Sie ist bunt, sie ist abwechslungsreich, sie macht Lust aufs Lesen. Da werden in der Rubrik „Fetisch“ Putzroboter getestet. Kult-Autor Jeff Jarvis stellt Johannes Gutenberg als den ersten Geek der Geschichte vor. Der Leser wird in die schlüpfrige Welt des Sexkontakt-Netzwerks Badoo geführt. Ich habe gelacht über das Foto von Darth Vader im Urlaub mit schwarzem Surfbrett, gestaunt über die retro-futuristischen Innenansichten des Atomkraftwerks Leibstadt und mich verloren in den unzähligen Details der „Sim-City“-artigen doppelseitigen Grafik eines Oktoberfest-Zelts. Eine Reportage beginnt sogar in der FH Aachen, wo über die Zukunft des Individualverkehrs nachgedacht wird. Kurz, die „Wired“ ist ein Blatt, das dem Couchtisch eines jeden Netizens zur Zierde gereicht. Sie ist so modern wie ein gedrucktes Magazin nur sein kann.
Und sie ist: veraltet.
Denn dann ist da noch die „Wired“-App für das iPad.
Die kostet schlanke 2,99 Euro (Heft: 5 Euro) und ist mächtige 633 MB groß. Ist der Download endlich zu Ende, beginnt das Wunder (für das es sich übrigens lohnt, die WiFi-Funktion des iPad anzulassen). Alles, was das Heft kann, kann die App besser. Die große Weltkarte des organisierten Verbrechens ist interaktiv, die Ströme der Schmuggelwaren von Cosa Nostra und Yakuza lassen sich zwecks besserer Übersicht einzeln aufrufen. Auf dem Bild von Schnaps-Pionier Ulf Stahl blubbert es lustig im Reagenzglas. Die Techie-Spielzeuge in der Rubrik „Fetisch“ sind animiert – der Lego-Unimog rotiert per Fingerwisch um 360 Grad, auf dem Arcade-Tisch läuft ein kleines Pac-Man-Spiel.
Doch die App kann mehr als zwitschern, piepsen und blinken. Sie bietet echten Mehrwert da, wo das Papier stumm bleiben muss. Der Artikel über die twitternde Eiche lädt gleich den aktuellen Nachrichtenstrom von @talkingtree_de. Die neue Raytrix-Kameratechnik wird auf einem Foto mit verschiedenen Tiefenschärfe-Zonen simuliert. Julia Probst, die Stimme der Gehörlosen, zeigt nicht nur wie in der Printausgabe auf drei Fotos die Gebärden für „Facebook“, „Wired“ und „Apple“. Auf der App demonstriert sie außerdem in einem kleinen Video die drei unterschiedlichen Gestik-Namen für Angela Merkel. Manche Sachen muss man einfach in Bewegung sehen, um darüber lachen zu können.
Und so geht es weiter. Jede Seite, die man sich aufs Display zieht, enthält ein neues Wunder. Im Artikel über den kubanischen Zombiefilm „Juan of the Dead“ ist gleich der komplette Trailer zu sehen, in Hochauflösung. Der fliegende „Smart Bird“-Robotervogel schlägt in einem bezaubernden Filmchen seine künstlichen Flügel zwischen Hochhauswänden. Das Focaultsche Pendel im Gasometer Augsburg schwingt in majestätischer Stille. Selbst die Grafik auf der Titelseite, eine Art Rohbauhaus-Computerkonsole, surrt und rotiert, wenn man sie antippt. Das Entdecken und Ausprobieren der immer neuen Gimmicks macht einfach Spaß.
Zugegeben: Die „Wired“-Geeks haben viele Monate Zeit gehabt, die digitale Erstausgabe vorzubereiten. Sie konnten auf Material der amerikanischen Mutterausgabe zurückgreifen, etwa die tickenden Uhrwerks-Hirn-Animationen. Sie werden ein gewisses Budget gehabt haben. Ob dieser hohe Standard langfristig zu halten ist, zeitlich und finanziell, muss sich erst einmal zeigen.
Trotzdem war ich beim Blättern Wischen durch die App auf dem für das Wochenende ausgeliehenen iPad von dem Gefühl überwältigt: Das ist die Zukunft. Das ist die nächste Generation des Lesens. Die gedruckte Ausgabe, so prall und bunt sie ist, wirkt neben der App wie eine Grammophonplatte aus Bakelit neben der DVD eines Live-Konzerts.
Das sage ich als jemand, der seit 40 Jahren mit dem Gefühl von Papier zwischen den Fingern lebt. Der Zeitungen und Zeitschriften liebt und nicht einschlafen kann, ohne ein paar Seiten in einem Buch gelesen zu haben. Auf und mit Papier kann man wunderschöne Dinge tun und spannende Geschichten erzählen. Wir alle werden uns mit Sicherheit noch viele Jahre lang von Inhalten auf einem Datenträger faszinieren lassen, der beim Umblättern raschelt.
Doch letztlich ist es dieser Inhalt, der zählt, nicht seine äußere Form. Eine Geschichte ist aufregend, lustig oder herzergreifend, ob sie in Marmor gemeißelt, auf Papyrus geschrieben oder auf eine Webseite geladen wird. Die Form hat sich über Jahrtausende immer wieder unseren Lesebedürfnissen und den Möglichkeiten der Herstellung angepasst. Die Hochglanzzeitschrift im Vierfarbdruck ist nur eine Evolutionsstufe in dieser Kette.
Hat jemals ein gedrucktes Magazin die Grenzen seines eigenen Mediums deutlicher gemacht als dieses brandneue Fachblatt für Virtuelles? „Print lebt“ schrieb ein fröhlicher Chefredakteur Thomas Knüwer nach Redaktionsschluss der Druckausgabe am 11. August im „Wired“-Blog. Um dann sinngemäß anzufügen: Und jetzt kommen wir zu App. Wie symbolisch.
Am Donnerstag war ich noch fest entschlossen, die „Wired“ zu abonnieren. Einen Tag später wollte ich ein iPad. Auf einmal, unbedingt. Es gibt Träume, die entstehen mit einem Fingerschnippen. Oder einem Wischen.
Ich sitze in meinem neuen Auto. Zum ersten Mal. Wobei „neu“ vielleicht nicht ganz das richtige Wort ist. Ich sitze auf dem Fahrergestühl eines Mercedes C180 von 1994, eines knapp 17 Jahre alten Fahrzeugs also.
Der Wagen steht auf dem Parkplatz einer Bosch-Werkstatt in Aachen. Der ADAC hat ihn heute Morgen hierher geschleppt. Der Blick über die links herunterhängende Motorhaube verrät, warum: Im Vorderkotflügel auf der Fahrerseite ist die Federbeinaufnahme gebrochen. Die Feder ist glatt aus dem Radhaus herausgefallen, sie liegt lose im Kofferraum.
Für die Besitzer war das der Zeitpunkt zu sagen: adieu. Danke für 174.000 glückliche Kilometer, doch nun ist deine Zeit um. Schrottplatz oder Marc, wer hebt als erster die Hand?
Mein neues Auto. Ich kann mein Glück noch gar nicht fassen.
Der Blick schweift über den neuen Arbeitsplatz, das neue Lebensabschnittswohnzimmer. Manche Menschen haben ja ein eher musealisch-erotisches Verhältnis zu ihrem Auto, für andere ist es bei aller Zuneigung in erster Linie ein Nutzgegenstand. Ascheflöckchen auf der Mittelkonsole zeugen davon, dass der C in seinem ersten Leben ein Raucherauto war. Was das Tabakbraun des einst hellgrauen Dachhimmels bestätigt.
Ja, hier kann man sich austoben, wenn man den musealen Ansatz verwirklichen will, dieses einzig wahre „wie frisch ab Werk“-Gefühl.
Es gilt Lack wieder zum Glänzen zu bringen,
Rost zu bekämpfen,
ordentlich aufzuräumen
und allzu kecke Natur zu vertreiben. Das ist mir etwas zu viel frisches Grün am Auto.
Die nächsten Wochen werden arbeitsreich. Fast jeden Tag hänge ich in irgendeiner verrenkten Position im, am, vor oder hinter dem Wagen.
Die Reinigung des Innenraums gerät zur Riesenaktion. Mit einem gemieteten Sprühreiniger aus dem Baumarkt geht es an das restlos entkernte Innenleben. Für den Ausbau der Sitze braucht’s eine eigens gekaufte Torx-Nuss.
Doch die Mühen werden belohnt. Mercedes-Qualität ist eben auch nach 17 Jahren noch Mercedes-Qualität, wenn andere Autos schon längst wieder dem Recyclingkreislauf beigetreten sind. Der Kunststoff des Armaturenbretts schimmert wieder wie 1994. Den Lack verhilft eine Politur zum alten Glanz. Und der C offenbart noch andere Qualitäten – vor allem einen vollständig unverbastelten Originalzustand.
Der Erstbesitzer war ein Sparfuchs: Außer E-Schiebedach, Colorglas, geteilt umklappbarer Rücksitzlehne und der Antenne (mechanisch!) hat er auf sämtliche Extras verzichtet. Nix Beifahrerairbag, nix E-Fensterheber, nix Klimaanlage, nix Kopfstützen hinten, nix Mittelarmlehne, nix Tempomat. Nix Elegance-Paket, nix Alufelgen, nix Zebranoholz. Gut, dass damals wenigstens ABS, Servolenkung, Zentralverriegelung, der Fahrerairbag und elektrische Außenspiegel serienmäßig waren. Und trotzdem: Ein Gefühl tiefer Dankbarkeit schwappt durch die Blutbahnen des Viert-Halters.
Der Moderraum vorher…
…und das Motorhome nachher.
Zum Nulltarif rollt der C freilich nicht in sein zweites Leben. Die Wiederbelebung beginnt mit der Federbeintransplantation (320 Euro), wird fortgeführt in neuem Schuhwerk (4 x Conti Premium Contact, ebenso 320 Euro), ergänzt durch neue Bremsen und Scheinwerfergläser (280 Euro), eine gebrauchte Kofferraumklappe in Polarweiß (90 Euro), eine Mittelkonsole mit Armauflage (50 Euro) und abgerundet von einem bunten Reigen aus Verschleiß- und Ersatzteilen, dem Wechseln diverser Flüssigkeiten und Filter (200 Euro mindestens) und ein paar Goodies von Ebay – neue Sonnenblenden, Aschenbecher, iPhone-Adapterkabel fürs (aus dem Wintergolf gemopste) Blaupunkt Essen. Ach ja, und das Wichtigste: ein neuer Stern, macht 30 Euro bittesehr. Über 1700 Flocken kamen am Ende zusammen.
Die Krönung ist aber die Gasanlage: eine Prins VSI, vollsequentiell, mit 67-Liter-Tank, und teurer als alle Investitionen bis dahin zusammen. Flocki, so heißt der C jetzt, hat nämlich noch einiges vor. Er wird jeden Kilometer der A4 zwischen Köln und Aachen ziemlich intensiv kennenlernen…
…und sieht er jetzt nicht aus, als ob er sich schon darauf freut?
Morgen geht’s allerdings erstmal in den Süden. Nach Portugal. Die erste große Reise. Noch eine Premiere. Das erste Mal hat viele Gesichter.
Im August 2009 kommt der Moorbraune zum dritten Mal in das Land, für dessen Besuch ich ihn einst, 1993, gekauft hatte: nach Schottland. Kreuz und quer durch die Highlands waren wir damals gefahren, während des Studienjahres in Glasgow und bei einer zweiten Reise im September 1995. Kreuz und quer – nur in eine Ecke nicht. Das wollte ich jetzt, 2009, nachholen: Es ging in den äußersten Nordwesten der britischen Insel – bis zum Cape Wrath.
Aachen, Dienstag, 18. August 2009. Die Vorbereitungen sind abgeschlossen. Vorne sind neue Stoßdämpfer von Wolfi eingebaut, im Fünfganggetriebe gluckert frisches Öl, die Ventile sind eingestellt, der Auspuff ist neu ausgerichtet, der Endtopf gewechselt, ein neues Radio eingebaut, eine blinkende neue Kühlermaske ist montiert, der Tacho auf den relativ korrekten Stand von 324.085 km eingestellt und der Lack hat eine Nano-Politur feinster Güte bekommen.
Schottland. Wir waren schon zweimal da, der Benz und ich. Einmal von September 1993 bis Juli 1994 für das Studienjahr in Glasgow – den Wagen hatte ich damals gerade erst gekauft. Dann, mit einem Jahr Abstand, noch einmal für einen Kurztrip im September 1995, mit dem frisch eingebautem (ersten) Dieselmotor.
Es war ein anderes Leben damals: Ich als Student der Rechtswissenschaften mit wachsender Unsicherheit in Bezug auf die Studienfachwahl. Der Benz als spürbar aus der Zeit fallendes, überteures Prestigemobil, überall wachsende Irritation in Bezug auf die Lackfarbe erzeugend.
Beim zweiten Besuch, 1995, war das Coupé mit é 14 Jahre alt. Jetzt, 2009, ist es 28 – also genau doppelt so alt wie damals. Seinerzeit hatte ich keinerlei Bedenken, mit ihm die Highlands unsicher zu machen – ein Mercedes mit 180.000 Kilometern auf der Uhr ist bekanntlich gerade einmal eingefahren. Aber wie gut wird er heute zu Fuß sein? Zwar sind seit der Wiedererweckung 2005 – nach knapp vierjährigem Dornröschenschlaf – reichlich Geld und Ersatzteile in die Restaurierung geflossen. Aber was kann nicht alles kaputtgehen zwischen Dover und Cape Wrath?
Dienstags, 8.15 Uhr. Wir verlassen Aachen – der Benz, die Beifahrerin und ich, der sich seine nagenden Zweifel nicht anmerken lässt, ob es mit der statistischen Wahrscheinlichkeit eines Defekts alle 1 Million Kilometer noch hinhaut, mit der Mercedes seine Dieselmodelle vor 30 Jahren beworben hat.
Doch die Reise verläuft völlig problemlos. Jedenfalls in der ersten Stunde. Nach 150 Kilometern auf dem Brüsseler Ring stehen wir allerdings im berühmten Brüsseler Ringstau. So etwas ist dann besonders unangenehm, wenn man weiß, dass die Zwölf-Uhr-Fähre darauf keine Rücksicht nehmen wird. Außerdem sind moderne Navigationsgeräte (zum Beispiel „Knubbel“, mein geliebtes Garmin i3 von 2001) in der Lage, jede neue Minute Verzögerung bei der Ankunftszeit in Dünkirchen genau anzuzeigen. Gottseidank, hinter Brüssel löst sich der Stau auf. Nur um auf der A18, der flandrischen Küstenautobahn, wieder einzusetzen. Wir quälen uns in dickem Verkehr nach Westen und ignorieren Ortsnamen wie De Panne.
Es reicht nicht. Es kann auch nicht reichen. Trotz Sprints auf dem Zubringer zum Fährhafen (ein couragiert gefahrener 240 D kann in Kreisverkehren auf französischen Landstraßen durchaus die Reifen quietschen lassen), erreichen wir die Terminals zwar noch kurz vor dem Ablegen der Fähre um etwa zwei Minuten vor 12. Doch der Mitarbeiter der Fährgesellschaft schüttelt bedauernd den Kopf: Zum Einchecken seien wir leider zu spät. Immerhin, der Zöllner winkt uns anstandslos durch, nachdem er sich – im Ernst! – über den Dieselmotor im Coupé gewundert hat.
Der Bug der Fähre ist immer noch hochgeklappt. Sollte am Ende…?
Der Diesel brüllt auf und stürmt mit der Wut der Verzweiflung die Rampe hoch. Metallplatten poltern. Ein überraschter Einweiser zeigt auf die dritte Spur von rechts. Hinter einem Wohnmobil kommt der Benz zum Stehen. Motor aus. In der plötzlichen Stille senken heulende Elektromotoren den Bug der Fähre ab. Einen glücklichen Moment lang ist die Zufriedenheit von Auto und Insassen deutlich zu spüren.
Alea iacta est. Wir sind auf See.
Im Duty-Free-Shop auf dem Schiff gibt es neben günstigem Single Malt auch diese originellen Aufkleber für den britischen Autofahrer zu kaufen. Für nur 3,49 Pfund die Gewissheit, in kontinentalen Kreisverkehren immer richtig („right“) abzubiegen – wenn das nicht sein Geld wert ist!
Zwei Stunden lang dauert die Überfahrt, dann rollt das schokoladigste Dieselcoupé westlich des Urals zum dritten Mal auf britischen Boden. Was für ein schönes Gefühl, nach so vielen Jahren zurückzukehren – „dreimal ist Oldenburger Recht“, sagt man da, wo ich herkomme. Erstaunlich unproblematisch wuseln wir uns durch örtliche Links- und Kreisverkehre. Dann geht’s auch schon auf die Autobahn, Richtung Norden. Bloß: Was ist mit Knubbel los? Der kugelförmige Wegweiser an der Windschutzscheibe scheint keine Satellitenverbindung zu bekommen, leitet uns durch Niemandsland. Siedend heiß fällt mir ein: Er hat zwar die Straßenkarten für Kontinentaleuropa im Speicher. Doch seit der Spanienfahrt mit dem Motorrad 2008 ist dort zwar Südeuropa geladen, nicht Großbritannien. Ohne Navi durch fünf Länder? Ist so etwas im Jahr 2009 überhaupt noch erlaubt?
Das Handy hilft. Mein HTC Orbit hat eine TomTom-Navigation installiert, die zwar eigentlich nur Deutschland, Österreich und die Schweiz kann, vom Rest Europas aber auch die Hautpstraßen verinnerlicht hat. Was später im Fall des ausgedünnten schottischen Straßennetzes heißen wird, dass praktisch jede noch so sekundäre Single Track Road vermerkt ist. Wäre TomTom wohl zu peinlich geworden, nördlich von Gretna Green nur noch Heideland zeigen zu können.
Über Englands grüne Hügel kommen wir flott voran. Um den Brüssel-Effekt zu vermeiden, umfahren wir London weiträumig und ziehen ein gutes Stück weiter östlich auf der A1 an Cambridge und Peterborough vorbei. Das funktioniert auch wunderbar – bis zu einem Nest namens Worksop, wo die Autobahn gesperrt ist und wir wieder mal in einem Stau landen. Es herrscht inzwischen Feierabendverkehr. Unendlich langsam quälen wir uns in einer Blechschlange durch eine Ortschaft nach der anderen. Wie weit kommen wir heute noch? Da ich in der vergangenen Nacht kaum geschlafen habe (das Packen und Erledigen letzter Dinge dauert irgendwie immer viel länger als geplant), bin ich inzwischen todmüde. Die Beifahrerin bucht mobiltelefonisch ein Zimmer in einem Hotel der Kette Travelodge in Sheffield. Eigentlich wollten wir ja überall nur in Bed & Breakfasts einkehren, schon des Geldes wegen.
Wir erreichen die Stadt am späten Abend. Ich bin inzwischen dermaßen fix und fertig, dass ich zweimal im Kreisverkehr rechtsherum abbiege. Upps. Schade, dass es auf der Fähre keine Roundabout-Aufkleber für Continental Drivers zu kaufen gab. Und schade, dass es ohne Navi und Stadtplan so unendlich lange dauert, in einer Riesenstadt wie Sheffield ein Hotel in einer Seitenstraße zu finden. Nach stundenlanger Suche in irgendwelchen Industriegebieten sind wir endlich da – und ich so erledigt wie selten. Schnell noch ein original englisches Abendbrot (also vom Take-Away-Chinesen), und ab in die Federn. 800 Straßenkilometer liegen hinter uns – das war ein kleines bisschen weiter als nötig.
Mittwoch, 19. August 2009, zweiter Tag. Ziemlich genau zwölf Stunden nach dem Einschlafen werden wir wach. Kurz vor der mittäglichen Schließung des angeschlossenen „Little Chef“-Schnellimbisslokals (einer ansonsten weitgehend verzichtbaren Imbisskette) ergattern wir noch ein original englisches Frühstück:
Der Eishockey-Puck da oben auf dem Teller ist übrigens Black Pudding, Blutwurst. Natürlich in der Pfanne frittiert, so wie die Würstchen, die Eier, die Tomaten, die Kartoffeln und die Toastbrotscheiben daneben. Heartburn, thy name is English cuisine.
Der nächste Teil der Strecke gestaltet sich überraschend malerisch: Der Peak District Nationalpark mit seinen Hochmooren und Wäldern erinnert schon ein wenig an Schottland. Die Beschilderung ist von, äh, britischer Zuvorkommenheit.
„Bitte verunfallen Sie hier“ – das gibt es zu Hause in der Eifel nicht.
Schließlich erreichen wir wieder die Autobahn. Und auf ihr, einige Stunden später, endlich das Land der Pikten und Scoten.
„Welcome to Scotland“ – praktisch auf den Kilometer genau passt sich das bis dato eher heiter-sonnige Wetter dem Klischee an. Den berühmten Heiratsort Gretna Green passieren wir schon in bestem schottischen Gepladder.
Einzige Abwechslung auf dem Weg in die Metropole Glasgow sind die freundlichen Mahnungen der Autobahnschilder: „Please Use Seatbelts“ oder „In Town Slow Down“. Da hat man wenigstens was zu lesen, die Lowlands sind ja nicht sooo reich an Naturwundern.
In Glasgow schlagen wir unser Quartier wiederum in einem Travelodge auf. Es steht am Rande einer früheren Industriebrache am Ufer des Clyde, auf der inzwischen ein Vergnügungsviertel erblüht ist. Zu Essen gibt es heute nicht Chinesisch, sondern Mexikanisch. Dann ist auch Tag Zwei der Reise zu Ende. Da sind wir wieder, 14 Jahre später. Ob der Benz sich erinnert?
Donnerstag, 20. August, dritter Tag. Glasgow! Fast ein Jahr lang meine Heimatstadt. Damals noch mit deutlichen Spuren von Stahlkrise, Werftenkrise, Kohlekrise, hat sich die alte Dame am Clyde heute mächtig gemausert. Neubauten allüberall, moderne Geschäftsgebäude, Einkaufszentren. Ganze Stadtviertel erkenne ich nicht wieder.
Immerhin, der berühmte Willow Tea Room in der Sauchiehall Street ist noch da.
Gestaltet von Charles Rennie Mackintosh, Glasgows bekanntestem Jugendstilarchitekten, bietet die Galerie im Obergeschoss (und dem Room de Luxe darüber) mit seinem pastellfarbenen Interieur und dem typischen Mackintosh-Mobiliar eine einzigartige Atmosphäre – hier ist alles wie vor über hundert Jahren (wahrscheinlich inklusive der nervig brummenden Lüftung).
Und der Arbroath Smokie ist über jeden Tadel erhaben. So sieht ein schottisches Frühstück aus, liebe Leute von südlich der Grenze.
Damit im Bauch lässt sich gut die Stadt erkunden. Ein Blick die West George Street hinunter auf die St. George’s-Tron Church. Glasgows Mitte hat einen gitterartigen Grundriss.
Die City Chambers am George Square – das Rathaus spiegelt den Anspruch der Stadt, nach London die Number Two in Queen Viktorias Empire zu sein…
…auch im Inneren wieder. Und das ist nur eins von zwei Treppenhäusern. Im Zentrum des Platzes, benannt nach His Madness King George III, thront auf einer Säule –
genau, nicht der König, sondern Schottlands Nationaldichter Sir Walter Scott (links, der mit dem nachdenklichem Blick). Die Hannoveraner Königsfamilie war zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Platzes nämlich gerade ähnlich populär wie ihre Nachfahren unmittelbar nach dem Unfalltod einer gewissen Diana Spencer.
Mein alter Campus: Strathclyde University. In einer siebeneinhalb Quadratmeter, ähm, großen Studentenzelle in der Wohnanlage Birkbeck Court habe ich von Oktober 1993 bis Juni 1994 gehaust gelebt. Und jeden Tag Angst um den Benz gehabt, der, wann immer irgendwo ein paar Quadratmeter frei waren, verbotenerweise auf dem Campus übernachtete. Bis irgendwann ein freundlicher, aber bestimmter Brief der Verwaltung an den Eigentümer des „Brown Mercedes Car“ unterm Scheibenwischer klemmte: bitte fürderhin nicht mehr die Zufahrt zum „Lord Todd“ zuparken, dem Uni-Pub. Dessen Mitarbeiter sahen das kontinentale Sternmobil dagegen mit Wohlwollen – „it’s a man’s car“, sage einer von ihnen mal zu mir. Das entschädigte sogar für den an einem anderen Tag auf den staubigen Lack gemalten Spruch „RICH CUNT“, den ich mal besser unübersetzt lasse.
Zurück ins Jahr 2009. Wir beenden den Tag à la recherche du temps perdu mit einem letzten Bummel die Buchanan Street hinunter. Dabei wird natürlich nicht der Capucchino im immer noch wunderschönen Jugendstil-Einkaufszentrum Princes Square vergessen.
Zurück ins Hotel. Nach dem englischem Abendbrot und Frühstück des Vortags und dem schottischen Brunch heute Morgen ist uns jetzt natürlich nach… ach ja, Mexikanisch. Denn das ist das einzige Restaurant, das abends in Hotelnähe noch aufhat.
Freitag, 21. August 2009, vierter Tag. Zeit, die Stadt zu verlassen. Und zwar wie vor 15 Jahren über die Great Western Road, die A 82, die uns über die Vororte Drumchapel, Clydebank, Old Kilpatrick und Dumbarton…
…an die Ufer des vielbesungenen Loch Lomond führt, Schottlands zwar nicht größtem Binnensee (das ist der Loch Ness), dafür aber angeblich dem schönsten des Landes.
Das „Ben Lomond“, eine urige Kneipe in einer ehemaligen kleinen Kirche, lädt zum Frühstück ein. Auf dem Parkplatz beweist der Moorbraune, wie perfekt er sich auch nach all den Jahren noch den örtlichen Gegebenheiten anpassen kann.
Bei Tarbet verlassen wir Loch Lomand und A 82, um nach Westen auf die A 83 abzubiegen. Sie folgt dem Nordausläufer des Loch Long und steigt schließlich das Glen Croe zum Rest-and-be-thankful-Pass auf.
Seinen schönen Namen verdankt er den Soldaten, die Ende des 18. Jahrhunderts die ursprüngliche Militärstraße durch die Berge bauten. Sie ist hier im Bild noch unterhalb der modernen Landstraße zu sehen.
Dann geht es wieder bergab in Richtung Küste. Etwa hundert Straßenkilometer von Glasgow entfernt liegt Inveraray. Das schmucke, ebenfalls gegen Ende des 18. Jahrhunderts neu angelegte Zentrum der Argyll-Region, ist mit seiner weißen Seefassade am Ufer des Loch Fyne ein architektonisches Schmuckstück. Der fünfte Duke of Argyll ließ das Städtchen vom Architekten Robert Mylne buchstäblich am Reißbrett entwerfen und verwirklichen.
Hauptattraktion sind ein original georgianisches Gefängnis und Inveraray Castle, das Schloss der Herzöge von Argyll, ein Sproß des mächtigen, wenn auch nicht bei jedem beliebten Clans der Campbells. Nicht alle Herrschaftssitze des Landes sind in so schöner Verfassung.
Zu spät gesehen und gerade noch aus dem Autofenster fotografiert: Kilchurn Castle am Nordende des Loch Awe – wohnen möchte man da nicht, aber was für eine Prachtruine!
Das Leben ist eine Landstraße. Begeistert jagt der Diesel durch das Land der Glens und Bens. Schließlich erreichen wir Loch Linnhe, sozusagen die südliche Verlängerung des quer durchs Land verlaufenden Loch Ness.
Castle Stalker auf seiner kleinen Insel dort zählt zu den am hübschesten gelegenen Burgen Schottlands. Dass der malerische Turmbau als „Schloss von Aaaargh“ in der Schlussszene von Monty Pythons Rittern der Kokosnuss auftaucht, darf man in romantischen Momenten touristischer Zweisamkeit aber auch unerwähnt lassen.
Über Fort William, den Loch Lochy (heißt wirklich so!) und Fort Augustus erreichen wir endlich den ach so legendären Loch Ness. Hätten sich die findigen Leute von Drumnadrochit nicht den Gag mit dem Ungeheuer ausgedacht, müssten sie Werbung damit machen, am langweiligsten See Schottlands zu leben, und wer weiß, ob das den Tourismus genauso angekurbelt hätte.
Ach ja, und es gibt da noch Urquhart Castle. Sollte es jemals geöffnet sein, wenn ich dran vorbeifahre, werde ich mit Freuden den gewiss horrenden Eintrittspreis latzen und es mir endlich mal angucken, ich schwöre. Ich rechne aber nicht damit, dass das je der Fall sein wird. Urquhart Castle hat immer geschlossen. Immer.
Der Rest des Abends vergeht mit erfolgloser Suche nach einem halbwegs bezahlbaren Bed & Breakfast in Inverness. Ich weiß schon, warum ich die Ostküste nicht mag: flach, teuer, leicht snobistisch und voller Schlipsträger. Golfspieler sehen das sicher anders, aber ich bin und bleibe ein West Coast Man, aye, Sir. Am Ende gebe ich mich geschlagen – es wird zum dritten Mal ein Travelodge. Im Vereinsheim des nahegelegenen „Fairways“ Golf Club gibt es ein Absackerbier.
Samstag, 22. August 2009, fünfter Tag. Frühstück serviert ebenfalls der Golf Club. Gegen Mittag (oh, warum kommt man eigentlich nie eher los?) geht es endlich aus Schottlands nördlichster Stadt hinaus, über die große Brücke über den Beauly Firth, die A 9 hoch und über den Cromarty Firth. Dort ist für uns das Zivilisationsgefühl auch schon wieder zu Ende, wir biegen links ab auf die buckelige (aber immerhin noch zweispurige) B 9176.
Schließlich kommt der Dornoch Firth in Sicht – und in was für eine Sicht.
Wir halten an einem Aussichtspunkt an. Ringsum erstreckt sich blühende Heide. Obwohl ich schon dreimal in Schottland war, sehe ich das berühmte Naturschauspiel zum ersten Mal in voller Pracht: Lila, soweit das Auge reicht. Am Rand des Gestrüpps ein niedergelegter Blumenstrauß – was wohl der Anlass sein mag?
Ein Stück hinter Bonar Bridge – die Straße heißt wieder A 836 – locken Schilder zum „Falls of Shin Visitor Centre„. Wenn ich unterwegs bin, ist Spontaneität angesagt: Also wird abgebogen. (Es ist für diesen Reisestil natürlich hilfreich, selbst am Steuer zu sitzen.)
Die Falls of Shin entpuppen sich als veritabler Wasserfall (wenn sie es auch nicht mit dem Niagarafall aufnehmen können). Was sie so besonders machen, sind die Lachse, die auf dem Weg zu ihren Laichgründen meterhoch aus den Stromschnellen springen.
Alle paar Minuten jumpt ein solcher Kaventsmann aus dem tosenden Wasser. Viele fallen zurück, probieren es wieder und wieder. Man kann sich kaum vorstellen, wie die Tiere gegen die stürzenden Wassermassen anschwimmen können. Und all das, weil ihr Instinkt sie den Fluss hinauf treibt. So etwas habe ich noch nie gesehen – das war den Abstecher absolut wert!
Bald dahinter wird es dann endlich einspurig. Und einsam. Wir sind im Sommer hier – wie mag es wohl im Winter aussehen? Ohne Landrover und ordentlich Brennholz ist man in dieser Gegend sicher aufgeschmissen.
Immerhin sind wir offensichtlich nicht die ersten Kontinentaltouristen in dieser Gegend…
Gegen 19 Uhr erreichen wir nach etwa 200 Kilometern Fahrt Durness an der Nordküste, das letzte größere Dorf vor dem Cape of Wrath.
Nach dem Einchecken in einem sehr netten B & B wandern wir zur örtlichen Attraktion, der Smoo Cave. Die Auflösung der Kamera ist leider nicht groß genug, um die Myriaden von Mücken zu erfassen, die uns dabei umschwirren. Auch diese typisch schottische Attraktion ist mir in ihrer ganzen Herrlichkeit bislang entgangen. Es ist unerträglich.
In der rund 60 Meter langen, 15 Meter hohen und 40 Meter breiten Höhle stürzt der „Allt Smoo“ durch ein Loch in der Decke, in das der Räuber McMurdo angeblich seine Opfer stieß.
Sonntag, 23. August 2009, sechster Tag. Am Morgen fahren wir zum Fähranleger bei Keoldale, von dem aus uns ein Boot über den Kyle of Durness zum Cape Wrath bringen soll. Das Boot ist tatsächlich ein winziges Motorboot. Auf dem Schild am Fähranleger hat jemand, offenbar nach wiederholten Nachfragen, mit einem Edding aufgemalt: „Reason for small boat: very low tides“. Am anderen Ufer des Kyle erwartet uns ein rostiger Mercedes-Minibus, der uns unter launigen Erklärungen eines Führers durch eine völlig menschenleere Landschaft schaukelt. Rehe grasen friedlich neben dem Weg. Gut 18 Kilometer geht es durch die Heide, dann sind wir endlich da: Am Cape Wrath, dem nordwestlichsten Punkt Großbritanniens.
Der prächtige weißgestrichene Leuchtturm wurde 1828 von Robert Stevenson erbaut und war bis 1998 bemannt. Ansonsten gibt es hier nicht viel – in einem Raum kann man Kaffee und Snacks bekommen, doch alles wirkt eher ambulant. Die Frage nach dem Vorhandensein von Toiletten beantwortet der Guide mit einem fröhlichen „no, but we have a nice selection of walls“.
So sieht es aus, das Ende der Welt (nordwestliche Kante). Unwirtliche Gegend. Wir irren eine Weile über die kargen Felsen, bis schließlich der Bus wieder abfährt. Auf der Rückfahrt sehen wir noch ein paar Robben, die sich auf einer Sandbank aalen.
Die A 838 bringt uns nach Südwesten, in Richtung des etwa 100 Kilometer entfernten Ullapool. Loch reiht sich an Loch – Loch Taebaidh, Loch Inchard, Lach a‘ Bhagh Ghainmich, Loch a‘ Bhadaid Daraich, Loch Dubhaird Mor, Loch Aillt na h-Airbhe, Loch a‘ Chairn Bhain, Loch Gleann Dubh. Was für eine herrlich dunkle und wohlklingende Sprache das Gälische ist.
Unterwegs bietet sich an einem Rastplatz entlang der North & West Highland Tourist Route dieses herrliche Panorama. Schottlands nördliche Westküste wird für mich immer eine der liebsten Ecken der Welt bleiben.
Und Burgruinen gibt es natürlich auch. Auf Ardvreck Castle lebten im 15. Jahrhundert die MacLeods of Assynt. Das Schloss soll von diversen Geistern bespukt werden, darunter die weinende Tochter eines MacLeod-Clanchefs, die sich im Loch Assynt ertränkte, nachdem ihr Vater sie mit dem Teufel verheiratet hatte, um seine Burg zu retten. Noch heute sollen Geister und geheimnisvolle Lichter in den Ruinen zu sehen sein und Autofahrer berichten von in der Nacht entgegenkommenden Scheinwerfern, zu denen kein Wagen gehört.
Am späten Nachmittag erreichen wir das Fischerdörfchen Ullapool, mit seinen gut 1300 Einwohnern so etwas wie die Metropole der nördlichen Westküste, denn danach kommt bis Durness rein gar nichts mehr. Die schwarz-weiß gestrichene Fähre „Isle of Lewis“ der Linie Caledonian MacBrayne verbindet das Festland mit den äußeren Hebriden. Nach Stornoway auf Lewis bin ich 1994 einmal gefahren, um die Doppelinsel auf einem gemieteten Mountainbike zu umradeln. Ein tolles Erlebnis. Heute parkt der Benz wieder auf der Uferstraße, auf der er auch damals drei Tage lang auf meine Rückkehr wartete.
Im Fischrestaurant „The Chippy“ gibt es grandios gutes Seafood. Der Tag klingt mit einer Flasche 2007er Chardonnay aus. Soll keiner sagen, sie hätten keine Kultur da oben in den Highlands…
Montag, 24. August 2009, siebter Tag. Strahlende Sonne scheint ins Zimmer unseres Bed-and-Breakfast. Auf dem Loch Broom glitzert das Wasser. Draußen schwirrt ein Schwarm ausgelassener kleiner Vögel durch die blühenden Hecken, die den Parkplatz vom Strand abtrennen. Vor unseren Augen legt wieder die „Isle of Lewis“ ab.
Auf der A 835 halten wir nach Süden. Das nächste Ziel wird einer der Höhepunkte der Reise: die Hebrideninsel Isle of Skye. Am Loch Glascarnoch geht es zunächst wieder ein Stück weit nach Osten.
Die Landschaft verändert sich, wird grüner, saftiger. Und touristischer, wie uns diese schildgewordene Ermahnung an einem Rastplatz verrät. Schließlich öffnet sich das Land zur Küste: Loch Shieldaig und Loch Torridon spiegeln das Blau des Himmels wieder. Dahinter: die offene See.
Ein Stück hinter Shieldaig schließlich zweigt von der A 896 eine winzige unscheinbare Straße nach rechts ab. „Applecross 38“ steht drauf.
Das winzige einspurige Sträßchen folgt jeder kleinen Bodenwelle, umkurvt jeden Kiesel auf der Halbinsel Applecross, einer vom Rest des Landes ziemlich abgeschlossenen und der Isle of Skye zugewandten Gegend. Die einzige größere Niederlassung sind einige Häuser an der Hauptstraße, die zwar auf Landkarten als „Applecross“ verzeichnet sind, aber lokal nur „The Street“ genannt werden.
Nachdem sie länger dem nordwestlichen Verlauf des Loch Torridon gefolgt ist, knickt die Straße an der Nordspitze der Halbinsel ab und folgt der Küstenlinie nach Süden. Dabei bietet sich ein herrlicher Blick auf die Inseln Skye (hinten) und die ihr vorgelagerte Inselkette aus Rona, Raasay, Fladday und Scalpay.
Die auf der Hinfahrt gepflückten Wildblumen in der Vase am Armaturenbrett weichen einem Gruß aus der Heide. So friedlich es hier auch aussieht, im Winter zeigen die Highlands ein anderes Gesicht. Ein Schild „Road normally impassable in wintry conditions“ zeugt davon.
Hinter Applecross, Verzeihung, hinter „The Street“, knickt die Straße wieder nach links ins Landesinnere ab und erklimmt den über 2000 Fuß hohen Bergrücken Bealach na Ba. Die Wikipedia weiß, dass diese Route lange als eine der schwierigsten Straßen Schottlands bekannt war. Der Diesel muss arg brüllen, bis er die letzte der engen Serpentinen heraufgekraxelt ist. Und sein Fahrer rührt mächtig im Getriebe.
Es folgen einige der beliebten Straßenwarnungen Großbritanniens:
Das untere Schild ist so etwas wie eine lokale Berühmtheit. Der britische Autor Iain Banks lässt es sogar in einem seiner Romane vorkommen.
Schließlich taucht sie im Dunst auf auf, die mythenumwobene Insel Skye. Hierhin flüchtete der legendäre Bonnie Prince Charlie 1746, nachdem sein Jakobiteraufstand von den englischen Truppen bei Culloden niedergeschlagen worden war. Im Skye Boat Song wurde seine Flucht besungen:
Speed bonnie boat like a bird on the wing
„Onward“ the sailors cry
Carry the lad thats born to be king
Over the sea to Skye
Wir überqueren die neue Skye Bridge – als ich in den 90er Jahren zuletzt in Schottland war, fuhr hier noch Caledonian MacBrayne – und checken in Kyleakin in Mrs. Morrison’s B&B ein. Ein Stück weit die Uferstraße Kyleside herunter bietet ein Pub lärmende Unterhaltung für die Rucksacktouristen aus dem Backpacker’s – oh, war ich nicht selber mal als ein solcher hier, 1992 mit Interrail-Karte?
Einen letzten Punkt habe ich noch auf der Tagesordnung: einen Abstecher nach Elgol (gälisch: Ealaghol), einer dahingeworfenen Handvoll Häuschen rund um einen Anleger an der Westküste. Mit grandiosem Blick auf die Cuillin Hills, eine fast 1000 Meter hohe Gebirgskette. Ganz so einfach ist der kleine Abendausflug allerdings nicht: Es geht rund 35 Kilometer über eine sich windende Single Track Road an die Westküste, entsprechend langsam kommt man voran. Als wir schließlich die steilen Kurven zum Pier herunterkurbeln, geht die Sonne gerade im Nebel über den Cuillins unter.
Dann geschieht etwas Wundervolles: Mit ihren letzten Strahlen setzt die Sonne den diesigen Himmel in Brand. Minutenlang lang sind der verregnete Pier, die Häuser von Elgol und die Bergkette auf der anderen Seite des Sunds in einen einzigartigen, flammend rot-goldenen Schein getaucht. Niemals habe ich so ein Licht gesehen. Diesen Moment werde ich nicht vergessen, so lange ich lebe.
Wie verzaubert stehen wir da. Dann, von einer Sekunde auf die andere, ändert sich das Bild. Das Gelb der Sonne taucht hinter den Bergrücken ab, an den sich weiße Wolkenfetzen schmiegen. Es ist, als hätte jemand das Licht ausgeknipst – plötzlich ist es kalt und dunkel. Der Zauber ist vorüber, der magische Moment vorbei.
Ein weiteres Auto mit Touristen kommt über die Serpentinen herunter an den Pier gekurvt. Wenige Minuten zu spät – aber was ist ihnen entgangen! Zeit für uns, zu gehen. In kürzester Zeit wird es stockfinster. Den Rückweg müssen wir uns durch umherwandernde Herden von Schafen und Kühen erkämpfen.
Dienstag, 25. August 2009, achter Tag. Nun aber: Skye. Die größte der Hebrideninseln ist etwa 80 Kilometer hoch, 40 breit und so von Meerarmen zerklüftet, dass laut Reiseführer kein Ort auf ihr mehr als acht Kilometer vom Wasser entfernt ist.
Von Kyleakin fahren wir auf der A 87 über Broadford (ich werde immer an den leicht schmierigen Wirt denken müssen, der uns deutschen Studenten 1993 die Bedeutung von „Gherkins“ erklärte) bis zum Hauptort Portree, wo wir auf die A 887 abbiegen, die uns die Ostküste hinaufführt.
Die rund 50 Meter hohe Felsnadel Old Man of Storr hebt sich vor dem bewölkten Himmel ab. Das Wetter ist schottisch: Zwischen kleineren Regenschauern bricht immer wieder die Sonne durch. Alle vier Jahreszeiten an einem einzigen Tag, wie man so schön sagt.
Und dann diese Namen: Skye wird vom Meer in mehrere Regionen unterteilt, die sich wie Finger einer Hand in die See ausstrecken: Sleat im Süden, Minginish im Südwesten, Duirinish im Nordwesten, Waternish im Nordnordwesten und Trotternish im Norden.
Am Kilt Rock etwas weiter nördlich drängeln sich die Touristen. Als kurz die Sonne herauskommt, schimmert dieser Regenbogen, öhm, in hohem Bogen durch die Luft.
Schließlich schwenkt die Landstraße nach links, schneidet die Nordspitze von Trotternish ab und führt uns nach Duntulm an der Westküste.
Dort liegt, auf einer steilen Klippe über dem Atlantik, Duntulm Castle aus dem 14. Jahrhundert – oder das, was vom einstigen Sitz der MacDonalds of Sleat noch übrig ist, die sich hier über Jahrhunderte mit den MacLeods über die Inselherrschaft stritten. Als die MacDonalds nach 1730 endlich die Oberhand hatten, gaben sie die Burg auf und bauten einige Meilen weiter südlich einen neuen Stammsitz. Wer sich einige Zeit gegen den tosenden Wind gestemmt hat – man muss tatsächlich weit vornübergebeugt laufen, um nicht umgeweht zu werden -, kann es ihnen nicht verübeln. Was müssen die armen Menschen gefroren haben in ihren ungeheizten Räumen…
Einige Meilen weiter südlich zeigt das Skye Museum of Island Life, wie damals und bis vor noch gar nicht so langer Zeit die Menschen auf der Insel lebten: In solchen Crofts aus Natursteinen und Reet.
Auf dem Friedhof von Kilmuir daneben liegt das Grab der großen Flora MacDonald, die Bonnie Prince Charlie auf seiner Flucht das Leben rettete. 3000 Menschen sollen hier 1790 zu ihrer Beerdigung gekommen sein. Der berühmte Gelehrte und Schottlandreisende Dr. Samuel Johnson ließ später die Inschrift anbringen: „Her name will be mentioned in history / and if courage and fidelity be virtues / mentioned with honour“.
Auch Kirchen sind in der wechselvollen Geschichte Schottlands nicht sicher vor Zerstörung. Die Ruinen der Cill Chriosd oder „Christ Church“ an der Straße nach Broadford sind ein Beispiel. 1840 wurde das Gotteshaus aufgegeben, als in Broadford eine neue Kirche entstand. Auf dem Gelände liegen viele MacLeods begraben. An den Wänden der Kirche sind für mehrere Chiefs des Clans prächtige Epitaphe angebracht – etwa Norman, den 23. Chief (gestorben 1895) und Flora, die 28. Chefin (gestorben 1976).
Abends sind wir wieder bei Mrs. Morrison in Kyleakin. In einem Restaurant vor dem Ort genießen wir das originäre Essen des britischen Empires, nämlich die wundervolle indische Küche. Beim Essen überlegen wir: Ob wir noch einmal so einen herrlichen Sonnenuntergang über den Cuillin Hills erleben wie nach unserer Ankunft? Ein zweites Mal machen wir uns auf den gut 30 Kilometer langen einspurigen Weg hinunter nach Elgol. Keine Frage: Der Blick ist auch heute beeindruckend. Aber nichts, was sich mit gestern Abend vergleichen ließe.
Mittwoch, 26. August 2009, neunter Tag. Der Himmel ist trübe und es regnet, als wir Skye verlassen. Wenige Kilometer weiter den Loch Alsh hinauf wartet hinter dem Dorf Dornie das schottische Gegenstück zu Schloss Neuschwanstein: die wohl meistfotografierte Burg des Landes.
Eilean Donan Castle im Loch Duich, Stammsitz der Macraes, beim Jakobiteraufstand 1719 von drei englischen Fregatten zu Klump geschossen und erst nach 1911 von einem Macrae wieder aufgebaut. Unsterblich geworden als Kulisse in Filmen wie Highlander, Braveheart, Rob Roy und James Bond – Die Welt ist nicht genug.
Als ich 1992 als Rucksacktourist auf diesen Steinen herumkraxelte, war die größte Schwierigkeit, die Burg so zu fotografieren, dass auf den Fotos nicht die unmittelbar daneben verlaufende zweispurige Landstraße A 87 samt der Betonbrücke über den Loch auftauchte.
Das ist heute das kleinere Problem. Heute muss man sich verrenken, um nicht das ausgedehnte mehrstöckige Besucherzentrum ins Bild ragen zu lassen, das die Touristenhorden empfängt, die von Dutzenden teilweise ebenfalls mehrstöckiger Reisebusse angekarrt werden. Ich habe das Monstrum absichtlich nicht fotografiert. Im Inneren gibt es immerhin heißen Tee und eine kostenlose Spinnrad-Demonstration durch eine freundliche ältere Lady mit betörendem schottischen Akzent.
Dann setzen wir uns wieder ins Auto – und der Regen endgültig ein. „Heavy Rain and Flooding Forecast – drive with care“ warnt eine der verbreiteten Anzeigetafeln, und während der nächsten über 200 Kilometer durch die Highlands verlassen wir das Auto nicht mehr. Kurz vor Glasgow, das Wetter ist etwas aufgeklart, stoppen wir aber doch noch einmal im malerischen Örtchen Luss am Loch Lomond.
Fast jeder Brite kannte in den 80er-Jahren diese Häuser: als fiktives Örtchen Glendarroch in der Soap Opera „Take the High Road“ des Senders ITV. Selbst heute spielen einige Hausnamen noch auf die Glendarroch-Episode an. Sehenswert für Touristen ist – haha! – der Tourist Shop am Ortseingang: Mehr Kitsch und Krams rund um Tartan, Heide und Whisky sind kaum denkbar.
Kurz darauf erreichen wir Glasgow, wo uns ein weiteres Mal ein Travelodge-Hotel im Empfang nimmt. Als wir das Gepäck aus dem Moorbraunen laden, halten wir das Tier erst für einen Hund, das das zutraulich zwischen den Autos herumstromert.
Es ist ein zahmer Fuchs. Wie wir später erfahren, sind die schlauen Rotröcke als Kulturfolger längst ein vertrauter Anblick in – nicht nur dieser – Großstadt. Wenn sie nicht gerade von neugierigen Menschen gefüttert werden, finden sie genug zu Essen in Mülltonnen.
Am nächsten Tag besuchen wir meinen Bloggerfreund Kurt und seine Freundin Grace. Beide sehe ich zum ersten Mal, nachdem wir diverse Mails gewechselt und miteinander telefoniert hatten. Kurt, der aus Aachen nach Glasgow ausgewandert ist, schreibt Geschichten aus seinem bewegten Leben in den Leserblogs von Aachener Zeitung/Aachener Nachrichten. Wir verstehen uns auf Anhieb.
Mit einem dicken Paket Reisproviant von Grace machen wir uns schließlich auf den über 600 Kilometer langen Weg nach Salisbury zu meinem Onkel Andy. Unterwegs erhaschen wir eine Prise britischen Nummernschildhumor.
Am Abend treffen wir bei Andy und seiner Frau Pauline in Südengland ein. Zum ersten Mal sehe ich sein wunderhübsches Anwesen, genannt Bishop’s House („I guess a Mister Bishop used to live here“).
Freitag, 28. August 2009, elfter Tag. Und weil wir schon mal in der Gegend sind, machen wir noch einen Besuch bei Englands berühmtesten vorzeitlichen Monument überhaupt: Stonehenge.
Diese Klötzchensammlung vorzustellen, spare ich mir jetzt einmal.
Von dort aus ist es nur ein Katzensprung von nicht einmal 40 Kilometern nach Southampton, wo meine Freundin Kerstin mit ihrem Mann James wohnt. Kerstin hat es nach Journalistikstudium in Leipzig und Volontariat bei der Neuen Westfälischen in Bielefeld als Pressesprecherin zur Polizei in die südenglische Hafenstadt verschlagen – eine erfrischend ungewöhnliche Journalistenkarriere also.
Samstag, 29. August 2009, zwölfter Tag. Nach einem Bummel durch die Innenstadt springen wir ins Auto. Die Schlussetappe: 150 Meilen bis Dover, davon ein Stück über den Londoner Ring. Doch wir kommen gut durch und sind diesmal mit einem beruhigenden Zeitpuffer auf der Fähre.
Und das war sie, die dritte Schottlandtour des Moorbraunen. An Entfernungen waren es laut Google Maps von Aachen nach Durness gut 1700 Kilometer und insgesamt bei der Rückkehr in Aachen mindestens 4026 Kilometer. Inklusive aller Umwege tippe ich auf etwa 4200 Kilometer in zwölf Tagen. Der Benz hat’s klaglos mitgemacht, wobei die Verbräuche auf den einsamen schottischen Landstraßen teilweise bei 6,5 Litern pendelten – immerhin mit zwei Personen und vollem Gepäck an Bord. Die Reichweite pro Tankfüllung überschritt dabei die 1000er-Marke. Ein 240 D mag nicht das stärkste und schnellste Reisemobil sein, aber er hat definitiv seine Vorteile.
Ende November war’s, ein erster weißer Gruß war in der Nacht auf Aachen herniedergefallen, da lag des Morgens, als ich frischen Mutes zur Arbeit schritt, diese scharfe vegetarische Warnung auf dem Bürgersteig. Da wusste ich: It will be a hot winter.
Selber Ort, nur wenige Tage darauf. Da ist er auch schon, der Winter. Nun denn, wir sind gerüstet. Im Kofferraum des Golfs liegt ein Fünfkilopack Katzenstreu (Sand kann einfrieren, wegen der Feuchtigkeit darin), auf dem Rücksitz eine Wolldecke und eine Flasche Wasser, falls die Nacht mal länger wird. Zwei Handbürsten warten auf Fahrer und Beifahrer, um die weiße Pracht vom Lack zu fegen. Zwei Regenschirme ebenso, falls sich das mit dem Niederschlag zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz erledigt haben sollte. Zwei Eiskratzer, den Scheiben zu Durchsicht zu verhelfen. Zwei Handschuhe, die Finger des Fahrers dabei warm zu halten (der Co muss sehen, wie er zurechtkommt, um alles kann ich mich ja nun auch nicht kümmern). Im Tank schwappt eine Extraladung Sprit, im Scheibenwasserbehälter eine Extraladung Frostschutz. Die Wischerblätter sind neu. Golfi selber, der Treue, trägt mit Frontantrieb und Riesenbatterie das Seinige dazu bei, uns stets ans gewünschte Ziel zu bringen. Die Winterreifen sind zwar nicht mehr ganz fabrikfriscih, aber es sind immerhin Winterreifen. Noch einmal Neureifen zu kaufen, würde sich bei so einem alten Auto ja auch kaum noch lohnen.
Und jetzt auf nach Norden mit unserer Fuhre. Es ist der 23. Dezember, der weihnachtliche Elternbesuch steht an und im Radio spielen sie „Driving Home for Christmas“ von Chris Rea, das einzige erträgliche Weihnachtslied überhaupt, da stört uns auch der stockende Verkehr auf der A1 bei Hagen nicht.
Es schneit ohne Ende, als wir nach über zwei Stunden auf der überfüllten Autobahn plus einer dreiviertelstündigen Schleichfahrt über die elende B64 endlich Zwischenstation im westälischen Warendorf machen, wo die Gasanlage von den netten Jungs von Klargas gecheckt wird. Für die läppischen 160 Kilometer von Köln hierher haben wir über drei Stunden gebraucht. Zwar nicht mit Ach und Krach, dafür aber mit reichlich Flitsch und Glitsch sind wir irgendwie durchgerutscht. Die Wischer sind im laufenden Betrieb auf der Scheibe eingefroren. Der Wagen trägt einen Panzer aus Eis, die Antenne einen regelrechten Bart. Egal, wir sind ja angekommen.
17 Uhr. Die Gasanlage ist neu eingestellt. Draußen ist es inzwischen dunkel. Es ist der 23. Dezember, der verkehrsreichste Tag des Jahres. Es wird immer kälter und es schneit immer weiter. Es wird das schneereichste Weihnachten seit mehr als 100 Jahren sein, aber das weiß ich um diese Zeit noch nicht. Das Radio läuft. Auf Nordrhein-Westfalens Straßen herrscht Alarmstufe Rot, die letzte Stufe vor Lila. Lila ist, wenn nichts mehr geht und nichts mehr fährt. Man glaubt zu spüren, wie der Blauanteil im Rot von Minute zu Minute steigt.
Die Verkehrsdurchsage beginnt mit gesperrten Bundesstraßen und Autobahnen, listet dann sämtliche größeren Staus auf, angefangen von mehreren 30- und 25-Kilometer-Monstern auf der A1 bei Bremen und der A2 bei Helmstedt, lässt die dringende Warnung folgen, auf alle nicht unbedingt notwendigen Fahrten zu verzichten, führt zwei Regierungsbezirke auf, in denen ein flächendeckendes Fahrverbot verhängt wurde, warnt vor Blitzeis und überfrierender Nässe und endet mit einer Aufzählung der Bahnstrecken in Norddeutschland, auf denen kein Zug mehr fährt und der Schienenersatzverkehr gestrichen wurde. Es ist die Mutter aller Verkehrsdurchsagen. Als sie endlich vorbei ist, ist es sechs Minuten später.
Habe ich vorhin 160 Kilometer läppisch genannt? Genauso viele sind es laut Navi noch bis Oldenburg. Kurzer Profilcheck: Die Hankooks auf der Vorderachse haben gerade mal drei, die ollen Vredestein Ganzjahresgummis auf der Hinterachse nur noch zwei Millimeter Profil. Schon beim Verlassen des Laternenparkplatzes hatte Golfi seine liebe Not, das Katzenstreu kam erstmals zum Einsatz.
Plötzlich geht es nicht mehr darum, ob es grundsätzlich sinnvoll ist, für so ein altes Auto – 15 Jahre, rund 325.000 Kilometer – noch einmal Geld in neue Winterreifen zu investieren. Es geht nicht einmal mehr um die Überlegung, ob man den Kaufzeitpunkt besser hinter die Feiertage verlegt, bis die Preislage sich beruhigt hat, die Lager wieder voll sind und es vielleicht sogar Sonderangebote gibt.
Plötzlich geht es nur noch darum, heil durch diese Nacht zu kommen. Durch den Schnee. Über die 160 tiefverschneiten Landstraßen- und Autobahnkilometer, die es noch bis Oldenburg sind.
Was sind 160 Kilometer wert?
24. Dezember 2010, Vormittag. Vor einer Doppelhaushälfte im Oldenburger Stadtteil Bürgerfelde steht ein VW Golf III. Auf dem Dach: in der Nacht gefallener Schnee. Auf der Vorderachse: zwei neue Winterreifen, Premium, Continental Winter Contact. Zu je knapp 100 Euro, inklusive Auswuchten und Montage, bei ATU in Warendorf. Fröhliche Weihnachten.
Einerseits ist da Brügge. Venedig des Nordens, Unesco-Weltkulturerbe und berühmt als Perle Flanderns, spätestens seit Martin McDonaghs Kinokracher „Brügge sehen… und sterben?“ (trotz des fürchterlich übersetzten Titels).
Andererseits gibt es Gent. Doppelt so groß, doch von den Touri-Horden gefühltermaßen nur halb so heimgesucht. Und schnelle 200 Kilometer nah an Aachen, 50 weniger als Brügge. „Brügge ist ein Museum, aber Gent lebt“, schwärmt die Betreiberin unseres Bed-and-Breakfasts. Da sie als Genterin möglicherweise nicht ganz unvoreingenommen ist, bedarf diese These einer Überprüfung. Auf ins Leben der drittgrößten Stadt Belgiens also – wenn’s denn existiert.
Erster Eindruck: Auch wenn die Unesco der ostflandrischen Provinzhauptstadt bislang die kalte Schulter zeigt, das Panorama der Altstadt kann mit dem Brügges durchaus konkurrieren. (Die Bilder lassen sich großklicken.)
Graslei heißt die Uferpromenade links im Bild. Wie die gut gemachte und sogar deutschsprachige Besucher-Webseite Visitgent.be behauptet, würden neun von zehn Gentern bestätigen, dass ihre Stadt dort am schönsten sei. Umfragen sind etwas Wunderbares: Schließt man sich der Mehrheit an, fühlt man sich sofort in warmer Masse wunderbar geborgen.
Das fällt allerdings auch nicht schwer. Wer beim Anblick der alten Giebelhäuser nicht in Schwärmen gerät, wird wahrscheinlich auf einer Bahre an ihnen vorbeigetragen und hat eine Decke über den Kopf gezogen, wie Douglas Adams einmal schrieb (allerdings nicht über Gent).
Die Zeit der stolzen Dreimaster ist hier m Zusammenfluss von Lieve und Leie zwar schon längere Zeit vorbei…
…geblieben sind dafür solch sympathische Hausboote mit üppigem Deckbewuchs. Das ist wirklich eher Leben als Museum. Der Genter hat’s anscheinend gerne gemütlich, wenn auch ein klein wenig Rebell in ihm steckt:
Überhaupt, Schilder. Mit der Skurrilität Büdingens in puncto Schilderwald können die Genter zwar nicht konkurrieren. Was sie von Falschparkern auf Behindertenparkplätzen halten, machen sie aber sehr deutlich:
„Neem je mijn parkeerplaats, neem dan ook mijn handicap!“ Nimmst du meinen Parkplatz, dann nimm auch meine Behinderung. Gut gegeben, Gent. Das ist ebenfalls Leben, nicht Museum.
Auch sonst herrscht im Straßenverkehr Ordnung. Französische Schräghecklimousinen zum Beispiel – das Auto am Haken ist eindeutig ein Citroën DS – scheinen nicht gerne gesehen zu sein. Man ist hier schließlich nicht in der Wallonie. Gut, dass wir mit einem klassischen Stufenheckmodell Stuttgarter Herkunft angereist sind, da hat man gleich eine Sorge weniger.
Es folgen ein paar der üblichen touristischen Highlights.
Das Stadttheater am Sint-Baafsplein (zu deutsch: Sankt-Bavo-Platz).
Das Turm-Trio: In der Bildmitte die St.-Nikolauskirche am Korenmarkt, rechts davon der Belfried-Glockenturm, dahinter der Turm der Sankt-Bavo-Kathedrale. In letzerer ist normalerweise der Genter Altar von Jan van Eyck aus dem Jahr 1432 zu sehen, auch bekannt als „Die Anbetung des Lamm Gottes“. Leider befindet sich dieser Meilenstein der Kunstgeschichte (dessen Geschichte übrigens ein Krimi für sich ist) derzeit in Restauration. Man darf aber Geld dafür ausgeben, ersatzweise in einer Seitenkapelle eine Nachbildung mit der Anmutung einer Baumarkts-Fototapete zu betrachten. Müssen muss man gottseidank nicht. Ansonsten ist das Innenleben der Kathedrale schlichtweg wunderschön. Schade, dass man es nicht fotografieren darf. Dafür einen Museumsminuspunkt.
Einen Big Ben haben sie auch, die Genter.
Und das Wichtigste: Sie können Waffeln. Außen hauchknusprig, innen zartweich. Selbst wenn Gent am Ende doch ein Museum ist – das Museumscafé ist vom Feinsten.
Glücklich, wer ein Haus mit Seeblick hat…
…und das Ambiente seiner Terrasse entsprechend zu gestalten weiß.
Ein Muss für jeden Besucher und längst kein Geheimtipp mehr: die Confiserie Temmerman an der Kraanlei im Patershol-Viertel, seit acht Generationen im Familienbesitz (zweites Haus von rechts). Unbedingt die lokale Spezialität „Neuzekes“ (Näschen) probieren, rote Bonbons in Kegelform mit Geleefüllung.
Auf dem Vrijdagmarkt…
…prangt das Denkmal des stehengelassenen Straßenbahnpassagiers.
1910 gönnte sich die Sozialistische Arbeitervereinigung diesen Prachtbau: „Ons Huis“ (Unser Haus) zeigt Merkmale des sogenannten eklektischen Stils und des Jugendstils.
Die Grafensteinburg (Gravensteen), eine der größten Wasserburgen Europas, stammt aus der Zeit um 1200 herum und sollte dereinst die Herrschaft der Grafen von Flandern sichern.
Die in die Außentürme eingelassenen, äh, sanitären Anlagen zeigen deutlich, was die Burgherren auf die Rechte der Stadtbewohner gaben.
Nacht in Gent. Der Tourist sucht sich im Patershol ein nicht völlig überteuertes Restaurant, was leider nicht ganz so leicht ist. Eine Mahlzeit unter 20 Euro? Ich bitte Sie. Das flämische Nationalgericht, der Waterzooi-Eintopf, ist fast unbezahlbar.
Irgendwann findet sich doch noch ein annehmbares Gasthaus. Und so geht der Tag zu Ende, die Füße schmerzen, doch im Glas glänzt beste belgische Braukunst. Zeit für die Entscheidung: museale Metropole oder lebendige Stadt?
Kein Zweifel, Gent lebt. Man könnte sogar sagen: Gent grinst. Eigentlich ganz gut, dass die Unesco noch nicht hier war. Wer weiß, was ein Bier sonst kosten würde.
Die E-Mail kommt unerwartet. Absender ist ein Name, der ein kleines Glöckchen in meinem Hirn läuten lässt. „Einladung zur 20-jährigen Abi-Jubiläumsfeier“ steht im Betreff. Erinnerungen flackern auf – an damals, an das Frühjahr 1990. In der DDR wurde zum ersten Mal frei gewählt, Nelson Mandela kam aus der Haft, Michael Gorbatschow wurde zum Präsidenten einer bereits auseinanderbröselnden UdSSR ernannt. Und in Oldenburg bekamen die Abiturienten der Cäcilienschule ihre Abschlusszeugnisse überreicht.
Die Empfängerliste der Mail ist deutlich länger als der eigentliche Text und sie zu lesen deutlich spannender. Schau an: Grit, Niklas, Matthias und Guido tragen inzwischen ein „Dr.“ in ihren E-Mail-Adressen. Jessica teilt sich ihre mit einem gewissen Klaus; Tanja und Jörn haben gleich eine gemeinsame Adresse für die ganze Familie. Heike, mit dem besten Abitur des Jahrgangs, hat es an medizinische Fakultät der Uni München verschlagen und Kamran, dessen Vater mir einmal den eingewachsenen rechten Zehennagel zog, an die von Tübingen. Karin arbeitet anscheinend in einer Apotheke und Cornelia betreibt ein Atelier. Ehe mich angesichts von Firmenadressen wie @thyssenkrupp.de und @xy-ingenieure.de endgültig der Trübsinn befällt, es nur zum unverheirateten Journalisten gebracht zu haben, retten die Mailadressen „superolli“ und „tannihexe“ die Stimmung. Es gibt sie also noch, die normalen Menschen.
Viele Familiennamen sind unbekannt, andere dagegen noch vertraut. Sogar überraschend vertraut: Die nette Türkin, die mich in der letzten Lateinklausur abschreiben ließ – was mir den Abischnitt rettete – und die als erste unseres Jahrgangs verheiratet war, trägt wieder ihren Mädchennamen.
Jetzt treffen sie sich also, nach zwei Jahrzehnten zum ersten Mal. Leider feiert die Community unserer Zeitung 5ZWO am selben Samstag, 15. Mai, ihren einjährigen Geburtstag. Ich werde also nicht in Oldenburg dabei sein können.
Dass mich das etwas traurig stimmt, überrascht mich. Ich war nämlich damals ganz froh, dass die 13 Jahre endlich vorbei waren. Mit den meisten Mitschülern fühlte ich mich so wenig verbunden wie sie sich mit mir. Wirkliche Freunde waren selten.
Aber manche Dinge ändern sich. Jetzt bin ich neugierig geworden auf die Mitschüler von damals. Und weil sie das Treffen über die Community Stayfriends organisiert haben, melde ich mich dort ebenfalls an.
Stayfriends heißt so viel wie „bleibt Freunde“. Das Netzwerk ist, im Gegensatz etwa zu Facebook, wo vor allem kommuniziert und kommentiert wird, auf das Aufstöbern von Kontakten aus der Kindheit spezialisiert. Klingt nicht besonders spannend, entpuppt sich aber als überraschend amüsant: Mensch, den Marko gibt’s ja auch ohne Zahnspange! Oh, Anja hat einen neuen Nachnamen – meine Güte, da hätte sie besser den alten behalten. Und da ist die schöne Andrea mit den schwarzen Locken – für einen introvertierten 16-Jährigen damals so begehrenswert wie unnahbar. Erinnerungen.
Nach ein paar Klicks habe ich alte Klassenfotos aus der Grundschule gefunden – zum Totlachen, diese quietschbunten 70er-Jahre-Pullis! Noch ein paar Klicks, und ich bin in der Vorschulzeit angekommen: Ingo, Michael, Tanja, Sabine, Benno – die wilde Bande vom Friedrich-August-Platz, dem größten Spielplatz der Nachbarschaft. Namen, an die ich jahrzehntelang nicht mehr gedacht habe. Die verbindende Macht des Internets mal wieder – einfach toll.
Und jetzt?
Stayfriends hat ein sogenanntes Freemium-Modell. Klicken und gucken ist kostenlos. Wer aber Nachrichten verschicken und weiterführende Namen lesen will, muss zahlen. „Gold-Mitgliedschaft“ nennt sich das. Dazu bin ich zu geizig. Ich bin schließlich bereits bei StudiVZ, Facebook, Xing, Twitter, 5ZWO, LinkedIn, Wer-kennt-wen, mixxt und in -zig anderen Netzwerken, großen und kleinen, gut und schlecht gemachten. Irgendwann muss Schluss sein, selbst wenn man das Internet zum Beruf gemacht hat. Und so toll ist Stayfriends bei weitem nicht, dass ich dafür bezahlen würde.
Lieber suche ich – schlau, schlau – nach einigen der wiederentdeckten Namen in den anderen Netzwerken. Christian und Mathias etwa, die eineiigen Zwillinge aus der 6. Klasse, finde ich tatsächlich. Nein, falsch, Mathias findet mich und schickt mir seine Freundesanfrage, bevor ich ein Wort geschrieben habe. Auch auf Stayfriends haben mich bald ein, zwei Dutzend Ex-Mitschüler zu ihren Kontakten hinzugefügt und ich sie zu meinen.
Und jetzt?
Jetzt – nichts. Schweigen. Niemand wagt den ersten Schritt. Was sagt man auch jemandem, den man seit 20 Jahren nicht gesehen hat? Was soll ich zum Beispiel Stefan schreiben, der nach dem Abi eine Banklehre angefangen hat und von dem ich seitdem nichts mehr gehört habe? „Moin Alter, nettes Foto, hast dich ja gar nicht verändert“? Mal abgesehen davon, dass manche Lügen sogar einer E-Mail anzusehen sind.
Plötzlich stellt sich heraus: Zwei Jahrzehnte gelebtes Leben sind nicht so einfach zu überbrücken, als läge nur eine Englischstunde dazwischen. „Freunde bleiben“ ist eine echte Herausforderung. Da hilft auch kein Netzwerk. Wenn das „du siehst ja immer noch so aus wie damals“ halbwegs leicht über die Lippen kommen soll, muss man dem Gegenüber dabei in die Augen gucken können. Schon um zu sehen, ob ihm derselbe Satz genau so schwer fällt.
Trotz Web 2.0 gilt also: Manche Dinge ändern sich nicht. Die schöne Andrea bleibt so unansprechbar wie damals. Macht nichts. Sie ist beim Treffen eh nicht dabei – sie war im Jahrgang über mir.