Eine andere Welt

Sony Nex-6 mit Canon FD 50mm 1:1.4, F1.4, 1/125s, ISO 100
Sony Nex-6 mit Canon FD 50mm 1:1.4, F1.4, 1/125s, ISO 100

Verheiratet bin ich ja bekanntlich nicht mit dem weiß-blauen Propeller – was soll man auch erwarten bei einem, der in den Siebzigern auf dem schwarzen Kunstleder der Rückbank eines Mercedes 230.4-Strichachters aufgewachsen ist. Aber wenn es einen schon einmal nach München weht, dann wär’s a Sünd, nicht auch im BMW-Werksmuseum und der angrenzenden BMW-Welt vorbeizuschauen.

DSC06336

Und das muss man ohne Neid anerkennen: Sie konnten – und können – nicht nur verdammt schöne Autos bauen, die Bayern. Sie können sie auch verdammt gut präsentieren. Da gibt es Formen im Wandel der Zeit zu bewundern…

DSC06303

DSC06423

DSC06396

…und eine Farbenvielfalt wie auf einer Blumenwiese zu genießen. Auf mehreren, geschickt miteinander verbundenen Ebenen stehen hinter den teils mehrere Stockwere hohen Glaswänden teure Roadster und Luxuskarossen neben Brot- und Butter-Autos, exotische Projekte und Studien, Renn-, Rekord- und Rallyemotorräder und mittendrin sogar ein Boot.

DSC06383

DSC06398

DSC06370

DSC06306

DSC06408

DSC06382

DSC06330

DSC06275

DSC06308

DSC06355

DSC06281

DSC06353

DSC06357

DSC06381

DSC06391

DSC06363

DSC06410

DSC06404

DSC06405

DSC06301

DSC06277

DSC06329

Und, selbstverständlich: feinste Motorentechnik. Für Flugzeuge und Autos. Sonst hieße es ja auch nicht Bayerische Motoren-Werke.

DSC06291

DSC06293

DSC06294

DSC06260

Das BMW-Museum am Fuß des berühmten Vierzylinders ist nur ein paar Schritte über eine Fußgängerbrücke entfernt von der BMW-Welt – laut Wikipedia eine „kombinierte Ausstellungs-, Auslieferungs-, Erlebnis-, Museums- und Eventstätte“.

DSC06234

Für Fans der Marke ist der von Wolf D. Prix konzipierte und 2007 eröffnete futuristische Bau ein wahrer Tempel. Man darf die neuesten Modelle in allen Ausstattungsvarianten ebenso bewundern…

DSC06219

…wie die spektakuläre Architektur…

DSC06239

…und die neuesten Blüten der Motorentechnik. Abgerundet wird das Ganze durch Präsentationsbereiche wie „Born Electric“ für E-Autos, daneben ein paar original zerschrammte Karossen aus James-Bond-Filmen…

DSC06223

…und reichlich Merchandising, vom Rollkoffer mit Mini-Aufdruck über Modellautos und T-Shirts bis zum Kinderfahrrad.

DSC06252

Von der Empore aus darf der im wahrsten Sinne des Wortes geneigte Besucher beobachten, wie auf der Plattform gegenüber Neuwagen an ihre stolzen Neubesitzer ausgeliefert werden, samt Einführung und Schlüsselübergabe. Das Werk ist im Hintergrund durch die Glasfenster zu sehen.

DSC06247

Irgendwo in einer Ecke dieser High-Tech-Halle voller High-Tech-Mobile steht, bescheiden und kugelförmig: eine Isetta.

DSC06227

Und macht Werbung für das Werksmuseum. Dass die Organisatoren ihren Kunden aus Asien, Russland und kein rassiges 507-Coupé oder einen V8-Barockengel als Repräsentanten der Firmengeschichte dort hingestellt haben, habe ich als das sympathischste Detail des ganzen Millionenbaus empfunden.

Es ist nicht die mobile Welt, in der ich groß geworden bin. BMW, das waren für mich viele Jahre lang nur die leicht prolligen Gasfußfahrer mit Schnauzbart, die sich auf Breitreifen mit Lichthupe und schlechten Manieren ihren Weg durch den Verkehrsdschungel freiröhrten. Der traditionelle Mercedesfahrer der Siebziger sah lächelnd auf sie hinab, selbst wenn sie ihm beim Ampelspurt den Doppelauspuff zeigten.

Seit dem heutigen Tag ist mir eingefleischtem Sternenfahrer die weiß-blaue Marke ein ganzes Stück näher gekommen. Tradition haben sie auch, die Münchener. Und Stil sowieso. Damals wie heute. Apropos heute: Mittlerweile ist ja Mercedes die Marke mit den wildest gefletschten Lufteinlässen, den verspieltesten Chromapplikatiönchen im Armaturenträger, den sinnlosest in die Seitentüren gebügelten Knickfalten und den expressivsten flammenförmigen Rücklichtern im Chinese-Dragon-Style.

Gedankenverloren verlässt der Besucher die schöne neu-alte Welt, um in der Tiefgarage in seinen 20 Jahre alten, kantig-gutbürgerlichen Mercedes zu steigen. Und beim Blick auf dessen abgrundtief sachliches Armaturenbrett zu rätseln: Warum bauen eigentlich die Stuttgarter heutzutage nicht so dezent-zurückhaltende, gleichzeitig elegante und doch dynamisch-sportliche Wagen?

Sternenhimmel

Sony Nex-6 mit Canon nFD 50mm 1:1.4, f1.4, 5s, ISO 100
Sony Nex-6 mit Canon nFD 50mm 1:1.4, f1.4, 5s, ISO 100

Man kann nicht dasselbe Foto zweimal machen, bloggerte ich neulich. Aber man kann versuchen, dasselbe Motiv noch einmal besser hinzukriegen. Beziehungsweise mit einem besseren Objektiv.

So sah der Abenstern vor einigen Wochen aus – mit der High-Tech-Festbrennweite Sony SEL 20f28. Regulärer Neupreis: 349 Euro.

Das heute war ein gut 30 Jahre altes, garantiert elektronikfreies Canon FD 50mm 1:1.4 für 40 Euro. Finde den Unterschied.

Wiederholungstäter

Sony Nex-6 mit Sony SEL 20f28, f5, 30s, ISO 100, 20 mm
Sony Nex-6 mit Sony SEL 20f28, f5, 30s, ISO 100, 20 mm

So richtig wahnsinnig ist man ja erst, wenn man zwei Abende hintereinander am selben Brückengeländer kauert. Immerhin: Die Kameraeinstellungen hatte ich diesmal noch drin – so wurden es heute nur anderthalb Stunden.

Macht innerhalb der vergangenen 24 Stunden etwa dreieinhalb, die ich über der A544 verbrachte. Das darf man wohl, um einen Kommentar meines Freundes Peter Behrens aufzugreifen, einen Brückentag nennen.

Brückenglück

Sony Nex-6 mit Sony SEL 18200LE, f4, 30s, ISO 100, 18 mm
Sony Nex-6 mit Sony SEL 18200LE, f4, 30s, ISO 100, 18 mm

Ein stetiger leichter Wind weht über die Hochbrücke, doch obwohl ich in Shorts und T-Shirt rund 13 Meter über dem Asphalt am Geländer stehe, ist mir nicht kalt. Es ist eine Eigenart dieses seltsamen Sommers, dass sich feuchtkalte und schwülwarme Nächte seit Wochen abwechseln. Heute ist Variante zwei dran.

Es ist spät am Abend, in einer halben Stunde ist Mitternacht. Seit fast zwei Stunden ragt das Teleobjektiv der Sony hier in luftiger Höhe über der Autobahn 544 an der Abfahrt Verlautenheide/Würselen in Blickrichtung Aachener Kreuz durch die Streben des Geländers.

Der Verkehr sorgt für ein beständiges Hintergrundrauschen. Wenn ein schweres Fahrzeug unter mir entlangdonnert, geht ein leicht singendes Zischen durch die Konstruktion. Doch mit der Zeit sind die Momente immer öfter und länger geworden, in denen es schon fast still ist und kein Auto weiße oder rote Streifen durch die Fotos zieht, die meine Kamera geduldig eins nach dem anderen auf ihre Speicherkarte sichert. Eine halbe Minute Belichtung, eine halbe Minute Bearbeitung, dann: Betrachtung. Dann der nächste Versuch, mit etwas anderer Perspektive, einer anderen Blende oder einem nachjustierten Fokus. Man muss schon reichlich Geduld mitbringen, um zu dieser Zeit noch mit der Kamera loszuziehen.

Aber es hat auch seinen ganz eigenen Reiz. Keine Seele ist außer mir hier an diesem einsamen Ort – außer den Menschen in den Autos da unten in der Tiefe. Und die Fotografie bei Nacht ist eine Welt für sich. In fast völliger Dunkelheit auf ein Autobahnschild zu fokussieren, ist viel schwerer, als ich es mir vorgestellt hatte. Und dann hätte ich natürlich auch gerne einen Moment im Bild, in dem auf allen vier Blättern des Kleeblattes Fahrzeuge fahren.

Doch das Glück lässt sich nicht zwingen. Die perfekte Halbminute – ein wenig, aber nicht zu viel Verkehr auf sämtlichen sichtbaren Fahrbahnen – gibt es heute nicht. Dann ist es irgendwann Mitternacht; die Autos fahren jetzt nur noch vereinzelt in immer größer werdenden Abständen. Zeit, das Stativ zusammenzuklappen und nach dem Moorbraunen zu suchen, der dort irgendwo in den Schatten auf mich wartet.

Was an Bildern an diesem Abend entsteht, ist – wie könnte es anders sein – nicht perfekt. Macht nichts, der Sommer ist es auch nicht, und er birgt trotzdem Momente echten Glücksgefühls. Manche finden an einem windigen Brückengeländer hoch über der Autobahn 544 statt. Und ein paar weitere warten bestimmt noch darauf, erlebt zu werden.

Abendstern

Sony Nex-6 mit Sony SEL 20f28, f2.8, 1/4s, ISO 3200, 20 mm
Sony Nex-6 mit Sony SEL 20f28, f2.8, 1/4s, ISO 3200, 20 mm

„Ein gutes Foto muss wehtun“, zitierte mein Freund Andreas neulich einen Kollegen. Soll heißen: Es darf ruhig schon mal etwas unbequem werden für den Zweibeiner hinterm Dreibein. Muskelschmerzen und Mückenstiche, überlange Wartezeiten auf das geeignete Motiv und dann, wenn es da ist, spontane Panik, weil die Kamera plötzlich doch nicht tut, was sie soll: Gehört alles dazu.

Sony Nex-6 mit Sony SEL 20f28, f2.8, 1/60s, ISO 2500, 20 mm
Sony Nex-6 mit Sony SEL 20f28, f2.8, 1/60s, ISO 2500, 20 mm

Bei mir gab es heute Abend gleich das komplette Programm: das längliche Warten auf ein geeignetes Kraftfahrzeug, um die Objektverfolgung bewegter Motive auszuprobieren…

Sony Nex-6 mit Sony SEL 20f28, f7.1, 1/10s, ISO 3200, 20 mm
Sony Nex-6 mit Sony SEL 20f28, f7.1, 1/10s, ISO 3200, 20 mm

…den Mückenstich beim geduldigen bodennahen Begleiten meiner alten Freundin…

Sony Nex-6 mit Sony SEL 20f28, f5.6, 1/60s, ISO 1600, 20 mm
Sony Nex-6 mit Sony SEL 20f28, f5.6, 1/60s, ISO 1600, 20 mm

…und die Muskelschmerzen beim längeren Knien im Matsch, um den Untermieter dieses Sommerblühers (unteres Blatt rechts) ins Bild zu bekommen.

Und schließlich, als Belohnung beim abschließenden Fotoexperiment mit dem moorbraunen Stern im letzten spätabendlichen Dämmerlicht – siehe Bild ganz oben – noch einmal alles zusammen. Beziehungsweise auf eine gute halbe Stunde verteilt. So dass ich den eingangs zitierten Spruch jetzt ergänzen darf: Manchmal muss ein Foto auch ewig dauern, nervös machen – und jucken.

Unaufschiebbares

Es gibt Dinge, die kann man nicht aufschieben. Geburtstage von Menschen, die man liebt, zum Beispiel. Dafür setzt man sich auch dann am Wochenende ins Auto, wenn in fünf Bundesländern die Sommerferien beginnen und sich die Stauprognose des ADAC liest, als träfen sich die Reiter der Apokalypse mit Dischingis Khans Goldener Horde zum munteren Schädelkegeln am Kamener Kreuz:

„Gewaltige Staus erwartet Autofahrer auf dem Weg in den Sommerurlaub an diesem Wochenende. An diesem Wochenende starten die Bundesländer Berlin, Brandenburg, Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern sowie der Süden der Niederlande in die Ferien. Aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und der Mitte der Niederlande rollt die zweite Reisewelle. Es gibt kaum mehr Strecken ohne Staus. Wer kann, sollte für den Start in den Urlaub auf einen Tag unter der Woche ausweichen.“

Aber, wie gesagt, es gibt Dinge, die kann man nicht verschieben, denen kann man nicht ausweichen. Ein Trost bleibt dem Schreiber dieser Zeilen, während er am Sonntagnachmittag in seiner frisch polierten C-Klasse vom elterlichen Oldenburg aus in Richtung Süden brummt: Er hat es nicht eilig. Keine Deadline dräut, kein Minutenzeiger sitzt ihm im Nacken. Die linke Spur darf heute gerne denen gehören, die nicht so gut dran sind wie er. Manchmal ist es auch die Mittlere, wenn sie ihn in ihrer Eile rechts überholen, um sich ein, zwei Autos weiter vorne im Pulk einzusortieren.

Denn ein Pulk ist es, der sich da über die A1 ab dem Autobahnkreuz Alhorn in Richtung Osnabrück/Münster schiebt. Selten geht es schneller als 120 Stundenkilometer voran, meist deutlich drunter, immer wieder zieharmonikat sich die Blechschlange bis auf 60 km/h zusammen. Kurz hinter Vechta – der beim Volltanken in Oldenburg auf Null gestellte Tageskilometerzähler zeigt gerade erst 50 zurückgelegte Kilometer an – ist dann zum ersten Mal Schluss. Stau.

Auf drei Spuren stehen wir da, im leichten Nieselregen unter trübem Himmel, und warten, kriechen ein paar Meter weiter, stoppen, warten, fahren wieder an, kriechen ein, zwei Wagenlängen voran, stoppen wieder, warten. Bis es irgendwann, erst zögerlich, dann merkbar und schließlich endgültig wieder weitergeht. Eine Stunde ist da schon vergangen, eine Stunde für 50 Kilometer Strecke. Von knapp 400 nach Aachen oder gut 300 nach Köln – je nachdem, wie weit ich heute noch komme.

Fürs erste sind das gerade mal weitere 50 Kilometer. Bei Osnabrück staut es sich zum zweiten Mal. Und wieder ist eine Stunde vergangen, als der Kilometerzähler endlich die 100 voll macht. Und so in etwa bleibt es auch.

Bis kurz hinterm Kamener Kreuz.

Es sind keine Mongolischen Reiterhorden, die da die Autobahn dichtmachen, es ist nur eine zufällige Zusammenkunft zahlreicher Sommerfrischler aus verschiedenen Ecken Deutschlands. Trotzdem geht in Sekundenschnelle gar nichts mehr, und die Geschwindigkeit und Gründlichkeit, mit denen der Verkehr zum Erliegen kommt, verraten dem auf unzähligen Autobahnkilometern durchgewalkten Hintern des Erfahrenfahrers, dass es diesmal etwas Ernsteres ist. Keine Spurverengung wegen einer Baustelle, kein Wohnmobil mit Motorradanhänger, dem an einer Steigung beim Überholen die PS ausgegangen sind. Das hier wird länger dauern. Minuten vergehen. Nach und nach werden Motoren abgestellt. Es wird still. Türen klappern, Fahrer steigen aus. Zigaretten werden angezündet. Menschen versuchen, nach vorne zu spähen, schirmen die Augen mit der Hand ab. Ist da etwas zu sehen, hinter dem blauen Hinweisschild auf das Autobahnkreuz Dortmund/Unna?

Stau659

Das Martinshorn ist zuerst ganz leise, kaum zu hören. Dann: bläuliches Aufblitzen im Rückspiegel. Einige Autofahrer beginnen, ihre Mobile auf den wenigen zur Verfügung stehenden Metern Asphalt aus dem Weg zu rangieren. Schon rauscht der erste Rettungswagen vorbei. Der Zweite. Jetzt ein knallrotes Löschfahrzeug der Feuerwehr. Noch eins. Schließlich Polizei.

Kaum jemanden hält es jetzt im Wagen. Auch mich nicht. Ist das Gafferei? Ist es Anteilnahme? Wir Menschen sind so gepolt, dass wir wissen wollen, was vor sich geht. Was passiert da vorne? In der Kurve hinterm Hinweisschild verharren die vielen winzigen Blaulichter, flackern statisch vor sich hin. Steigt da Rauch auf?

Immer mehr Minuten kriechen ins Land. Hätte man die Fahrt nicht doch verschieben sollen? Lieber später am Abend fahren? Oder ganz früh am Morgen? Eine andere Route nehmen?

Über der stehenden Kolonne kreist ein Greifvogel. Auch wenn er kaum Ähnlichkeit mit einem Geier hat, er lenkt die Gedanken unwillkürlich auf das, was sich da vorne ereignet hat. Sind Menschen verletzt worden? Einer, mehrere? Schreit in diesen Minuten jemand vor unerträglichen Schmerzen, eingeklemmt in einem zerquetschten Haufen Blech? Kämpfen Mediziner um einen Sterbenden? Vermutlich ist es eine Gnade, außer den blauen Lichtpunkten da hinten in der Kurve nichts erkennen zu können.

Plötzlich ein Knattern. Ein Rettungshubschrauber steigt auf. Der Pilot senkt die Nase der Maschine, die schnell Fahrt aufnimmt, tief über unsere Köpfe donnert. Ob im Innenraum jemand auf der Bahre liegt?

Ein anderes Geräusch – lautes Hupen von hinten. Ein großer, leuchtend gelber Abschlepp-Lkw schlängelt sich durch die Rettungsgasse, im Sekundenrythmus lässt der Fahrer die Fanfaren dröhnen. Wenige Meter dahinter ein zweiter.

Es dauert noch lange – eine Viertelstunde? Eine Halbe? -, ehe die Autotüren wieder klappern. Ehe die Wartenden in ihre Wagen steigen. Dann werden Motoren angelassen. Bewegung kommt in die Schlange. Anfahren. Langsam. Im Kriechtempo voran. Vorbei an Polizisten in gelben Neonwesten, die den Verkehr mit Kellen ganz nach rechts auf den Standstreifen dirigieren, vorbei an einem Abschleppwagen mit einem zerbeulten gelben Kombi auf der Ladefläche, vorbei an einem Kastenwagen der Polizei mit flackerndem Blaulicht, in dem Menschen sitzen, vorbei an einem zerschrammten BMW links an der Leitplanke.

Dann ist die Bahn vor mir frei. Und zwar völlig frei, weil der Verkehr sich nur tröpfchenweise aus der Engstelle befreien kann. Als wollte die Autobahn sich für das Warten entschuldigen, lädt sie jetzt zum Gasgeben ein: Alle drei Spuren für dich! Doch mir ist nicht danach, ein paar der vielen verlorenen Minuten wieder hereinzuholen.

Es gibt Dinge, die man nicht verschiebt, weil man sie unbedingt tun möchte. Und dann gibt es Dinge, die kann man nicht verschieben, weil sie einem passieren. Weil sie sie einem im wahrsten Sinne des Wortes wider-fahren, wie zwei Tonnen Auto auf Kollisionskurs auf einer Autobahn. Dinge, die einen aus der Spur werfen, aus aller Planung katapultieren, vielleicht sogar aus dem Leben.

Mir ist heute auf der A1 bei Unna etwas Lebenszeit abhanden gekommen. Lebenszeit, die ich lieber anders verbracht hätte. Doch es gab jemanden, der hätte sicherlich gerne mit mir die Plätze im Stau getauscht. Jemand, der näher am Geschehen hinter dem blauen Autobahnschild war als ich. Ganz nah. Zu nah.

Sechs Stunden nach dem Losfahren stelle ich in Köln den Motor ab. Sechs Stunden für gut 300 Kilometer. Und trotzdem habe ich das Gefühl, Glück gehabt zu haben.

Abendschönheit

Es wurde mal wieder Zeit für einen Beitrag über das ursprüngliche Objekt dieses Blogs – das schließlich einmal Moorbraun.de hieß. Und wie es der Zufall will, wurde es auch mal wieder Zeit, das ursprüngliche Objekt dieses Blogs einer Reinigung zu unterziehen, um ebenjenem Moorbraun mal wieder zu Glanz und Geltung zu verhelfen. Die Schönheit eines Autos will nun einmal von Zeit zu Zeit ans Licht poliert werden.

DSC02227

DSC02213

DSC02195

DSC02202

DSC02185

DSC02215

Also schnell nach Feierabend – so lange noch genug Licht da ist – in die Waschanlage mit uns, um anschließend auf dem Hof der Werkstatt unseres Vertrauens die Polierwatte kreisen zu lassen.

Und wenn man dann nach vollbrachter guter Tat im letzten Licht des späten Abends mit Kamera und Handmuskelkater um den sichtlich zufriedenen Wagen herumkrebst, kommt einem der eigentlich fest gefasste Plan, demnächst mal Motorhaube, Dachpartie und C-Säulen nachlackieren zu lassen, schon wieder arg überflüssig vor. Sieht doch noch tipptopp aus…

Das ist das Geheimnis dieser seltsamen Sonderlackfarbe Nr. 479 Moorbraun: Sie glänzt so herrlich wie flüssige Schokolade – und was ließe sich daran schon verbessern?

Auf ein Neues

1772_350.000km

Eher zufällig fällt es mir auf dem Rückweg auf, als ich kurz auf den Tacho des Moorbraunen sehe: Oh, mal wieder größer genullt. (Apropos größer: Wer ebenfalls die Anschaffung einer Gleitsichtbrille vor sich herschiebt: Die Fotos hier lassen sich seit Neuestem zu einer Galerie großklicken.) Zwar sind 350.000 Kilometer natürlich kein schöner, runder Hunderttausender und auch noch ein ganzes Stück entfernt von der ganz großen Sechsernull, aber immerhin. Mehr als achteinviertelmal um die Erde, auch keine ganz runde Rechnung, aber immerhin. Auch halbe Nuller darf man feiern, manche Leute werden dieses Jahr 45…

Wo war ich? Ach ja, am Grünen Weg in Aachen. Während der Diesel am Straßenrand friedvoll vor sich hinnagelt und ich für das Erinnerungsfoto mit der Kamera unterm Lenkrad durchpeile, wandern ein paar Erinnerungen durch meinen Kopf. Die Touren durch Schottland 1993, 1995 und 2009. Die Provence 2001. Der Nordlichterbesuch 2007. Luxemburg 2012. Immer wieder Ornbau. Die Flucht über die Sprungschanze aus dem Steinbruch. Die große Umdieselung, die Getriebewechsel, die ungezählten Nächte in der Werkstatt. Und, und, und…

Seit 22 Jahren fahren wir jetzt durch dicke und dünne Zeiten, er und ich. Dabei kann ich noch nicht mal behaupten, dass der Schokoladenfarbene den längsten Teil seines Weges unter meinem Hintern zurückgelegt hat. Mit 179.000 Kilometern auf der Uhr habe ich ihn gekauft, damals, im Frühjahr 1993. Sind also noch gute 8000 zu fahren, bis er mehrheitlich „mein“ Auto ist. Von der Lebenszeit her ist er es natürlich längst – zwölf Jahre alt war er, als ich ihn kaufte, heute ist er 34. Also, auf ein Neues. Bei der halben Million feiern wir größer.

Wo war ich? Ach ja, beim Joggen. Mal wieder. Ich hatte bei der letzten Runde neulich das Gefühl, die Möglichkeiten des jüngsten Neuzugangs in meiner kleinen Objektivsammlung, des 20-Millimeter-Weitwinkels Sony SEL 20f28, noch nicht ganz ausgereizt zu haben. Also, auf ein Neues.

1680-Schnecke-überholt

Das erste Erfolgserlebnis wartet schon kurz nach der Überquerung des Beverbachs – ein Überholmanöver! Man ist in dieser Hinsicht ja nicht allzu verwöhnt, so als Dieselfahrer über 40 (Jahre, nicht km/h!) – jedenfalls nicht im Part des Aktiven beim Überholvorgang. Weit scheint der schleimige Geselle seit unserem letzten Treffen am 5. Juni nicht gekommen zu sein. Dafür ist er ähnlich zielstrebig auf der Strecke unterwegs…

1725-Jogger

…wie dieser Herr hier, der mich, nun ja, ziemlich aktiv überholt. Mein Seitenblick in Vorbereitung eines netten „Guten Abend“ bleibt unerwidert: Der flotte Geselle trabt in voll verkabelter iPod-Trance seines Weges. Kann man natürlich machen. Aber dann hört man die Vögel nicht, das Rauschen der Blätter und das Rascheln im Unterholz, wenn man Bewohner aufschreckt, die etwas schneller in Deckung wuseln als Mister Nacktschneck.

1707-Sonnengras

Man kann nie das selbe Foto zweimal machen, sinnierte ich bei der Runde neulich, als es schon zu dunkel war, um das Foto mit dem Joggingschuh vom 12. Mai noch einmal mit mehr Tiefenschärfe nachzustellen. Das bestätigt sich heute erneut: An der Kurve, wo so hübsch die Abendsonne durch die Bäume auf den Boden fällt, ist das Motiv vom letzten Mal buchstäblich vom Erdboden verschwunden: Das Kraut am Wegesrand ist gemäht worden.

1691-Blättersonne

Motive gibt es trotzdem, denn die Sonne scheint auch anderswo.

1698-Baumtunnel

Dann schluckt uns der Tunnel, die Sonne taucht endgültig hinter die Baumkronen ab –

1720-Baumblockade

– wobei interessanterweise auch eine der Baumkronen abgetaucht ist…

…und schließlich ist unsere kleine Abendrunde durch den Öcher Bösch zu Ende. Wieder anders, wieder einzigartig, wieder einfach nur schön. Morgen oder wann heißt es wieder: Auf ein Neues. Für den Moorbraunen und all die anderen, die auf der großen Straße unterwegs sind. Ob im Schneckentempo oder im Sprint. Und die noch so viel vor sich haben.

In der Janusstadt

Lüttich, so erkläre ich Freunden immer, die zum ersten Mal im Maasland sind, Lüttich müsst ihr euch vorstellen wie eine beschauliche mittelgroße französische Stadt aus dem 18. Jahrhundert, auf die in den 60er Jahren eine bulgarische Trabantensiedlung aus Betonhochhäusern gefallen ist.

1413-Yachthafen

Und wenn man dann gemeinsam am Boulevard Frère-Orban die Maas in Richtung Stadtmitte hochschlendert, wird mit jedem Schritt klarer, wie das gemeint ist.

1414-Maasufer

Irgendwann in den 60ern muss ein zukunftsgläubiger Stadtrat beschlossen haben, dass Traufhöhenbegrenzungen etwas für Spießer sind, am Ende gar etwas für Deutsche. Ergo brach in der einstigen Wiege der europäischen Stahlindustrie eine Abriss- und Neubauwut aus, die beim heutigen Betrachter die Erkenntnis weckt, dass die alliierten Flächenbombardements des Zweiten Weltkriegs nicht das Schlimmste waren, das einer mitteleuropäischen Stadt im 20. Jahrhundert widerfahren konnte. Verloren quetschen sich seitdem die wenigen übriggebliebenen einst so imposanten Fassaden der alten, drei- und vierstöckigen Bürgerhäuser zwischen die gewaltigen, gerne mal elfgeschossigen Klötze, die es überall ins Weichgebiet der Stadt gehagelt hat.

1415-Uferskulptur

Abgerundet wurde das architektonische Grauen in den folgenden Jahrzehnten vom rapiden Verfall der Schwerindustrie, grassierender Arbeitslosigkeit, fehlenden Mitteln für Restaurierung und Instandhaltung – et voilá, fertig war eine Melange der Tristesse. Die Stadt wurde zum Januskopf – und ihre beiden Gesichter starren in entgegengesetzte Richtungen. Was für ein Kontrast zum nur wenige Kilometer weiter flußabwärts gelegenen, atemberaubend schönen – und dabei historisch vollkommen stimmigen – Maastricht. Was für ein Kontrast auch zum ebenfalls schwer verwundeten, aber danach mit viel gutem Willen wieder zusammengeflickten Aachen. Lüttich wollte ganz nach oben und blieb auf halbem Weg stecken. Die Stadt hatte einst eine Seele – und verlor sie, schrieb der Blogger Don Alphonso, leider finde ich den Link nicht mehr.

1418-Skulptur

Ist das immer noch so? Ja, die Skyline der wallonischen Regionalhauptstadt ist, sagen wir mal zurückhaltend, einzigartig (jedenfalls wünscht man das den anderen Städten dieses Planeten). Aber es ist nicht die einzige Wahrheit. Nicht nur der 2009 fertigestellte Bahnhof Liège-Guillemins von Santiago Calatrava fügt den zwei Seiten der Medaille eine neue Facette hinzu.

1386-Bahnhof

1403-Bahnsteig

1405-Bahnhofshalle

Der Humor der Bewohner tut das Seinige…

1547_Pizza-Belge

…selbst wenn der China-Imbiss mal zu hat.

1546-Wok-Off

Und dann sind da natürlich noch die Juwelen. Für die man manchmal ein paar Schritte abseits des Weges gehen muss. Etwa in die „Impasses“ nördlich der Prachtstraße Hors-Château in der Altstadt. Hier fristeten einst die Dienstboten und Angestellten der Bewohner der Reichen und Schönen der Stadt ihr bescheidenes Dasein. Wer sich durch die teils winzigen Durchgänge an der Hauptstraße…

1426-Impasse

…in diese Labyrinthe aus Hinterhöfen und Sackgässchen quetscht – nirgendwo gibt es eine Verbindung zwischen diesen Stichwegen, stets muss man wieder zurück zur Straße -, wird belohnt durch den Anblick liebevoll geschmückter Gärten und schrullig auf- und aneinandergestapelter Häuser.

1434-Durchgang

1451-Impassenblumen

1433-Taubenhof

1432-Taube

1444-Impassentoepfe

Am Nordende der Rue Hors-Château liegt die Stiftskirche Saint-Barthélemy aus dem 11. und 12. Jahrhundert.

1456-Kirchentor

Das Bauwerk aus Grauwacke war Ende der 90er Jahre stark verwittert und wurde nach der Jahrtausendwende mit gewaltigem Aufwand innen und außen saniert.

1473-Kirchenschiff

Dabei wurde nicht nur der gesamte Boden erneuert, um eine moderne Heizungsanlage einzubauen – wobei zahlreiche Gräber entdeckt wurden -, sondern auch alle Außenwände neu verputzt und das Kirchenschiff neu vermörtelt und gestrichen.

1485-Altar

Im Inneren steht man vor dem Taufbecken des Bronzegießers Reiner von Huy aus der Zeit um 1110, eines der „Sieben Wunder Belgiens“.

1468-Taufbecken

Die einzelnen Taufszenen werden durch Abbildungen von Bäumen voneinander getrennt. Man erkennt die Taufe Jesu im Jordan, die Predigt Johannes’ des Täufers in der Wüste, die Taufe von zwei Katechumenen, die Taufe des römischen Hauptmanns Kornelius und die Taufe des griechischen Philosophens Craton. (Wikipedia)

Aber auf uns wartet noch die ganz große Herausforderung – am anderen Ende der Straße.

1499-Treppenberg

Nämlich die Montagne de Bueren, der berühmten Treppenstraße.

1507-Treppeseitlich

Dieses Bauwerk verbindet die Altstadt mit der auf dem Berg gelegenen Kaserne der Zitadelle…

1514-Rosentor

…und sorgt seit dem 19. Jahrhundert bei Bewohnern wie Touristen für definierte Waden.

1501-Treppentueren

1528-Treppenpanorama

Nein, aus Spaß keucht man nicht sämtliche 374 Stufen bis nach oben. Man tut das für die Aussicht, denn die ist grandios. Und natürlich, um sich selbst in eitler Pose auf dem Gipfel für die Nachwelt zu verewigen. Einmal lächeln, auch wenn’s nicht leicht fällt. (Endlich hat es sich einmal gelohnt, stundenlang das Stativ durch die Gegend zu schleppen.)

1523-Obenpaar

Und schließlich, um nach erfolgreichem Abstieg schnurstracks hinter der Ecke in die Brasserie Curtius abzubiegen, einen ebenso schnuckeligen wie abgelegenen Biergarten im ehemaligen Ursulinenkonvent mit angeschlossener Mikrobrauerei.

1540-Leuchtbier

Und während man das traulich im Glas leuchtende, vor Ort gebraute Lütticher Bier die durstigen Kehlen herunterlaufen lässt, stellt man fest, dass sich die Frage nach der Seele dieser merkwürdigen Stadt längst erledigt hat. Lüttich, die Janusstadt, hat eben einfach: mehr als nur eine.