That escalated quickly

Sony A7II mit Meyer Optik Primagon 4.5 35, f22, 5s, ISO 100
Sony A7II mit Meyer Optik Primagon 4.5 35, f22, 5s, ISO 100

Es lässt sich beim Ersteigern von alten Objektiven auf Ebay nicht vermeiden, dass hin und wieder noch eine alte Kamera dranhängt. Oft sind diese Kombinationen sogar günstiger, weil Objektivsammler nicht in die Kamera-Rubrik schauen. Die Gefahr dabei ist allerdings, frei nach Nietzsche: Wenn du dir die schwarzsilbernen Schönheiten aus der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu lange anschaust, schauen sie irgendwann in dich zurück. Und bringen dich dazu, in einen Drogeriemarkt zu gehen und dich – höflich und etwas vorsichtig, als frage man nach Gummiartikeln zur höchstspersönlichen Freizeitgestaltung – nach etwas zu erkundigen, was du seit etwa zwölf Jahren nicht mehr gekauft hast.

Filme, Sie wissen doch. Nein, keine DVDs, ich meine diese altmodischen Rollenfilme, die man früher in Kameras tat. Kennen Sie sowas gar nicht mehr? Haben Sie die noch?

Verschämt versteckt sich ein Dutzend kleiner Schachteln ganz außen in einer Ecke eines Regals – was für ein kümmerlicher Rest der einst so allgegenwärtigen Analogfotowelt. Ganze vier verschiedene Sorten gibt es noch, von 100, 200 und 400 ASA, dazu eine Schwarzweiß-Variante. Entwickelt wird der Spaß heutzutage für 3 Euro, Foto-CD inklusive.

So schnell verschwindet eine komplette, gut hundert Jahre alte Industrie samt ihren Fotoabgabetresen in jedem Supermarkt, den Großregalen mit Dutzenden von Filmsorten, Doppel, Fünffach- und Familienpackungen und dem ganzen Zubehör. Erinnert ihr euch an die Zettel, auf denen man ankreuzen musste, ob die Abzüge matt oder glänzend sein sollten? 9 mal 13 (billig, aber jämmerlich klein) oder 10 mal 15 (ausreichend groß, aber für einen kompletten Urlaub arg teuer). An die Umschläge mit den Negativstreifen, die immer in die falsche Reihenfolge gerieten?

Wie lange das her ist. Jetzt schaue ich etwas ratlos auf das Aufwickelröllchen im Gehäuse der Exa und weiß nicht mal mehr, wie man den Film dort einfädelt. Immerhin, ein Gutes hat das Digitalzeitalter: Dank Youtube, Fachforen und den Webseiten der Kamerafreaks und Bastler gibt es für jedes Modell ausführliche Anleitungen, Dokumentationen und Tutorials.

Also, Fotografie nach alter Väter Sitte: Ich war lange weg, aber jetzt bin ich wieder da. Schön, dass du auf mich gewartet hast. Kann losgehen jetzt. Äh, wie stellt man eigentlich die richtige Belichtung ein, so ohne Display?

Die Mittelformatigen (hinten links und rechts): Pentacon Six TL (1966-90) und Zeiss Ikon Nettar II 516/17 (1951-53)

Die Kleinbildenden (vorne links, Mitte und vorne rechts ): Zeiss Ikon Pentacon (1956-61), Rolleiflex SL35 (1970-1972) und Ihagee Exa (1959-69).

Zaungäste

Sony A7II mit Pentacon 2.8 135, 1/1600s, ISO 100
Sony A7II mit Pentacon 2.8 135, 1/1600s, ISO 100
Sony A7II mit Pentacon 2.8 135, 1/6400s, ISO 125
Sony A7II mit Pentacon 2.8 135, 1/6400s, ISO 125

Photokina – oder: Das Alte im Neuen

Köln, Photokina 2016. Ich fotografiere gerade die bizarre Schaufensterpuppenfamilie am Stand von Polaroid. Als ich dabei kurz vom Kameradisplay aufschaue, zucke ich zusammen: Direkt neben mir steht auf einmal ein älterer weißbärtigen Mann, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Ich beende die Aufnahme und drehe mich dem unerwarteten Zuschauer zu.

„Ich sehe, Sie haben da ein Biotar an Ihrer Kamera“, beginnt er freundlich. Ich bin sofort beeindruckt: Das silbern glänzende Aluminium des fast 70 Jahre alten Objektiv-Oldtimers an meiner Sony hebt sich zwar bei näherem Betrachten von all den mattschwarzen Canikons, Sigmas und Tamrons ab, die hier durch die Hallen wuseln. Doch wer achtet in dem Messegewühl schon auf ein einzelnes Besucherobjektiv?

Doch mein neuer Gesprächspartner entpuppt sich als Mann vom Fach. Er hat nicht nur das Biotar trotz davorgeschraubter Sonnenblende erkannt (obwohl es sich auf den ersten Blick kaum unterscheiden dürfte von all den 50- und 40-Millimeter-Tessaren, den Primotaren oder den Flektogons der späten 50er-Jahre), er kennt auch all die anderen Linsen der Nachkriegszeit. Auch er spielt mit dem Gedanken, sich eine Sony-Vollformatkamera zuzulegen und sein gehütetes Altglas von früher zu neuem Leben zu erwecken.

Ich bekomme die Tipps, dass die Firma Fotoservice Bernd Tröster in Halle an der Saale alte Kameras aus DDR-Zeiten bestens wartet und repariert. Dass unter den „Exakta“-Kameras von Ihagee aus Dresden die Variante mit der abgerundeten Frontblende die beste sei. Im Gegenzug schildere ich meine Erfahrungen damit, Jahrzehnte alte Objektive an die Sony-Systemkameras Nex-6 und A7 zu adaptieren (es geht bekanntlich bestens).

Es ist eine aus der Zeit gefallene Unterhaltung, hier mitten in dieser Hightech-Show. An den Messeständen um uns herum werden Smart-Kameras der neuesten Generationen befingert, Besucher zielen mit brandneuen Teleojektiven für etliche Tausend Euro in der Halle herum wie mit Geschützen auf alten Segelschlachtschiffen und mehr oder weniger bedauernswerte Models räkeln sich in unterschiedlichen Szenerien vor den Hobby- und Profifotografen.

Die Fotowelt ist wieder einmal in hektischer Bewegung. Während die Riesen der Branche in Köln alles auffahren, was toll und teuer ist, ist die Fotografie im Wandel von digital zu smart. Die vertraute Kompaktkamera stirbt gerade einen schnellen Tod, was sie kann, kann das Smartphone längst besser. Actioncams, Kameradrohnen und immer neue Softwarefunktionen krempeln den klassisschen Kameramarkt radikal um.

Und hier stehen ich und mein neuer Gesprächspartner und reden über Technik, die ein halbes Jahrhundert plusminus ein paar Jahrzehnte alt ist. Technik von Firmen, die längst untergegangen sind, von großen Namen wie Rollei, dem VEB Pentacon und Meyer Optik Görlitz. Und wie gut das war, was diese Werke verließ. Es hat etwas Beruhigendes: Was einmal gut war, behält seinen Wert. Was einmal schöne Bilder produziert hat, tut das noch heute. Andere vielleicht als die extrem hoch auflösenden Dateien der Kameras mit ihren 42-Megapixel-Sensoren – die trotzdem manchmal so seltsam klinisch wirken, so nachgeschärft und perfektioniert. Ich habe ein einziges „modernes“ Objektiv, ein Sony FE 2 28. Es produziert fantastische Ergebnisse – und ich benutze es fast nie, weil mir die Bilder seltsam tot vorkommen. Es ist so gebaut, dass es eine starke tonnenförmige Verzerrung erzeugt – die dann softwaremäßig noch im Objektiv beseitigt wird.

Als ich abends nach Hause fahre, fühle ich mich ermutigt: Ich bleibe bis auf weiteres beim Altglas. Da gibt es noch viel zu entdecken. Noch am Wochenende danach ersteigere ich für ein paar Euro eine Ihagee-Kamera auf Ebay – natürlich mit runder Frontblende. Und mit einem klassischen Tessar-Objektiv von Carl Zeiss Jena, dem legendären „Adlerauge“, das Fotografen auf der ganzen Welt jahrzehntelang für seine Schärfe schätzten.

Natürlich im silbern glänzenden Alu-Look. Denn die Oldtimer aus Metall und Glas haben vielleicht nicht die perfekte Randschärfe der brandneuen Plastikbomber, dafür aber reichlcih andere Qualitäten: Sie zu bedienen, ist ein Genuss. Sie funktionieren auch noch nach mehr als einem halben Jahrhundert, wenn die Elektronik längst ausgefallen ist. Und ihre Ergebnisse überzeugen – wenn auch auf andere Weise. Sie wirken unvollkommener, aber lebendiger. Sie haben einfach: Stil. Außen wie innen. Dass es so etwas noch gibt.

Es rankt

Sony A7II mit Carl Zeiss Jena Sonnar 4 135 Alu, F4, 1/160s, ISO 320
Sony A7II mit Carl Zeiss Jena Sonnar 4 135 Alu, F4, 1/160s, ISO 320

Die große Gefahr, wenn man anfängt, Altglas vor seine Kamera zu schrauben ist: dass man damit so schnell nicht wieder aufhören kann. Geht mir gerade so. „GAS“ nennt man das im englischen Sprachraum, „Gear Aquisiton Syndrome“, Ausrüstungserwerbungssyndrom. Ein Objektiv ist schöner als das andere: die tresorsoliden Minoltas, die bizarren ostdeutschen Zebras, die Pentacons mit ihren kreisrunden Lamellenblenden, die unbekannten Rolleis, die mercedesmäßig wuchtigen westdeutschen Zeiss’… aktuell habe ich mich in die klassischen Aluminiumobjektive aus den Fünfzigern verliebt. Und meine kleine Sammlung wächst und gedeiht.

Das Biotar – Foto siehe unten – war die Einstiegsdroge. Heute kam ein silbern glänzende 135er Sonnar von Carl Zeiss Jena an, mit der heute wenig imposanten Lichtstärke von 4.0 zwar, aber dafür mit einem winzigen Luftbläschen in der Frontlinse, die damals als Zeichen höchster Glasqualität galt (und wegen der das Objektiv für einen Schnäppchenpreis zu haben war). Das blankpolierte Aluminium glänzt fast noch so wie vor rund 60 Jahren.

Sony A7II mit Carl Zeiss Jena Sonnar 4 135 Alu, F4, 1/160s, ISO 320
Sony A7II mit Carl Zeiss Jena Sonnar 4 135 Alu, F4, 1/160s, ISO 320

Nach den ersten Probeschüssen am Abend verstehe ich, dass manche Altglasfans diesen Oldtimer seinem lichtstärkerem Nachfolger 3.5 135 (das Schwarze aus dem Beitrag weiter unten) vorziehen, obwohl der als eines der besten 135er-Objektive überhaupt gilt. Die in den 50ern verwendeten Glassorten – es soll damals zum Beispiel Blei in der Produktion verwendet worden sein – geben dem Motiv seinen ganz eigenen, plastischen Charme. Vom 3D-Effekt ist die Rede, vom „Pop-Up“.

Ja, so etwas ist schon auf diesen Bildern erkennbar, auch wenn es keine leuchtend bunten Blumen im güldenen Sonnenlicht sind. Warum 1000 Euro und mehr für ein modernes Autofokus-Objektiv ausgeben, wenn so ein Stück Fotogeschichte ein mindestens genauso interessantes Bild malen kann? Meine kleine Sammlung wird wohl noch das eine oder andere interessante Pflänzchen dazubekommen.

Charaktervoll

Sony A7II mit Carl Zeiss Jena Biotar 2 58, f2, 1/200, ISO 250
Sony A7II mit Carl Zeiss Jena Biotar 2 58, f2, 1/200, ISO 250

Das frischgemachte Carl Zeiss Jena Biotar 2 58 durfte gleich mal an die frische Luft. Und ich bin hin und weg. Vom Vordergrund, vom Hintergrund, von der Duftigkeit, von der Schärfe hier und der Weichheit da. Seinem Ruf als „Charakterlinse“ wird das Biotar voll gerecht, vor allem bei ganz offener Blende wie hier. Man kann sagen: Hat das Motiv Charakter, bringt so ein Objektiv ihn erst richtig zur Geltung. Whow!

Sechzig Jahre alt, wie neu

Klingelt der Bote am Vormittag / weckt’s Morgenmuffel auf einen Schlag.

DSC01672-CZJ-Biotar-58-+-CZJ-Sonnar-135

Post von Fotoservice Olbrich aus Görlitz. Es ist das erste Mal, dass ich die in Altglasfotografenkreisen sehr gerühmte Arbeit dieser Werkstatt im äußersten Osten unseres Landes selbst erleben kann. Und wahrlich, diese Arbeit war ausgezeichnet.

Aus meinem rund 60 Jahre alten, arg vergnaddelten Carl Zeiss Jena Biotar 2 58 (rechts) haben sie tatsächlich wieder ein blitzendes optisches Präzisionsgerät gezaubert. Ich hatte es im Frühjahr für nicht allzu großes Geld auf Ebay gekauft, wurde aber enttäuscht. Der Linsensatz war lose und klapperte, der Blendenring lief knirschend und das Schlimmste: Auf der Austrittslinse lag innen Nebel.

Nun, schlanke drei Monate später (ich bin leider nicht der Einzige, der von Olbrichs Künsten gehört hat, das ist sein einziger Nachteil), sieht es wieder aus wie ein einsatzbereites Reporterwerkzeug. Die Linsen sind klar, der Tubus fährt beim Fokussieren geschmeidig aus, der ungewohnte Vorwahlblendenring – man muss ihn zur Kamera hin eindrücken, um den gewünschten Blendenwert einstellen zu können – federt und dreht sich wieder sanft und sauber. Das Teil soll ein wunderbar spiralförmiges Schwurbel-Bokeh zustandebringen – ich bin schon gespannt.

„The optical results of the Carl Zeiss Jena Biotar 2 / 58 are really top notch. The bokeh is wonderful and creamy – a true twirling delight. The overall image sharpness is also amazing even when you shoot wide open at f2. For portraiture the Biotar sets standards.“ (Vintage Camera Lenses)

_DSC1795-Biotarlamellen

Und auch das schwarze Carl Zeiss Jena Sonnar 3.5 135 (links), das ich in einem Anfall von Selbstüberschätzung so zerschraubt hatte, dass der Blendenrückholer aus Plaste dabei zerbröselte, blendet, rückholt und rastet jetzt wieder wie am ersten Tag. Also um 1980 herum, als das gute Stück im Werk Jena für den Export nach Großbritannien mit einem „S“ im Blendenring gelabelt wurde (weil die Markenrechte für „Sonnar“ in den meisten westlichen Ländern beim West-Zeiss lagen, aber das ist eine andere Geschichte). Auch das 3.5 135 ist berühmt für seine Leistung.

„Carl Zeiss Jena MC Sonnar 135mm f/3.5 showed outstanding performance in the lab. Images were sharp from corner to corner throughout the tested aperture range. (…) Actually, the lens produced one of the most consistent results among medium telephoto lenses tested to date. (…) Conclusion? With outstanding results across the frame and across aperture range, this 20+ year old lens design still goes strong and would put to test any modern lens.“ (SLR Lens Review)

Vor vielen Jahrzehnten sind in Deutschland – hier konkret: in der DDR – fotografische Spitzenprodukte hergestellt worden, die bis heute ganz oben in ihrer Liga mitspielen. Schön, dass es heute hierzulande noch Handwerkskunst gibt, die sie für die nächsten Jahrzehnte fit hält.

Von großem Glück in engen Gassen

_DSC1634-Lesende---Flektogo

Auf die Gefahr hin, für senil gehalten zu werden*, drängt es mich doch nochmal dazu, mein Glück in die Welt hinauszubloggen. Dem Glück nämlich, an einem Ort sein zu dürfen, an dem ich sein möchte. Zehn Jahre ist es in diesen Tagen her, dass in mir der Wunsch aufkam, in Aachen zu leben. Es waren Sommertage wie diese und es war eine Stimmung in den engen Gassen rund um Dom und Rathaus wie jetzt, als ich merkte, dass ich mich in die kleine große Stadt im äußersten Westen verliebt hatte. Und gerne ein Teil von ihr wäre.

So weit, so romantisch-harmlos. Nein, zugegeben: so kitschig. Wenn man aber in diesen Tagen mit der Kamera und offenen Augen durch diese Gassen geht, muss man gar nicht so weit schauen, um daran erinnert zu werden, dass so ein Glück nicht jeder von uns spüren darf. Ich hatte in den vergangenen Monaten selbst regelmäßig mit Menschen zu tun, die weiß Gott nicht freiwillig und aus Begeisterung nach Aachen gekommen sind. Und die eine weit, weit längere Anreise hatten als der Schreiber dieser Zeilen, den es seit seiner Geburt nur rund 380 Kilometer weit von Oldenburg her geweht hat.

_DSC1631-Hofkolonnade

Menschen aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan. Ländern, in denen Mörder mit Maschinengewehren darüber bestimmen, wer leben darf und wer sterben muss. Menschen, die mit Ach und Krach ihr nacktes Leben retten konnten und ihre Existenz nur in einem Koffer dabei hatten. (Und sich hierzulande dann noch dafür beschimpfen lassen mussten, auch ihr Smartphone aus den Trümmern ihrer Heimat gerettet zu haben.)

_DSC1617-Weissblumenbiene

An schönen Tagen wie diesen, wenn man gemütlich unter den römischen Kolonnaden im Hof seine Apfelschorle durch den Strohhalm zieht: Dann darf man, wenn man schon nichts an den Dingen ändern kann, die Menschen aus den Orten treibt, an denen sie geboren wurden und an denen sie alt zu werden geplant hatten, dann darf man wenigstens sich selbst noch einmal daran erinnern, wie groß und kostbar dieses Glück ist, selbst entscheiden zu dürfen, wo man ist und sein möchte.

_DSC1618-Nazifortpflanzung

*Also: ein weiteres Mal für senil gehalten zu werden. Zum wievielten Mal, weiß ich nicht. Man selbst bekommt ja in diesem Zustand gnädigerweise von den Wiederholungen nicht mehr so viel mit.

* * * * *

Und zum Schluss, es muss leider sein, noch das übliche technische Kleingedruckte, das sich hier leider nicht kleiner drucken lässt dank des Plugins TinyMCE endlich auch klein drucken lässt (danke für den Tipp, liebe Uschi!). Beim obigen Fotospaziergang durch das Weichbild der Stadt durfte mal wieder das „neue“ Weitwinkel ran. Das Carl Zeiss Jena Flektogon 2.8 20 aus DDR-Produktion lag seit dem Kauf meist in der Vitrine – die äußersten Ecken sind halt doch nicht ganz so scharf wie beim Canon FD 2.8 20. Aber es ist deutlich kompakter, kommt bis auf unfassbare 19 Zentimeter nah (!) ans Objekt ran und macht tolle Farben. Flektogons – auch das berühmte 2.4 35 Millimeter – gelten als fotografische Ein-Mann-Armeen. Kann ich bestätigen. Das Ding darf in Zukunft wohl öfter mal raus.

Vergoldetes

Sony A7II mit Carl Zeiss Sonnar 2.8 135 C/Y, F4, 1/1000, ISO 100
Sony A7II mit Carl Zeiss Sonnar 2.8 135 C/Y, F4, 1/1000, ISO 100

Die Strahlen der Abendsonne schlängeln sich an den Türmen von Dom und St. Foillan vorbei, kriechen über Hausdächer und enden schließlich als goldene Tupfer an den verwitterten Ziegeln einer uralten Hauswand. Mit unbewegter Miene schaut mir die goldene Heiligenfigur in ihrer Nische hoch oben an der Hausecke zu, wie ich unter ihr auf der Straße mit dem Stativ auf dem Pflaster herumkratze. Wenn ich sie zwischendurch in den Sucher nehme und auf die Lupe-Taste drücke, zeigen etliche Macken und der hier und da abgeplatzte Lack, dass die Dame mit der ausgestreckten offenen Hand nicht mehr die Jüngste ist.

Wie setze ich sie richtig ins Bild? Ein bisschen blauen Himmel dazu? Oder noch ein Stückchen von einem zweiten Gebäude? Nein, das wird alles zu unruhig. Die eine, klassisch-strenge Fassade des Hauses im Hintergrund ist genug. Alles andere lenkt nur ab und stört den Kontrast zwischen ganz alt und noch nicht so ganz alt.

Was diese kleine goldene Figur wohl im Laufe ihrer Jahre schon alles gesehen hat an dieser belebten Ecke, ein paar Meter abseits vom Herzen der Stadt? Tausende und abertausende von Nachtschwärmern werden es gewesen sein. Brave Bürger und finstere Gestalten natürlich. Tagsüber Touristen und Kauflustige, nachts Huren und ihre Kunden. Amerikanische G.I.s vermutlich und davor deutsche Wehrmachtssoldaten, vielleicht auch die belgischen Besatzungstruppen in den Zwanziger Jahren. Wer mag schon alles unter ihrem starren Blick über diesen Platz marschiert sein? Wer hat kurz zu ihr hochgeschaut, hat sich bei ihrem Anblick etwas gewünscht, vielleicht ein Stoßgebet zum Himmel geschickt? Wer bekam ein schlechtes Gewissen wegen seiner Sünden, wer nahm einfach nur ein paar Sekunden lang den Anblick in sich auf?

Heute ist es nur ein Hobbyfotograf, der zu ihren Füßen innehält und ins Nachdenken versunken ist. Bis ein besonders schöner Sonnenstrahl das goldene Gewand aufleuchten lässt und ihm wieder einfällt, weshalb er hier an diese Kreuzung gekommen ist. Ein Finger drückt auf den Auslöser, es klackt. Dann wird eine Kamera wieder in ihre Tasche gepackt, ein Stativ zusammengeschraubt, schließlich fährt ein Fahrrad davon in Richtung Elisenbrunnen.

Zurück bleibt eine kleine goldene Figur, unbemerkt von den meisten Menschen, die unter ihr die Straße entlanghasten. Und Abendlicht, das auf eine alte Ziegelwand fällt.

Posthumoristische Kunst

Da tritt man aus dem Supermarkt, schaut noch einmal zurück und hebt dabei eine Sekunde lang den Blick etwas höher als gewohnt. Und stutzt. Was sind das denn für Gestalten an der Fassade? Was tun die da? Warum sind die nackt? Wird der da von einer Katze gebissen?

_DSC0754_korr-1-Pferdeengel

_DSC0752_korr-1-Mastengel-1

_DSC0753_korr-1-Karrenengel

Sony A7II mit Carl Zeiss Vario-Sonnar 4 80-200, 1/125s, ISO 100
Sony A7II mit Carl Zeiss Vario-Sonnar 4 80-200, 1/125s, ISO 100

Der Supermarkt ist der Rewe im Alten Posthof und die Fassade ist die der alten Post. Aber diese nicht ganz so alten Kobolde, Zwerge oder Barockengelchen – wer sind die? Eine Arbeitskolonne aus der Twilight Zone? Die rote Ziegelwand schweigt und bleibt eine Erklärung schuldig. Und wir gehen mit der ebenso überraschenden wie beglückenden Erkenntnis weiter, dass deutsche Postler offenbar zumindest in Aachen und zumindestens einmal in der vielhundertjährigen Geschichte des Briefeverteilens heimgesucht wurden von einem Anfall unerwarteten Humors.

Nachbarschaft

Sony A7II mit Carl Zeiss Sonnar 2.8 135, F5.6, 1/800, ISO 500
Sony A7II mit Carl Zeiss Sonnar 2.8 135, F5.6, 1/800, ISO 500

Nach dem Aufstehen ein Blick aus verquollenen Augen durchs Kippfenster in den Innenhof. Oh, guten Morgen, Frau Nachbarin. Wer sind denn Sie?

Ach ja, „Taubsi“ sagt man in diesen Pockenmonzeiten wohl zu so etwas. Lass dich nicht erwischen, Kleines. Bald ist der Hype vorbei und du bist wieder eine ganz gewöhnliche Flugratte.