Lesemann

Sony A7II mit Carl Zeiss Jena Biotar 1.5 75
Sony A7II mit Carl Zeiss Jena Biotar 1.5 75

Meine Lieblingsfigur am Aachener Dom (und nicht nur meine).

Magnoliendom I

Sony A7II mit Carl Zeiss Jena Biotar 1.5 75
Sony A7II mit Carl Zeiss Jena Biotar 1.5 75

Am Aachener Dom blühen die Magnolien wieder. Schöne Gelegenheit für erste Gehversuche mit einer Legende der Objektivwelt: dem Biotar 1.5 75 von Carl Zeiss Jena. Frisch und fachkundig überholt von Foto Olbrich aus Görlitz – eine wahre Stradivari. Aber eine, die man mit ihrer starken Randunschärfe bei Offenblende erst einmal spielen lernen muss.

Die Mediocren. Ein Fotowalk mit Orestegon, Oreston und Orestor.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29
Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29

Schon die Überschrift ist eigentlich eine Unverschämtheit. Die Mediocren, das sind „die Mittelmäßigen“. Ein Film von 1995 hieß so mit Jasmin Tabatabai, Jürgen Vogel und Dany Levi. Mittelmäßig als Attribut für ein Objektivtrio aus der berühmten Linsenschmiede Meyer-Optik Görlitz? Noch dazu in der Version mit dem Bajonett der legendären Exakta-Kameras?

Tja nun. Schauen wir uns die Kandidaten doch einmal an, die da mit uns ins Würselener Wurmtal dürfen.

Meyer Optik Görlitz Orestegon 2.8 29, Oreston 1.8 50 und Orestor 2.8 100
Meyer Optik Görlitz Orestegon 2.8 29, Oreston 1.8 50 und Orestor 2.8 100

Da wäre erst einmal das Orestegon 2.8 29 (links im Bild). Das Weitwinkel mit der einzigartigen Brennweite von 29 Millimetern wurde 1966 vorgestellt, damals noch in der klassischer Zebra-Fassung mit blank geriffeltem Fokusring. Es war nicht nur die weitwinkeligste Brennweite, die je das Görlitzer Werk verlassen hat, es war mit sieben Linsen auch das aufwendigste Objektiv von dort. Ab 1971 gab es die hier vorgestellte Bauform in schwarz mit den metallisch blanken Vierecken am Blendenring. Noch im selben Jahr wechselte der Produktname zu Pentacon 2.9 28, etwas später wurde die Fassung dann durchgehend schwarz und bekam noch etwas später die bekannte Kreuzrändelung am Fokusring und Mehrschichtvergütung auf den Gläsern. In dieser Form wurde das Objektiv – ausschließlich mit M42-Gewindeanschluss – bis zum Ende der DDR gebaut. Es füllte im Objektivangebot die Lücke zwischen dem teuren Superweitwinkel Flektogon 4 20, später 2.8 20 (sowie dem nur einige Jahre lang angebotenen 4 25) und dem Flektogon 2.8 (später 2.4) 35, beide von der Premiummarke Carl Zeiss Jena. Tausende und Abertausende von Praktica-Nutzern überall in Europa und Übersee bauten auf das 29er aus Görlitz. Meyer war, spätestens ab 1971, als der Hersteller ausschließlich unter VEB Pentacon firmierte, für den preisgünstigen Sektor und die hohen Stückzahlen zuständig.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29
Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29

Heute haben Fotofreunde eine gewaltige Auswahl an mittleren Weitwinkeln zwischen 28 und 35 Millimetern, die exotische Brennweite aus Görlitz ist nur eine Alternative von etlichen. Und, das darf man wohl sagen: leider nicht die attraktivste. Die Besprechungen und Testergebnisse des Orestegons waren schon zu dessen Lebzeiten nicht euphorisch und sind heute, höflich gesagt, durchwachsen. Mehrere Rezensenten verreißen das Orestegon völlig („das schlechteste Objektiv, das ich je an der Kamera hatte“), andere loben dagegen Bildqualität, Rendering, Bokeh und Kontrast. Einig sind sich alle Stimmen: Bei offeneren Blendenstufen sei die Bildmitte ja noch halbwegs scharf, aber die Ränder einfach nur flau bis völlig zermatscht, der Kontrast schwach. Erst oberhalb von F4, vor allem bei F8 bis F11, wird das Bild dann durchgehend scharf und kontrastreich. Die Fertigungsqualität sei wechselhaft, vor allem bei den letzten Jahrgängen, die wohl teilweise oder ganz bei IOR in Bukarest gefertigt wurden. Erst als die Konstruktion 1878 zum neuen Pentacon Prakticar 2.8 28 für das PB-Bajonett weiterentwickelt wurde, konnte das Objektiv überzeugen. Unter den Weitwinkeln der Altglaswelt erscheint das Orestegon aus heutiger Sicht – tja, höchstens ausreichend bis okay. Mittelmäßig halt.

Sony A7II mit Meyer Optik Oreston 1.8 50
Sony A7II mit Meyer Optik Oreston 1.8 50

Dann ist da das Oreston 1.8 50 (Mitte). Das 1961 konstruierte, ab 1963 produzierte und 1969 noch einmal optisch überarbeitete Objektiv wurde – spätestens ab 1971, als es in Pentacon 1.8 50 umbenannt wurde und zu Hunderttausenden auf den Weltmarkt gepumpt wurde, für fast 20 Jahre zum lichtstarken Standardobjektiv der DDR-Kameraindustrie. Seine Abstammung ist von Mythen umwoben, es wurde wohl aus dem Hochleistungsobjektiv Domiron 2 50 entwickelt, mit dem Meyer 1960 dem berühmten Biotar 2 58 des großen Rivalen Zeiss Jena Konkurrenz machen wollte. Das ging den DDR-Wirtschaftslenkern zu weit, Konkurrenz war in einer Planwirtschaft nicht vorgesehen, das Domiron musste eingestellt werden.

Sony A7II mit Meyer Optik Oreston 1.8 50
Sony A7II mit Meyer Optik Oreston 1.8 50

Zu seiner Zeit war das Oreston allerdings alles andere als mittelmäßig. Der aufwendige Sechslinser schlug in seiner Bildqualität das Einstiegsobjektiv, den einfachen Dreilinser Meyer Domiplan 2.8 50, um Längen. Das für seine Schärfe gerühmte Tessar 2.8 50 aus dem Hause Zeiss Jena übertraf es in punkto Lichtstärke um mehr als eine ganze Blendenstufe. Einzig dem exzellenten Zeiss-Objektiv Pancolar 1.8 50 musste es sich geschlagen geben. Es war ihm zwar bei den Leistungsdaten auf dem Papier und wohl auch in der Bildleistung bei kleineren Blendenstufen ebenbürtig, hinkte ihm aber in der Königsdisziplin Offenblende messbar hinterher. Was auch gewollt war: Das Oreston war nun einmal die etwas einfachere Konstruktion mit weniger teuren Gläsern. Dafür war es preisgünstiger.

Das Oreston ist aus heutiger Sicht immer noch durchaus befriedigend, größere Schwächen leistet es sich nicht, aus der Masse heraus ragt es andererseits auch nirgendwo. Es gibt ungezählte gleich gute bis deutlich bessere 50-Millimeter-Objektive, angefangen bei den Pancolaren von Zeiss Ost über die Planare von Zeiss West, bis zu den Dutzenden auch heute noch günstiger und hervorragender Standardobjektive aus Japan, etwa von Canon, Minolta oder Nikon. Das Oreston ist in diesem Feld: leider halt auch nur ein Mittelklässler.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100
Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100

Aber das Orestor 2.8 100? Mittelmaß? Nein, wirklich nicht. Nach übereinstimmendem Urteil der Fachwelt ist das Orestor ein echtes Juwel, zusammen mit seinem gleichnamigen Bruder 2.8 135 vielleicht das Beste, was je die Görlitzer Werke verließ. Die Konstruktion vom berühmten Sonnar inspiriert. Brillant, herausragend, übertrifft bereits bei Offenblende 2.8 die Bildleistung vieler anderer, lichtstärkerer Objektive.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100
Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100

Es gab allerdings zwei Versionen des Orestors. Die erste, zylindrische Fassung von 1966 hatte eine einfache Rastblende, 14 Lamellen und eine kreisrunde Iris. Sie ist – gerade an modernen Digitalkameras – zweifellos die optisch bessere und überaus begehrt. Ein kompaktes Porträtobjektiv, das noch heute begeistert.

Dann haben wir die zweite Version ab etwa 1970, mit automatischer Druckblende – und, bei identischem Linsenaufbau, einer Blende mit nur noch sechs Lamellen. Diese Blende ist denn auch das Einzige, das diesem Orestor vorzuwerfen ist: Das Objektiv hat, so wie auch das Oreston und das Orestegon oben, eine sechseckige Iris mit – und das ist ungewöhnlich – schnurgeraden Lamellenkanten. Sechs Lamellen sind grundsätzlich keine Schande, aber bei den allermeisten Objektiven sind sie abgerundet. Die Blätter des späten Orestors machen das berühmte butterweiche Bokeh etwas weniger sanft, vor allem aber werden Spitzlichter im Hintergrund sichtbar kantig.

Warum dieser scheinbare Rückschritt? Jahrzehntelang waren ein Dutzend Lamellen und mehr das Optimum im Objektivbau. Doch beim Aufkommen kürzerer Verschlusszeiten und automatischer Blendensteuerung kamen die feinblättrigen Blütenkonstruktionen beim präzisen und schnellen Öffnen und Schließen nicht mehr mit. Die Konstrukteure gingen also zu sechs oder sogar nur fünf Lamellen über. Die aber waren meist gerundet, so dass Hintergrundlichter nicht ganz so brutal kantig wirkten. Ob die Ingenieure bei Meyer diese streng geometrische Iris wählten, weil die kantigen Lichter technische Modernität signalisieren sollten? Egal, sie haben sich nicht durchgesetzt, auch das Oreston/Pentacon 1.8 50 bekam ab 1975 nicht nur Multi Coating auf die Gläser spendiert, sondern auch – übrigens überaus stark – gerundete Lamellenblätter.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29
Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29

Bleibt noch zu erwähnen, was es mit dem Exakta-Bajonettanschluss auf sich hat. Eigentlich gab es die Görlitzer Spitzenprodukte aus den späten 60er-Jahren nämlich nur noch mit M42-Gewinde für die Praktica-Kameras. Doch 1969 machte man noch einmal eine Ausnahme für die neu entwickelte Kamera Exakta RTL 1000 – eine Variante der Praktica LLC mit Extakta-Bajonettanschluss. Man hoffte, mit ihr den Nutzern der seit 1950 gebauten Ihagee-Kamera Exakta Varex – in ihren Hochzeiten ein weltweit geschätztes Spitzenprodukt der DDR-Fotoindustrie, mittlerweile aber zusehends veraltet – einen zeitgemäßen Nachfolger anbieten zu können. Vier vorhandene Objektive wurden eigens für diese Kamera auf Bajonettanschluss und Innenblendmessung umkonstruiert. Neben den drei hier vorgestellten Meyers gab es noch eine Variante des Zeissschen Pancolars 1.8 50. Doch die RTL 1000 floppte am Markt und wurde nur drei Jahre lang gebaut. Entsprechend gering blieb die verkaufte Auflage der kleinen Objektivfamilie.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29
Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29

Warum nun marschiert man mit Orestegon, Oreston und Orestor auf Fotopirsch statt mit ähnlich teurem, aber anerkannt besseren Altglas? Wenn es unbedingt DDR-Ware sein muss, warum nimmt man nicht Flektogon, Pancolar und Sonnar aus Jena mit, untadelig im Ruf und noch heute überaus beliebt?

Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29
Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29

Schwer zu erklären. Warum fahren Leute in einem ollen 1968er Opel Manta durch die Lande? Warum restaurieren Fans historische Kreidler-Mopeds? Warum legen manche Musikliebhaber lieber Schallplatten auf, als den Streamingdienst einzuschalten? Warum benutzt man zum Fotografieren überhaupt jahrzehntealte manuelle Linsen statt zeitgemäßer Objektive mit Vollautomatik und Autofokus?

Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100
Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100

Vielleicht, weil erst das Reduzieren aufs Wesentliche eine so alltäglich gewordene Tätigkeit wie von das Fahren von A nach B oder das Anfertigen eines Fotos wieder zum Vergnügen macht? Weil beim Rühren im Getriebe eines Oldtimers ohne Fahrwerkselektronik ein ganz anderes Gefühl für die Straße aufkommt? Weil man Musik anders schätzt, wenn man erst den Tonträger aus der Papierhülle nehmen und vorsichtig auf den Plattenteller legen muss? Und weil das gefühlvolle Drehen am Fokus und das klickende Einrasten des Blendenrings den Fotografen wieder zwingen, sich aktiv mit Aufbau und Gestaltung seines Bildes auseinanderzusetzen? Wer so denkt, der will irgendwann auch nicht mehr unter den historischen Objektiven das hervorragende oder gar perfekte, eben das moderne und damit langweilige. Er unterwirft sich gerne den Einschränkungen eines aus heutiger Sicht „mangelhaften“ Objektivs und schätzt die Herausforderung, gerade mit diesem nicht vollkommenen Werkzeug kreativ zu sein.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29
Sony A7II mit Meyer Optik Orestegon 2.8 29

Die drei Meyers hier bieten genau das. Und es ist ja nicht so, dass sich mit ihnen nur stümpern lässt. Weit gefehlt. Schärfe können sie um F8 herum so gut wie jedes moderne Objektiv, da überzeugen sie auch heute. Ihr Bokeh ist ganz anders als das ihrer Nachfolger aus dem 21. Jahrhundert. Bei Offenblende und knapp darunter dagegen bieten sie die Herausforderung: Dass man sich eben genau überlegen muss, was sie können und was nicht – und was für ein Bild man eigentlich erzeugen möchte. Und dann überraschen sie hier und da mit ganz ausgezeichneten Leistungen in Spezialdisziplinen: Das Orestegon 2.8 29 etwa taugt mit seiner Nahgrenze von nur 25 Zentimetern wunderbar für spannende Detailaufnahmen. Ebenso das Oreston, das bis auf exzellente 33 Zentimeter an das Motiv herankriechen kann, für ein 50-Millimeter-Objektiv ein überragender Wert. Und das Orestor 2.8 100 ist in der Summe seiner Eigenschaften ein auch heute noch uwmerfend gutes Porträtobjektiv. Und auch die eckigen Lamellen haben eine gute Seite: Sie produzieren nachts wunderbare Lichtsterne.

Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100
Sony A7II mit Meyer Optik Orestor 2.8 100

In einem Punkt ist das Trio sogar ganz modern: In der Bajonett-Variante lassen sie sich genauso fix durch einen schnellen Dreh an der Kamera wechseln wie ihre modernen Nachfolger. Der Bildqualität wiederum lässt sich auf die Sprünge helfen, indem man den nur einfach vergüteten Gläsern durch Gegenlichtblenden – die hier abgebildeten Exemplare gibt es in der E-Bucht für ein paar Euro aus China – unter die Achseln greift. Und beim Kriechen durchs Moos an einem bewölkten Wintertag ist ein Stativ hilfreich, dann kann auch problemlos bis in die besseren Bildqualitäten hinein abgeblendet werden.

Orestegon, Oreston und Orestor mit Gegenlichtblenden
Orestegon, Oreston und Orestor mit Gegenlichtblenden

Wer also gerne die Konstruktionen der legendären Görlitzer Werkstätten an seiner Kamera hat, ein halbes Jahrhundert alt und mit entsprechend historischem Rendering, aber mit noch immer annehmbaren Leistungsdaten, und wer beim Wechseln keinen Wert auf langes Gefummel mit Schraubanschlüssen legt, der kommt an diesen etwas selteneneren Varianten von Oreston, Orestegon und Orestor nicht vorbei. Ähnlich komfortabel waren aus DDR-Produktion erst wieder die Prakticar-Objektive mit dem PB-Bajonett ab 1978. Die sind aber auch eine ganze Generation „moderner“ und bieten mit ihren Griffringen aus Gummi oder Kunststoff wieder ein ganz anderes haptisches Erlebnis.

Mit einem Ferrari über die Landstraße zu heizen, macht sicher Spaß – aber ist reine Perfektion nicht auch ein bisschen langweilig, ein bisschen steril, ein bisschen ohne Herausforderung? Es muss wohl so sein, sonst würden nicht so viele Leute alte Opel Mantas hegen und pflegen, an Kreidler Floretts herumschrauben – und Meyer Orestegons an ihre Kamera klipsen.

Venncapismus

Karneval ist für Aachener – und Aachener Journalisten – sowas wie der heimlich-unheimliche Höhepunkt des Jahres. Er bedeutet Dauereinsatz, für die einen im Zoch und an der Kamellefront, für die anderen eine Flut Hunderter und Aberhunderter Bilder von Feiernden aus der ganzen Region.

Wer nach Fettdonnerstag, Karnevalssonntag und Rosenmontag vom akustischen und optischen Trubels mürbe geschossen ist, sehnt sich oft nach Ruhe und Einsamkeit. Und wo könnte man die im Dreiländereck besser finden als im Venn?

Vom Parkplatz Nahtsief aus, dem perfekten Ausgangspunkt für einen Gang durchs Moor, zog es mich diesmal nach Norden, wo es zwar weniger Teiche, aber etwas mehr landschaftliche Abwechslung gibt.

Von der ist allerdings an einem Schneetag deutlich weniger zu sehen als etwa im Frühling. Immerhin, man ist offenbar nicht das einzige Wesen hier draußen.

In der Kameratasche begleitete mich wieder Familie Schacht – also das Travegon 2.8 35 als Weitwinkel, das Travelon 1.8 50 als Standardlinse, das Travenar 2.8 90 als Porträtspezialist und das Travenar 3.5 135 als Tele (fünf Euro demjenigen, der glaubhaft erklären kann, warum der bayerische Objektivhersteler Albert Schacht seine Produkte nach einem Fluss benannt hat, der durch Lübeck fließt).

Aber, tja, so richtig zusammengewachsen sind wir noch nicht, die Schachts und ich. Das 90er-Travenar streikte mit offener Blende, vermutlich war das Schmierfett in der Kälte erstarrt. Und das 135er-Travenar kämpfte mit flauem Grau beziehungsweise grauer Fläue – vermutlich sitzt eine leichte Fungus- oder Schmierschicht zwischen den Linsen.

Bei diesem Bild etwas musste ich später mit Photoshop den Kontrast ordentlich hochjazzen, damit das Bild halbwegs ansehnlich wurde. Immerhin, das 50er-Travelon lieferte wieder die solide Leistung ab (etwa beim Baumstumpf oben), die mir schon beim Besuch im Schaapskooi gefallen hat, siehe dort.

Die positive Überraschung war das 35er. Obwohl sich im Netz etliche wenig begeisterte Stimmen finden (vor allem, was die M42-Version mit der eher kleinen Austrittslinse angeht), zeichnete es abgeblendet mit Stativ sehr schön scharf.

Wenn nur das Herumgefummel mit dem Stativ nicht so lange dauern würde! Verdammt, die Sonne geht schon unter.

Wo geht’s nochmal zurück? Entenpfuhl? Parking Grenzweg? Ternell?

Macht nichts – irgendwann führten die vereisten Holzstege auf einen Wirtschaftsweg, der nicht nur mich zurück in Richtung Parkplatz brachte, sondern auch in den Genuss eines feinen Blicks auf einen herrlichen Wintersonnenuntergang. Und so endete die Flucht vor dem bunten Farbenspektakel des Karnevals – in einem bunten Farbenspektakel. Glücklicherweise allerdings: in völliger Stille.

Lammetjesdagen im Schaapskooi

Wie herzig sie schauen. Ob wollig-filzig oder ratzekahl kurzgeschoren: Immer ist da dieser sanfte Blick. Sie verzeihen uns, scheint er zu sagen, sie verzeihen uns Zweibeinern sogar, dass wir sie so rüde auf den Boden drücken, ihnen die Beine würdelos abspreizen und sie im Akkord mit groben Elektromähern von ihrer Wolle befreien.

Wie streng sie riechen. Immer ist da dieser stechende – ja, sagen wir es ruhig – Gestank. Er hängt in der Luft, er hängt in den Klamotten, er hängt noch im Haar, wenn man abends im Bett liegt. Schafszucht ist nix für Leute, die nach der Arbeit noch zur After-Work-Party wollen. Es sei denn, es ist eine After-Work-Party für Schafzüchter.

Der Schaapskooi Mergelland im niederländischen Epen, ein paar Autokilometer hinter Vaals, ist ein schönes Ausflugsziel für Familien. Vor allem, wenn es „Lammetjes Dagen“ sind, also gerade die Lämmer geschlüpft zur Welt gekommen sind. Herrgott, sind die Tierchen niedlich. Und wie herzig sie schauen!

Für den Freund historischer Kameraobjektive stellt sich ein Problem schon mal nicht: das Fokussieren. Die Objekte der Objektivarbeit können sich in ihren engen Koben nämlich eher wenig bewegen. Mal abgesehen davon, dass sie ohnehin lieber dastehen und kauen als den Springbock zu geben. Bei so geduldigen Motiven sitzt der Fokus spätestens beim dritten Mal – versucht das mal mit Tieren in freier Wildbahn.

Auf der Minusseite ist es in den Stallanlagen – der Betrieb hat etliche große Hallen von zum Teil beeindruckenden Ausmaßen – auch nicht übermäßig hell.

Womit wir beim üblichen Abschnitt über die Fotoausrüstung wären – tja, meine Damen und Herren, so schnell ist das Thema wolltragende Wiederkäuer ausgereizt. Wer mehr über die Gattung Ovis lesen möchte, sei auf die Wikipedia verwiesen. (Hey, habt Ihr gewusst, dass ein Schafbock am Tag bis zu fünfzigmal begatten kann? Alle halbe Stunde verliebt sich ein Schaf auf Paarhufership! Tschuldigung, der musste raus.)

Es ist also sinnvoll, etwas Lichtstärkeres aus der Vitrine mitzunehmen. Ich hatte mich für etwas eher Exotisches entschieden: die letzte Baureihe von Objektiven aus dem Hause Schacht Ulm: Als Standardlinse das Travelon 1.8 50, als Weitwinkel das Travegon 2.8 35. Nummer Drei im Bunde, das Teleobjektiv Travenar 3.5 135 kam mangels Licht und Entfernung nicht zum Einsatz. Es war der erste Einsatz für das Spitzentrio des kleinen Ulmer Herstellers, mein Freund Ivo Michielsen hatte das Travelon erst tags zuvor von Fungus gereinigt.

Die Objektive haben mich nicht enttäuscht. Fast alle Bilder hier sind mit Blende 2.8 oder 4 entstanden, weiter abblenden war nicht drin, um die ISO-Zahl nicht in den vierstelligen Bereich schießen zu lassen oder in die Langzeitbelichtung unter 1/20 Sekunde abzurutschen (soviel bewegt sich ein Schaf denn doch). Vor allem die Schärfe des Travelons gefällt mir – insgesamt erinnert mich die Linse an das bekannte Meyer Oreston 1.8 50. Kein überscharfer Überflieger mit übersahnigem Bokeh, aber durchaus solide. Kann man mit arbeiten.

Nach einem Tag im Schaapskooi bleibt beim Besucher vor allem hängen, dass Schafe doch etwas Interessanteres sind als die vierbeinigen Wollständer, die man sie als Laie gerne in ihnen sieht (habt ihr gewusst, dass Schafe zwei Euterhälften mit je einer Zitze haben und manchmal sogar eine dritte Zitze?).

Und das ist nicht das einzige, das haften bleibt – den Rest riecht man selbst abends im Bett noch.

#Instawalk im #Lieblingsdom

Als sich die schweren Türen hinter uns schlossen, hatten wir den Dom für uns alleine. Wir, das waren rund 30 Aachener Blogger, Twitterer, Hobbyfotografen und Instagram-Nutzer, die sich für den ersten #Instawalk durch die Aachener Bischofskirche angemeldet hatten. (Gut, genau genommen tapperten neben unserer Gruppe noch ein paar weitere Führer und Geführte durch Oktogon und Chor, aber im Vergleich mit der ständigen Whooling tagsüber herrschte geradezu anheimelnde Leere im nächtlichen Bau.) Bei einem Instawalk wird eine Gruppe von Menschen mit Schlaufons durch einen Ort geführt, fotografiert ihn dabei wild aus allen möglichen Winkeln und lädt die Bilder dann bei Instagram hoch. So ergibt sich eine kompakte Bildersammlung aus sehr unterschiedlichen Perspektiven – es ist schon wirklich interessant, worauf verschiedene Fotografen achten, welche Details sie bemerken und aus welchen Blickwinkeln sie an die Motive herangehen.

Eingeladen hatte das Bistum. Ein Video der Veranstaltung ist auf den Webseiten von Aachener Zeitung und Aachener Nachrichten zu finden, mein Kollege Tobias Königs aus der Onlineredaktion hat es produziert.

Worum es bei der ganzen Sache ging, hatte wiederum meine Kollegin Laura Beemelmanns schon vorher im Lokalteil der Aachener Nachrichten beschrieben. Die von unserer Truppe gemachten Bilder sind bei Instagram unter den Hashtags #instadomaachen, #lieblingsdom und #instakirche zu finden.

Auch wenn ich schon weißnichtwieoft im Dom gewesen bin: Er ist jedesmal anders, jedesmal neu. Diesmal, nach Geschäftsschluss sozusagen, war die Atmosphäre in den tausendjährigen Mauern wieder eine völlig andere als tagsüber, wenn Hunderte von Besuchern über die Bodenmosaike strömen.

Man hatte viel mehr Zeit, sich den Details zu widmen. Und viele Einzelheiten wie die winzige „Kirchenmaus“ im Mosaik im Obergeschoss des Oktogons am Karlsthron habe ich erstmals bemerkt – äh, gezeigt bekommen.

Und dass das Adlerpult in der gotischen Chorhalle eine satanische Fledermaus auf der Rückseite trägt, die tagsüber stets vom aufgeschlagenen Evangelium plattgedrückt wird, war den meisten von uns ebensowenig bekannt…

…wie die Teetasse samt Untertasse aus Bergkristall, die aus irgendwelchen Gründen in den Heinrichsambo, die vergoldete Predigtkanzel, eingearbeitet wurde. Angeblich handelt es sich um Teile eines Prachtgeschirrs aus der Aussteuer von Kaiserin Theophanu, der Gemahlin des Kaisers Otto II.

Auch selten so nah zu sehen: die Pala de’l oro, die goldene Vorderwand des Marienaltars, die aus ottonischer Zeit (etwa um 1020 herum) stammen.

Ein bei unserer Fototruppe besonders beliebtes Motiv war das Gnadenbild, die Marienfigur im Oktogon. Später habe ich dann in der Wikipedia nachgelesen, dass diese Maria mit Kind eine bewegte Geschichte hatte: Sie verbrannte beim großen Aachener Stadtbrand von 1656 fast vollständig, die beiden Köpfe und eine Hand Marias konnten aber gerettet und später restauriert werden. Sie wurden in die neu geschaffene Figur eingearbeitet. Auch die geborgene Asche der alten Figur wurde in in einen Hohlraum des neuen Gnadenbildes eingelassen.

Beide Figuren werden ständig „umgezogen“: In der Domschatzkammer werden mehr als 40 kostbare Gewänder und über 100 Schmuckstücke für sie aufbewahrt, darunter die Hochzeitskrone der Margareta von York aus dem Jahr 1468 und ein mit 10.000 Perlen und 72 Diamanten besticktes Gewand aus Spanien.

Ein deutlich gruseligeres Motiv ist dagegen der Totenschädel an einem Wand-Epitaph an der Nikolauskapelle. So echt er auch aussieht – er ist aus Stein.

Es war, wie gesagt, nicht ganz der erste Besuch für mich im Dom. Aber einer der interessantesten. Von jetzt an jedenfalls werde ich beim Betreten des Westwerks nie wieder den Fehler machen, das große Hundi mit der goldenen Pfote rechts neben dem Eingang für eine römische Wölfin zu halten. Wie wir nämlich von unserem Domführer Jean-Claude Kall erklärt bekamen, handelt es sich eigentlich um eine Bärin. (Außerdem ist sie womöglich griechisch und stammt aus dem 3. Jahrhundert vor Christus.) Den Organisatoren und Begleitern des Bistums hiermit noch einmal ein großes Dankeschön für diesen spannenden Einblick in Aachens faszinierendstes Bauwerk!

Und hier noch die übliche Anmerkung für die Altglas-Fans: Es war schon ein bisschen herausfordernd, in dem halbdunklen Gemäuer ohne Stativ auszukommen. Die Bilder entstanden mit zweien meiner lichtstärksten Objektive, dem Planar 1.4 85 und dem Distagon 2.0 28 („Hollywood“) von Carl Zeiss für Contax/Yashica, meist mit ganz geöffneter Blende oder – etwa bei den Oktogon-Bildern oben, aufgestützt.

Hundert Jahre her

Der alte Grabstein steht halb versteckt auf dem Südfriedhof von Leipzig. Einer von Hunderten und Aberhunderten auf dem 80 Hektar großen Gelände. Keines der auffälligen, prunkvollen Grabmäler, die mit imposanten Engelsfiguren oder Heldenstatuen an berühmte Geschlechter oder zumindest finanzkräftige Mitbürger erinnern. Kein Faltblatt führt ihn auf, die Friedhofsführer-App verzeichnet ihn nicht. Man kann ihn leicht übersehen, wenn man die Reihen der Gräber entlangschlendert. Aber wer sich ihm zuwendet, dem erzählt er eine ganze Geschichte: die einer Familientragödie vor hundert Jahren.

Sie beginnt im Ersten Weltkrieg, an einem Frühlingstag des Jahres 1915. In einem Militärkrankenhaus in Nürnberg liegen Hunderte von verwundeten deutschen Soldaten in ihren Betten. Stöhnen und Schreien erfüllt die Krankenzimmer, Schwestern eilen auf den Fluren hin und her. In einem der Betten liegt der junge Albert Fischer, geboren in Leipzig. Er ist gerade erst angekommen.

Vor sechs Tagen ist der 22-Jährige an der Westfront schwer verwundet worden, in Verlinghem, einem Vorort der französischen Stadt Lille. Bis dahin, rund 240 Kilometer weit von der deutschen Westgrenze bei Aachen, ist der Vormarsch der Truppen des Kaisers gekommen. Dann verbissen sich die deutschen und alliierten Heere hoffnungslos ineinander, es begann der jahrelange furchtbare Stellungskrieg, das gegenseitige Abschlachten in den Schützengräben ohne Aussicht auf Sieg oder Niederlage. Vor neun Monaten erst hat der Krieg begonnen, doch Deutschland und Europa werden nie mehr so sein vor zuvor.

Mit einem Lazarettzug hat man Albert Fischer wieder ins Deutsche Reich gebracht, fast 700 Kilometer weit. Tagelang rumpelten die Waggons langsam über die Gleise, bis der Zug endlich in Nürnberg einrollte und man die Verwundeten aus den Wagen hob.

Der junge Soldat Fischer bekommt keine Sonderbehandlung. Er ist keine hochgestellte Persönlichkeit, kein Offiziersschüler oder verwöhnter Zögling. Er ist ein einfacher Infanterist, aus gutem Hause zwar, aber nicht vermögend, erst vor kurzem eingezogen und an die Front geworfen worden. Einen höheren Dienstgrad als Gefreiter hat er sich noch nicht verdienen können.

Es ist Samstag, der 23. April 1915. Erst vor wenigen Stunden, am Tag zuvor, haben die deutschen Truppen an der Westfront bei Ypern mit dem grauenvollen ersten großen Gasangriff des Krieges die Zweite Flandernschlacht eingeleitet. Alleine an diesem ersten Tag sind 18.000 Mann innerhalb kürzester Zeit unter teils entsetzlichen Qualen gestorben, insgesamt werden die gut vierwöchigen Kämpfe 120.000 Soldaten das Leben kosten – eine ganze Großstadt. Und ändern wird sich für den Kriegsverlauf nichts, die Front wird danach fast genauso verlaufen wie zu Beginn.

Während in Flandern seine Kameraden mit ihren Gewehren auf die zurückweichenden Franzosen schießen und erschossen werden, mit Bajonetten im Zweikampf zustechen und erstochen werden, während Artilleriegranaten einschlagen und Handgranaten explodieren und die weißen, tödlichen Nebel des Chlorgases zu den Schutzsuchenden in die Bombentrichter kriechen, kämpft Hunderte von Kilometern entfernt Albert Fischer tief in der Heimat um sein eigenes Leben. Vergeblich. Er wird nie wieder einen Fuß auf die Straßen Leipzigs setzen, nie wieder seine Eltern sehen, die fünf, sechs Zugstunden entfernt in Sachsen um ihren einzigen Sohn bangen, ohne zu wissen, dass er wieder in Deutschland liegt.

An diesem Samstag, neun Monate nach Beginn des großen Mordens, stirbt Albert Fischer. Für eine Trauerfeier bleibt keine Zeit. Sein Leichnam wird aus dem Bett gehoben und in einen einfachen Sarg gelegt. Das Bett muss schnell wieder frei sein, in diesen Tagen wird jeder Platz gebraucht. Der junge Mann tritt seine letzte Reise in einem Güterwaggon an. Der Leichnam wird in seine Heimatstadt überführt. Auf dem Südfriedhof wird Albert Fischer beigesetzt.

Der Schmerz seiner Eltern muss unermesslich gewesen sein. Er ist dem mannshohen Grabstein heute noch anzusehen – ihrem „innigstgeliebten, einzigen Sohn“ haben sie den schwarzpolierten Stein auf dem Sockel gewidmet. Aus härtestem „Schwarzer Schwede“-Granit ist er gefertigt, der beste und teuerste Stein überhaupt (und heute geradezu unbezahlbar). Er verjüngt sich nach oben und endet in einer schlichten, aber kunstvollen Verzierung. Ein Stein für die Ewigkeit. Aufwändig wurde der Name des Verstorbenen in 24-karätigem Blattschlägergold eingearbeitet. Ein eingraviertes Eisernes Kreuz krönt ihn, wie es der Geschmack der Zeit war, und erinnert an den Gefreiten Albert Fischer vom Königlich Sächsischen 9. Infanterieregiment 133. Einen von mehr als zwei Millionen deutschen Soldaten, die der Krieg am Ende verschlungen haben sollte.

Doch die Geschichte ist noch nicht zu Ende – und das Leid der Familie Fischer noch nicht vorbei. Der Krieg geht weiter, ins nächste und übernächste Jahr. Das Schlachtenglück wechselt ein ums andere Mal, alle Hoffnungen auf einen baldigen Frieden vergehen im Donnern der Geschütze. Der zweite Kriegswinter geht ins Land, dann der dritte, der als Steckrübenwinter 1916/17 in die Geschichte eingehen soll. Die Not der Menschen in Deutschland wird drückend. Es fehlt an allem, ob Essen, Heizmaterial oder Seife. Krankheiten und Unterernährung raffen die Menschen dahin, Alte, Kranke, Schwache und Kleinkinder sterben zuerst.

Im Oktober des vierten Kriegswinters, des Hungerwinters 1917, folgt Alberts Vater Ernst seinem Sohn ins Grab. Er wird nicht einmal 57 Jahre alt. War es der Kummer über den Tod seines Sohnes, der ihm den Lebenswillen geraubt hat? War es die Entbehrung der jahrelangen Mangelernährung? Die Hoffnungslosigkeit im Deutschen Reich, das Monat um Monat seine Söhne zu Hunderttausenden in den größten Fleischwolf aller Zeiten warf und trotz aller Opfer dem versprochenen Sieg weiter entfernt schien als je?

Der schwarze Stein auf dem Südfriedhof erhält einen weiteren Namen eingemeißelt: Ein zweiter Fischer war lange vor seiner Zeit gestorben. Die Verzweiflung der Witwe, die erst das Kind und nun den Mann zu Grabe tragen muss, ist förmlich in den Stein eingepresst. Alberts „lieber, treusorgender Vater, mein teurer, herzensguter Mann“ sei gestorben, schreibt sie ihrem Gatten nach. „Mein ganzes Glück ist mit Euch gegangen. Auf Wiedersehn!“ Anna Fischer hat alles verloren, was ihr lieb ist. Sie ist alleine, und das in einer furchtbaren Zeit.

Doch die Geschichte des Grabsteins ist noch nicht vorbei – noch lange nicht. Das Schicksal will es nämlich, dass die 50 Jahre alte Witwe ihren Sohn und ihren Gatten trotz der Entbehrungen und Katastrophen, die folgen werden, nicht nur um einige wenige Jahre überleben wird. In Zeiten, in denen unzählige Menschen in Deutschland an Krankheiten, Hunger und Verzweiflung starben, überlebt sie – am Ende fast noch einmal um dieselbe Zeitspanne. Sie übersteht das letzte, furchtbare Kriegsjahr und die chaotische Zeit danach. Den Zusammenbruch des Staates und der Wirtschaft, die Inflation und alle Werteverluste. Die Weimarer Jahre, die Weltwirtschaftskrise, die Nazizeit. Den nächsten, den Zweiten Weltkrieg, der fast sechs Jahre dauern wird und damit noch länger als der Erste. Und sie überlebt die erneuten Hungerjahre danach.

Ob sie das wohl als Segen empfunden hat? Geheiratet hat sie nie wieder, von anderen Kindern oder gar Enkeln erzählt der Grabstein nichts. Selbst ihre Schwester Martha, zehn Jahre jünger als sie, stirbt noch sechs Jahre vor ihr: einen dritten Namen muss Anna Fischer in den Grabstein einarbeiten lassen. Ganz unten diesmal, damit noch Platz bleibt für sie selbst.

Erst 46 Jahre nach ihrem Sohn und 44 Jahre nach ihrem Mann, im hohen Alter von 94 Jahren, findet Anna Fischer im Jahr 1961 ebenfalls die letzte Ruhe. Und in den schwarzen Stein auf dem Südfriedhof wird, fast ein halben Jahrhundert, nachdem er an dieser Stelle aufgerichtet wurde, zum vierten und letztes Mal ein Name in goldenen Buchstaben eingemeißelt. Der Stein hat die Geschichte der Familie Fischer zu Ende erzählt.