An Hill und Ternell

Verlässt man Eupen über die Monschauer Straße in Richtung Südosten, droht erst einmal ein gefürchtetes Hindernis: der legendäre Highway to Hell, die steil durch einen Wald ins Hohe Venn hinaufführende Betonbuckelpiste der N67. Angeblich eines der schlechtesten Straßenstücke Belgiens (und der Kenner weiß, was das bedeutet). Die Stoßdämpfer des eigenen Kraftfahrzeugs werden hart gefordert – das Schild „Let’s shake forever“ am Waldrand verspricht nicht zu wenig. Doch die Mühe wird belohnt.

Die Strecke führt nämlich nicht nur in das herrliche Brackvenn im Niemandsland vor der deutschen Grenze, wo ich schon diverse Male mit der Kamera unterwegs war (hier, hier, hier und hier etwa).

Knapp zweieinhalb Kilometer vor dem Parkplatz Nahtsief liegt – noch mitten im Wald – außerdem das Naturzentrum Ternell, wo es nicht nur allerlei Wissenswertes über das Leben und Gedeihen von Pilzen, Libellen und anderem örtlichen Gefleuch zu erfahren gibt, sondern auch eine weitere, wunderbare Perle des Dreiländerecks zu entdecken gibt.

Südlich der Nationalstraße geht es vom Parkplatz am Haus zunächst ein Stück Asphaltweg hinab, bis man an den Wildbach Ternell (im Bild ganz oben zu sehen) überquert. Noch etwas weiter steht man dann vor dem ungleich größeren Flüsschen Hill, das hier vom Venn hinunter in Richtung Eupen fließt.

Aber was heißt hier fließt? Es schäumt und spritzt, gurgelt und gluckert, dass man sich gar nicht sattsehen und -hören kann. Wer hätte gedacht, dass es ein paar Kilometer von Aachen entfernt so ein heimatfilmmäßig rauschendes Waldwildbächlein gibt? Als wären wir irgendwo im Bergland. Und es stimmt, was man sagt: Die Hill hat eine ganz einzigartige Färbung. Schwarzrotbraun wie – nein, nicht Heinos Haselnuss, eher wie Coca-Cola.

Gut, man muss feste Schühchen mitbringen. Vor allem das letzte Stück Weg, von der Hill an der Ternell wieder aufwärts zur Straße, ist doch etwas anstrengend. Teilweise bilden die Baumwurzeln eine Art pittoreskes Stolpernetz auf dem Boden. Aber was tut man nicht alles, um eine Perle zu erobern?

Noch ein Wort zur Ausrüstung: Die Fotos entstanden mit dem frisch gekauften Zeiss Ultron (siehe: „Der einsame Ikarus: Das Zeiss Ultron 1.8 50„). Und jetzt ist es klar: Das Ding ist jeden der vielen, vielen Cents wert, die man dafür auf den Tisch legen muss. Was für eine Schärfe, was für ein traumhaft schöner Hintergrund, was für Farben, was für Kontraste! Alles leuchtet, alles lebt.

Und die berühmte Schärfe ist einfach umwerfend. Das Ultron ersetzt ein Zoom-Objektiv: Es ist tatsächlich dermaßen scharf, dass man beim Bearbeiten der Fotos unbesorgt beschneiden kann. Das übrig bleibende Motiv bleibt immer scharf.

Das Ultron schlägt in punkto Bildqualität alles, was in meinen Vitrinen steht. Allerhöchsten Respekt für Konstrukteur Albrecht Tronnier und seinen Ikarus von 1968.

Auf der Straße

Sony A7II mit Carl Zeiss Jena Biotar 2 58, 30s, ca. F11, ISO 100
Sony A7II mit Carl Zeiss Jena Biotar 2 58, 30s, ca. F11, ISO 100

Blick aus dem Zimmer meines Hotels. Remscheid, Bismarckstraße.

Es war ein Freitag, an den ich mich wohl bis an mein Lebensende erinnern werde. Ein Freitag, der damit begann, dass wir auf dem Aachener Westfriedhof eine Freundin zu Grabe trugen. Danach Redaktionsalltag, gefolgt von anderthalb Stunden Hetzen über die Autobahn. Abends die Hochzeitsfeier meines Cousins in Remscheid. Die volle Breitseite an Emotionen, gepackt in nicht mal ein Dutzend Stunden.

Ein Tag, der in Trauer begann und in Freude endete – was sicher besser war als andersherum. Als er vorbei war, als ich aus dem achten Stock des MK Hotels am Hauptbahnhof auf die von Straßenlaternen beleuchteten Windungen des Asphalts weiter unten schaute, kam mir wieder einmal der Gedanke, dass das ganze Leben nur eine Straße ist. Als kleines Kind fahren in irgendeinem Wohngebiet auf, wir wechseln das Kettcar gegen ein Fahrrad, wir fahren zusammen mit Freunden, wir biegen an dieser und jener Kreuzung ab, neue Städte, die Straße wird breiter, mehrspurig, irgendwann sitzen wir in einem Auto, vielleicht finden wir jemanden, der eine Weile mit uns mitfährt. Dann wird schließlich die Autobahn des Lebens wieder zu einer einspurigen Straße, die Verkehrsmittel werden bescheidener, die Zahl der neben uns fahrenden Freunde kleiner, die Weggabelungen immer weniger und am Schluss wandern wir alleine auf einem schmalen Pfad. Was wartet am Ende? Ein Krankenhaus? Ein Heim? Ein Haus voller Kinder? Vielleicht eine Parkbank mit schöner Aussicht aufs Tal?

Wir wissen es nicht. Wir sehen nur, dass einige Straßen kürzer sind als andere. Und hoffen, dass die Menschen, die wir lieben, noch etwas länger unterwegs sein dürfen.

Nachts im Venn

Sony A7 II mit Meyer Optik Primagon 4.5 35, F8, 2s, ISO 400
Sony A7 II mit Meyer Optik Primagon 4.5 35, F8, 2s, ISO 400

Zuerst hatte ich mich noch geärgert, dass ich die Blaue Stunde verpasst hatte. Eine gute halbe Stunde danach war ich froh für die Gelegenheit, das Venn – wieder einmal – ganz neu erleben zu können.

Der einsame Ikarus: Das Zeiss Ultron 1.8 50

Großartig ist es, Opas komplette Fotoausrüstung, bestehend aus einer Zeiss Ikon Icarex 35S, dem legendären Zeiss Ultron 1.8 50, je einem Skoparex 3.4 35 und einem Super Dynarex 4 135, zwei Deckeln, einer seltenen Original-Sonnenblende, gleich zwei (!) passenden Fotokoffertaschen, Blitz, Objektivbox und reichlich Papierkram für einen weiß Gott nicht geschenkten, aber fairen Preis kaufen zu können.

Dumm ist es, am Tag vorher ein Zeiss Ultron 1.8 50 alleine für so ziemlich den selben Preis geebayt zu haben. Habe ich also gerade zwei Exemplare der superedlen Linse. Zum Glück auch ein Widerrufsrecht im zweiten Fall…

Bleibt die Frage: Was will er mit dem alten Plunder?

Für die Antwort muss man etwas ausholen. Die Spiegelreflexkamera Icarex 35 war einer der letzten Nägel zum Sarg der westdeutschen Fotoindustrie. Im Jahr 1966 vorgestellt, war sie die fünfte eigenständige Kameraklasse im Zeiss-/Voigtländer-Konzern und mit ihrem eigens entwickelten BM-Bajonett inkompatibel zu allen anderen Kamerasystemen der Welt. Objektivbrennweiten gab es in den ersten Jahren stolze drei Stück: Zum einfachen Dreilinser Pantar 2.8 50 und dem klassischen Tessar 2.8 50 kam noch ein – für die eher schwache Lichtstärke arg teures – Porträtobjektiv Dynarex 3.4 90 und schließlich das Tele Super Dynarex 4 135. Alles ziemlich biedere Konstruktionen, seit den 50er-Jahren bekannt aus der Bessamatic-Serie der Firma Voigtländer (die Zeiss 1956 übernommen hatte und 1971 an Rollei weiterverkaufen sollte). Dabei blieb es zunächst auch schon.

Die Kameras selbst waren schwere, unelegante und komplizierte „Zeiss-Briketts“, mechanisch von höchster Wertigkeit, aber technisch in jedem Jahr ein Stück weiter von den Japanern abgehängt, die in diesen Jahren ein aufregendes Modell nach dem anderen auf den Markt warfen. Bei Zeiss dagegen diktierte ein schwerfälliges Management, dass die Icarex in ihrer Ausstattung gefälligst einen deutlichen Abstand zum Flaggschiff Contarex einzuhalten haben, dessen Verkaufskurve aber stramm nach Süden zeigte. So musste die Icarex etwa ohne die längst übliche TTL-Belichtungsmessung auskommen. Die Käufer wechselten da lieber zu Pentax, Nikon & Co. – wer sollte bitte diese seltsame Icarex kaufen?

Erst nach zwei (!) Jahren schob Zeiss widerwillig eine Handvoll weiterer Brennweiten nach: Erstmals ein – arg gemäßigtes – Weitwinkel, das Skoparex 3.4 35, das längere Tele Super Dynarex 4 200, das Telomar 4 500 und – das immerhin war tatsächlich ein Schmankerl – das seinerzeit erste Zoomobjektiv, das 2.8 36-82 Zoomar. Alle diese Linsen waren ebenfalls über ein Jahrzehnt alte Bessamatic-Konstruktionen und leistungsmäßig längst in die Mittelklasse durchgereicht worden.

Die Objektivfamilie war damit zwar endlich halbwegs vollständig, große Magnetwirkung dürfte sie nicht erzeugt haben. Der ostdeutsche Bruder Carl Zeiss Jena hatte längst spektakuläre 20- und 25-Millimeter-Weitwinkel im Angebot, im fernen Osten lockte Pentax mit einem 35-Millimeter mit der immens hohen Lichtstärke 2.0. Die Icarex – und mit ihr die Kameraproduktion der einst so stolzen Marke Zeiss Ikon – ging denn auch nach gerade einmal sechs Jahren 1972 sang- und klanglos unter, ein letzter Versuch in Form der Spiegelreflexkamera SL 706 scheiterte kläglich.

Es gibt eigentlich heute kaum einen Grund, sich noch für diesen traurigen Ikarus der Fotografie zu interessieren, der nie der Sonne nah genug kam, als dass seine Flügel hätten schmelzen können, wie es Frank Mechelhoff auf seiner sehr empfehlenswerten Seite www.klassik-cameras.de schreibt, von der ich einen Großteil dieser Informationen habe.

Wäre da nicht das Ultron.

Das Ultron 1.8 50 ragt nicht nur aus der kleinen Familie der braven Icarex-Durchschnittslinsen heraus wie ein Leuchtturm aus einem Campingplatz. Es schlägt auch mühelos so ziemlich alles, was zu seiner Zeit und in folgenden Jahren – und nach der Meinung vieler Verehrer bis heute – an 50-Millimeter-Objektiven gebaut wurde. Das 1968 von Albrecht Tronnier noch für Voigtländer neu gerechnete lichtstarke Standardobjektiv ist technisch in einer Hinsicht nahezu einzigartig: Es hat eine Frontlinse, die nicht wie üblich konvex gewölbt, sondern konkav geformt ist. Angeblich steckte dahinter eine Wette Tronniers, der beweisen wollte, dass es auch mal andersherum ging.

Das Ergebnis beeindruckt bis heute. Das Ultron liefert bereits offen eine gestochene Schärfe, höchsten Kontrast und, trotz seiner nur fünf Blendenlamellen, ein einzigartig cremiges Bokeh. Einzigartiger „Pop“ und Dreidimensionalität werden seinen Bildern nachgesagt. Die Schärfeleistung ließ damals die versammelte Konkurrenz alt aussehen: „Bei f/4 übertrifft dieses Objektiv die maximale Bildleistung von nahezu jedem anderen getesteten Objektiv dieses Typs“, hieß es in einem Test der Zeitschrift „Popular Photography“ von 1969.

Das einsame Ultron ist immer noch: ein Leuchtfeuer. So schreibt etwa Walter Owens auf vintage-camera-lenses.com: „It performs much better than all other 50mm prime lenses and always delivers outstanding image sharpness combined with an outstanding bokeh. I therefore think this is one of the best 50mm prime lenses that you can get.“ Etliche Fotografen auch in meinem Bekanntenkreis schwärmen, das Ultron sei ihre liebste 50er-Linse überhaupt.

Jetzt stehen gleich zwei davon auf meinem Tisch, eine wird wieder gehen müssen. Ausprobieren kann ich keine davon, der Adapter für meine A7 ist noch auf dem Weg von Hongkong hierher. Sie sind überraschend schwer, wenn man sie in die Hand nimmt: Die massive, extrem hochwertige Metallfassung scheint innerlich nur aus Glas zu bestehen. Fokus- und Blendenring gleiten geradezu durch die Fassungen. Sie sind wohl die am besten verarbeiteten Objektive, die ich habe. So passen sie gut zur Ikarex, die bei allem kantigen Altherrendesign eine Solidität und Wertigkeit verströmt, wie sie zu einem Mercedes der /8er-Serie passen würde, die damals ebenfalls neu auf den Markt kam. Ein Schmuckstück von eigenwilliger Ästhetik.

Geplatzte Träume umweht etwas Tragisches. Auch das großartige Ultron hat Icarex und Zeiss Ikon nicht retten können. Das einsame Edel-Objektiv fiel in die Ära des Schwanengesanges der westdeutschen Kameraindustrie. Zeiss Ikon/Voigtländer stellte den Kamerabau noch 1972 komplett ein, Leica ließ längst in Portugal bauen, Rollei verlagerte 1975 seine Produktion in die übergroße neue Fabrik in Singapur (deren Überkapazitäten dem Unternehmen bald das Genick brechen sollten). Seltsamerweise hatte Rollei 1970 von Zeiss für die neue SL35-Kamera noch ein neues, ebenfalls sehr hochwertiges 1.8 50 Planar entwickelt bekommen, dass parallel ebenfalls unter dem Label Voigtländer Color-Ultron produziert wurde, aber nichts mit dem Ikarex-Ultron zu tun hat. Angeblich war das gerade erst zwei Jahre alte Icarex-Ultron von Tronnier zu teuer in der Herstellung.

So endete die Karriere des Wunderkindes nach gerade einmal vier Jahren. Trotzdem ist das Icarex-Ultron zur Legende geworden, die bis heute fasziniert. Dank spiegelloser Kameratechnik lässt sich inzwischen digital die Leistung der nächstes Jahr 50 Jahre alt werdenden Konstruktion bewundern. Nach fast einem halben Jahrhundert hat Ikarus doch noch vom Erdboden abgehoben.

Die Stadttwittererin

Sie das Herz und die Seele der Aachener Twitterszene zu nennen, ist keine Übertreibung. Sabine Nowak alias @missmarple76 war @wirlebenac, sie war ungezählte Burger-, Pizza-, Schnitzel– und sonstige Testessen Aachen und sie war der ebenso grandios komische wie historisch fundierte @Karl_derGrosse, der als Knochengerippe das Aachener Tagesgeschehen kommentierte, vom traditionellen Öcher Regen bis jüngst zur Durchfahrt der Tour de France.

Außerhalb von Twitter war sie der Gastroführer Aachen geht essen und gerade im Begriff, www.schlemmerbumms.de zu werden, was immer das auch sein sollte – sie wusste es anfangs selbst noch nicht genau, aber die Webadresse war zu schön, um sie nicht zu konnektieren. Und wahrscheinlich war sie noch ein paar Dutzend weitere Grundpfeiler im digitalen Weichbild Aachens, die mir gerade nicht in den Sinn kommen.

Nicht viele Menschen haben die Identität der Kaiserstadt im Internet so geprägt wie die Germanistin und gelernte Buchhändlerin Sabine Nowak. Zweimal hatte ich die Ehre, ihr Herzensprojekt Wirleben.ac jeweils eine Woche lang mit meiner persönlichen Sicht auf Aachen bespielen zu dürfen, im April 2013, und – das mit der Ehre meine ich ernst – als letzter Kurator des dritten Jahres, im August 2016. Voller Begeisterung hatte ich Wirleben.ac damals in Aachener Zeitung und Aachener Nachrichten der nicht-twitternden Zeitungsleserschaft vorgestellt.

Über Jahre hat Sabine mit ihren Testessen-Treffen die lokale Internetszene zusammengeführt. Wenn sie eine Doodle-Liste für ein #teAC ins Netz stellte, führte das einige Wochen später dazu, dass Menschen ihr Essen in Restaurants fotografierten, die sie normalerweise nie einer Bestellung gewürdigt hätten. Freundschaften wurden geschlossen, Beziehungen entstanden, „Folgen“-Links wurden geklickt, Privatnachrichten und Handynummern ausgetauscht. Lebenswege änderten sich durch sie. Ihre Twitterstatistik weist seit ihrem ersten Tweet im Jahre 2009 rund 37.000 Beiträge auf – man kann wohl sagen, dass sie in ihrem geliebten Aachen wohnte, aber auf Twitter lebte.

In dem, was weniger digital-affine Menschen das „reale Leben“ nennen, trug Sabines Organisationstalent ihr den Spitznamen „Entenmama“ ein, was im Grunde mehr über die Küken aussagt als über deren Anführerin. Sabine war die, die machte. Die fragte, telefonierte, buchte und einlud. Als „Ordnende Hand und Projekt-Mama vom Dienst“ beschrieb sie selbst ihre Rolle auf ihrem Xing-Profil. Ohne sie hätte es die Testessen-Runde nicht gegeben. Dass nebenbei ein paar Restaurants auf der Strecke blieben, genauer gesagt: zufällig nur kurze Zeit nach einem #teAC-Treffen den Betrieb einstellten, wurde zum Running Gag. Leider ist nie etwas aus der Idee geworden, von örtlichen Gastronomen für einen Nicht-Besuch Geld zu kassieren. Wie viele Burger hätte man davon – aber lassen wir das.

Am Dienstag hat Sabine völlig überraschend alle irdischen Accounts schließen müssen. Vor ein paar Tagen erst hatte ich ihr noch zum Geburtstag gratuliert – es müsste der 41. gewesen sein, wenn sie ihrer Umwelt mit ihrem Twitternamen nicht einen Scherz gespielt hat (war ihr zuzutrauen gewesen wäre!). Und erst vor ein paar Wochen haben wir in netter Runde beim Twittagessen im Café Orient Expresso am Templergraben gesessen. Es sollte das letzte Treffen gewesen sein.

Auf Twitter breiteten sich in den Stunden nach Bekanntwerden der Nachricht von ihrem Tod Schockwellen der Fassungslosigkeit aus. Fast vier Jahre lang hat @wirlebenAC mit wohl mehr als 100 Kuratoren das Geschehen in der Stadt auf einzigartig vielfältige Weise begleitet, hat @Karl_derGrosse es auf seine ganz spezielle Weise aus 1200 Jahren Distanz kommentiert. Es ist ein bitterer Zufall, dass der letzte Eintrag auf Schlemmerbumms.de ausgerechnet ein Rezept für Aachener Beerdigungsfladen wurde.

Aachens vielleicht scharfsinnigste Stimme im schnellsten Sozialen Netzwerk der Welt schweigt. Noch kann niemand ahnen, wie sehr sie uns von nun an fehlen wird. Welche Bonmots nicht mehr verfasst, was für Pointen nicht mehr gesetzt, welche Restaurants nicht mehr von hungrigen Horden mit Smartphones heimgesucht werden. Wir ahnen nur: Aachen hat eine große Frau verloren. Gäbe es die Position einer Stadttwittererin, sie hätte sie ausgefüllt, mit Tiefgang, Humor und Bravour.

Lebe wohl, Sabine. Und: danke. Für alle Tweets, für alle Burger, für Karl und den ganzen Rest. Wir sind unendlich traurig.

Primadonna Primagon

Zu den schönsten Nebensächlichkeiten beim Sammeln der alten Objektve gehören die Namen. Und niemand benannte Objektive so schön und fantasievoll wie die altehrwürdige Görlitzer Linsenschmiede Meyer Optik. Zum Beispiel das Helioplan: War das nicht der griechische Gott der Überbelichtung? Domiplan und Domiron: die antiken Helden der In-Haus-Fotografie. Und dann das mächtige Geschlecht der Orestonen: Orestor, Oreston, Orestegor und Orestegon. Objektivnamen wie Donnerhall, da ahnt man die bildgewaltige Dramatik der damit gemachten Fotos schon, bevor man sie auch nur an die Kamera geschraubt hat.

Doch am schönsten klingen die P-Liner (Segelschiff-Fans verstehen die Anspielung). Carl Zeiss hatte Planar und Pancolar, doch Meyer hatte mehr. Da sind erst einmal die Primotare, Allzweckwaffen mit 50, 80, 135 und 180 Millimeter Brennweite. Dann natürlich die legendären Primoplane – Wunderlinsen mit eingebauten Aquarellhintergrund in 58 und 75 Millimeter Brennweite.

Und dann gab es das Primagon. Kein Wunderwerk, aber ein solides, erschwingliches Alltags-Weitwinkel für den Hobbyfotografen der späten 50er Jahre. Man darf nicht vergessen: Die heute ziemlich unspektakulären 35 Millimeter Brennweite galten damals als die Spitze des absolut technisch Machbaren, sie hatten gerade erst die 40 Millimeter des Tessars 4.5 40 von Zeiss und des ähnlichen Helioplans von Meyer abgelöst. Carl Zeiss war 1953 mit der ersten Generation des Flektogons 2.8 35 vorausgegangen – eine mit sechs Linsen in sechs Gruppen überaus aufwändige und entsprechend teure Konstruktion (die auch heute noch exzellente Schärfe und Kontrast liefern kann).

Meyer zog nach und präsentierte auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1956 das Weitwinkelobjektiv Primagon 4.5 35 mm, ausgerichtet auf ein preisbewussteres Kundenklientel. Den Ingenieuren gelang es, das Grundobjektiv aus nur drei Linsen aufzubauen, davor setzten sie noch eine große Zerstreuungslinse. Das ließ sich günstig produzieren und brachte – bei der nicht gerade überwältigenden weitesten Blende von 4.5 – erstaunlich gute Bildergebnisse. Denn: „(…) zwischen tiefem Blau und mittlerem Rot ist das Objektiv frei von chromatischer Aberration. Mit diesen Eigenschaften würden Werbestrategen einem solchen Objektiv heute das Attribut „Apo“ anhängen“, schreibt Marco Kröger auf der sehr lesenswerten Webseite Zeiss Ikon VEB.

Sagen wir es kurz: Für Indoor- und Available-Light-Fotografie, für Straßenszenen im Dämmerlicht und Partyfotografie ist das Primagon nicht wirklich etwas. Im Hellen produziert es dagegen Bilder, die sich immer noch sehen lassen können. Marco Kröger schreibt: „Es handelt sich auch nach heutigen Maßstäben um ein erstaunlich leistungsfähiges gemäßigtes Weitwinkelobjektiv, das sein Gütezechen damals nicht unverdient erhalten hat.“ Das Primagon wurde seinerzeit mit dem Qualitätssiegel Q1 ausgezeichnet, mit dem die DDR Produkte von Weltmarktniveau („oder besser“) kennzeichnete. Mit mancher heutigen Zoom-Kit-Linse könne es der Oldtimer durchaus aufnehmen, meint Altobjektiv-Experte „praktinafan“ im Digicamclub-Forum.

Heute brachte mir der Postbote ein solches Spitzenprodukt volkseigener Optikerzeugnisse. In blau-weißer Meyer-Originalschachtel, mit beiden Kappen. Es glänzt wie unbenutzt – es ist nach den Varianten mit Exa- und Altix-Bajonett mein drittes Primagon und das schönste.

Ganz einfach zu handhaben dürfte der Silberling nicht sein. Die schwache Lichtstärke ist bei allen anderen als guten Lichtverhältnissen so etwas wie ein eingebauter Unschärfegenerator. Und die exponierte übergroße Frontlinse dürfte trotz des roten „V“-Zeichens zur Kennzeichnung der Glasvergütung neben dem Licht auch die ungewollten Streulichteffekte wie Ghosts und Flares sammeln. Das Primagon ist wohl eine ganz schöne Primadonna, die in eine Gegenlichtblende gehüllt sein will, um strahlen zu können. Sie soll sie bekommen, in bestem zeitgenössischen Bakelit natürlich. Damit hoffe ich dann auf Bilder in typischem Meyer-Stil, mit weichem Hintergrund und schönen warmen Farben, nicht zuletzt dank der Blende mit zehn Lamellenblättern. Zeige sie uns, was sie kann, Primadonna!

Ach ja: Abgelöst wurde das Primagon im Jahre 1964 von dem Objektiv mit dem wohl schönsten Namen überhaupt – Lydith 3.5 30. Lydith – war das nicht diese hübsche junge Frau aus dem Alten Testament, die den obersten General des feindlichen Heeres beim Baden fotografierte?