Der morbide Charme des Morbiden

Die ersten Januartage sind keine fröhliche Zeit. Der Himmel wolkengrau, das Wetter nasskalt, die Tage kurz, die Stimmung neigt zu Melancholie. Es ist eine Zeit, schon lange vorgenommene Dinge zu erledigen, To-Do-Listen abzuarbeiten und sich das schlechte Gewissen wenigstens partiell zu erleichtern.

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Schweigend stehen die Leichen auf dem Werkstatthof, teils ausgeschlachtet, teils mit den Innereien anderer Schrottopfer ausgestopft, einige bereits aufgebahrt und bereit zu ihrer allerletzten Reise. Während meine C-Klasse im Hintergrund auf die Hebebühne wartet, streife ich zwischen den tristen Hüllen herum und lasse mich anstecken vom morbiden Charme des Morbiden.

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Ein unverhofftes Wiedersehen mit einem alten Bekannten – dem Smileymännchen „Mr Happy“ aus der „Glasgow’s Miles Better“-Kampagne, mit der die heruntergekommene schottische Industriemetropole in den 80er-Jahren ihr Image erfolgreich aufzumöbeln begann. Als ich die Stadt 1992 zum ersten Mal mit Interrail besuchte, war der Slogan noch häufig zu sehen, obwohl die Nachfolgekampagne „Glasgow’s Alive“ schon seit längerem lief.

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„Alive“ – das ist überhaupt das Stichwort für viele der vor sich hin träumenden Ruinen. Mutter Natur haucht den aus dem Verkehr Verschiedenen auf ihre Weise neues Leben ein, so wie diesem Opel Kadett.

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Und so sprießt es still und hoffnungsfroh an mancher verborgenen Stelle…

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…oder ganz offen, dem winterlichen Himmel entgegen.

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Doch auch, wo noch nichts oder nichts mehr wächst, nimmt das Schicksal seinen Lauf. Alles fließt, sagten die alten Griechen. Manchmal blättert und bröselt es auch. Ich fühle mich an die vergessenen und zerfallenden Eisenbahnwagen hinter dem Geisterbahnhof von Canfranc erinnert.

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Und die Schwerkraft tut das Ihrige, wenn Stahl zu Staub wird.

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Auch wenn das Reifenprofil noch gut ausschauen mag: Ungewohnte Einblicke entstehen, wo der Zahn der Zeit seine Bissspuren hinterlassen hat, wie am vorderen Radlauf dieses alten W123ers.

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Scheußlich auch dieser Schaden, dessen Reparatur offenbar niemand für nötig – halt, das ist ja meine C-Klasse. Was mich daran erinnert, weshalb wir hier bei Dirk sind: Am treuen Flocki ist nach fast zwei Jahren und 60.000 Kilometern mal wieder das eine oder andere zu erledigen.

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Das größte Unwohlsein bereiten mir die vorderen Federbeinaufnahmen, die als Blechteile in Form umgedrehter Müslischüsseln ans Radhaus angeschweißt sind. Bricht eine davon ab, so wie es vor fast zwei Jahren auf der Fahrerseite passiert ist, ist die aus dem Wagen herausfallende Feder Anlass genug, sich von dem Fahrzeug zu trennen.

Das möchte ich gerne vermeiden, allein, was lässt sich dagegen tun? Eine Verstärkung einschweißen: eine Abstützung, um die Federbeinaufnahme zu entlasten. Im oberen Bild sind bereits die Stellen blankpoliert, an denen die Strebe angeschweißt werden soll.

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Dirk fertigt aus zwei Stücken Rohr (Wandstärke 2-3 Millimeter, also überaus solide) solche Stützen an. An den Enden abgeflacht und entsprechend abgewinkelt, passen sie genau zwischen Radhaus und Federbeinaufnahme.

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Während des Anschweißens habe ich das seltene Vergnügen, als Brandwache im Motorraum meines Fahrzeugs die Flammen auszupusten.

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Das Ergebnis überzeugt. Nach Grundierung und Lackierung werden die neuen Streben noch mit Fett gegen Wettereinflüsse geschützt. Das sollte eine Weile halten – mehr Stabilität dürfte da vorne kaum möglich sein.

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Und noch die eine oder andere Kleinigkeit ist zu flicken. An zwei Stellen werden abgebrochene Halterungen wieder an den Auspuff geschweißt, ins Differential wird neues, bernsteinfarbiges Öl gequetscht und die Hinterachse bekommt zwei neue Federn (auf der Beifahrerseite war ein mehrere Zentimeter langes Stück abgebrochen). Bei letzterer Aktion stellt sich allerdings heraus, dass der Mercedeshändler meines Vertrauens mir Gummipuffer für den W210 statt des W202 mitgegeben hat. Statt der neuen Gummis müssen also die alten wieder rein – arg ärgerlich, die ganze Ausbauprozedur müssen wir irgendwann nochmal wiederholen.

Und sogar der so schlimm zerschrammte Radlauf am Kotflügel vorne links – siehe Foto oben – wird provisorisch wieder ausgebeult und weiß gelackt, auf dass er noch den Winter über halte.

Eine kleine Wellnesspackung für ein Auto, das mir in den letzten anderthalb Jahren sehr ans Herz gewachsen ist, so problemlos und angenehm frisst es täglich brav seine Kilometer. Pro Arbeitstag immerhin mindestens 130 davon.

Es ist längst Nacht, als sich der Wagen und ich wieder auf den Weg nach Köln machen. Müde, aber zufrieden. Wieder etwas erledigt. Es soll halt noch ein paar Jahre dauern, bis Moos auf meinem Auto wächst.