Autobahngold

Der Wagen steht an der Autobahnabfahrt Eynatten, warnblinkend, in der Kurve, die hinauf zur Landstraße nach Aachen führt. Ein dunkler Kombi, offenbar liegengeblieben und mit letzter Kraft gerade noch von der Autobahn gerollt. Eine Frau mit Kopftuch ist ausgestiegen, ein Mann mit dunklem Teint winkt hilfesuchend. Es ist gegen 20.30 Uhr, ich habe nach Feierabend noch rasch am Autohof hinter der belgischen Grenze LPG getankt und beschleunige gerade auf die Zufahrt zur Autobahn. Kaum habe ich das gestrandete Pärchen wahrgenommen, bin ich auch schon an ihnen vorbei, man bremst ja aus voller Beschleunigung nicht ohne weiteres, zumal mit weiteren Autos im Rücken.Auf den folgenden Kilometern wächst das schlechte Gewissen mit jedem Meter: Hattest du nicht auch schon mal eine Panne? Wie lange wird so ein südländisches Pärchen mit Autopanne in dieser Gegend auf Hilfe warten müssen? Bis Aachen-Brand ist das schlechte Gewissen so stark geworden, dass ich mit innerem Seufzen abfahre und wieder umkehre. Der Kombi steht immer noch in der Abfahrt.Ich halte auf dem Seitenstreifen. Der Mann tritt ans Beifahrerfenster. Er sei liegengeblieben, mit leerem Tank und ohne Geld. Ob ich ihm etwas leihen könnte? Er schwört, es zurückzuüberweisen,faltet die Hände, Verzweiflung in der Stimme. Ich werfe einen Blick ins Portemonnaie – mehr als zehn Euro sind nicht drin. Er nimmt das Geld, dankt traurig. Weit wird ihn das nicht bringen. Wo er hin will? „To Paris.“ – „Good luck to you.“ Ich fahre wieder los.In der folgenden Dreiviertelstunde bis Köln legt das schlechte Gewissen erst so richtig los. Du hättest den armen Kerl wenigstens zur Tankstelle fahren können, schimpfe ich mit mir. Oder ihn besser gleich dahin abbeschleppt. Was soll er mit zehn Euro, wenn er sich davon erstmal einen Reservekanister kaufen muss? Man hätte unter den wartenden Autofahrern an der Tankstelle den Hut herumgehen lassen können. Wenn jeder fünf Euro gegeben hätte… wie weit ist es eigentlich nach Paris?

Zu Hause angekommen, erzähle ich von meinem Treffen mit dem ärmsten Autofahrer in ganz Belgien. Meine Freundin bleibt ungerührt. „Du weißt, dass das eine ganz gängige Betrugsmasche ist?“ Böses ahnend, werfe ich Google an. Schnell ist das Stichwort gefunden: „Autobahngold„. Ein verbreiteter Trick, vor allem in der Reisezeit. Die Betrüger – meist aus Osteuropa – simulieren eine Panne, winken mit leeren Kanistern oder Abschleppseilen, leihen sich von hilfreichen Autofahrern Bargeld und bieten als Pfand scheinbar wertvollen Goldschmuck, Lederjacken oder ähnliches. Die Ware ist reiner Tinnef, das geliehene Geld sieht der Geneppte nie wieder. Polizei und Medien warnen seit Jahren vor der Masche.

Kalte Ernüchterung. Ich rufe die Autobahnpolizei am Grenzübergang Lichtenbusch an. Ich sei da einem angeblich liegengebliebenen Pärchen begegnet… „Haben die Ihnen Gold angeboten?“, fragt der Beamte. „So weit sind wir nicht gekommen“, erwidere ich zerknirscht. Für meine zehn Euro gab’s ja nicht mal ein echtes Goldkettchen aus Messing. „Sobald die ihr Geld bekommen haben, sind die gleich über alle Berge“, erklärt der Polizist. Fahndung zwecklos.

Man hätte von selbst drauf kommen können. Wer nach Paris will, bleibt schließlich nicht auf der Strecke von Lüttich nach Aachen mit leerem Tank liegen.

Ich ärgere mich. Über meine Leichtgläubigkeit, über die zehn Euro, aber vor allem darüber, dass ich beim nächsten liegengebliebenen Auto mit dunkelhäutigem Fahrer und/oder Kopftuchfrau wohl noch weniger zum spontanen Hilfshalt geneigt sein werde. Womit das Betrügerpärchen dann noch mehr Opfer auf dem Kerbholz hätte.

Andererseits: Zehn Euro sind kein allzu hoher Preis für eine nachhaltige Lektion Lebenshilfe. So ein falsches Goldkettchen hätte ich trotzdem gerne gehabt – als Andenken. Ob ich es beim nächsten Mal mit 20 Euro versuche? 15! Letztes Wort!