Vom großen und vom kleinen Tod

Irgendwann ist der schmale Teerweg zu Ende. Dahinter geht es ein paar Meter über ein Feld, durch dessen zartgrüne Halme die Schatten der Rotorblätter eines Windrades flitzen an diesem sonnigen Herbstnachmittag. Ein paar Schritte die Böschung hinunter zu den Schienen. Den Einschnitt säumt auf jeder Seite ein Feld voll meterhoher Steinpyramiden. Schattig und still ist es hier unten. Doch so still war es nicht immer. Wir sind da, wo für Aachen der Zweite Weltkrieg endete.

14_Sperren_1024

Der Schotter klickt unter den Schritten, Züge fahren hier nicht mehr. Ein Stück weiter, neben dem Gleis: der Bunker. Ein „Gruppenunterstand ohne Kampfraum“, Teil des Westwalls, Hitlers letzter Auffanglinie, auf deutschem Boden schon. Mit ein paar Kubikmetern Stahlbeton wollte das untergehende Dritte Reich die heranwalzenden alliierten Armeen aufhalten.

69_Bunker_1024

Europa ist voll von solchen grauen Grüßen aus Deutschland. Dieser hatte die Aufgabe, die Bahnlinie nach Holland zu sichern. Doch allzu lange gekämpft wurde hier an der Westkante nicht: Schon im Oktober 1944 war für Aachen alles vorbei und der Alptraum vorüber. Im Rest des Reiches dagegen starben noch mehr als ein halbes Jahr lang die Menschen zu Hunderttausenden, weil der größte Führer aller Zeiten die Zeichen ebenjener nicht erkennen wollte.

Im Inneren ist es stockfinster. Nur ein, zwei Lichtstrahlen dringen durch Ritzen im geborstenen Beton.

75_Decke_1024

So unbedeutend dieses Überbleibsel der Geschichte heute auch wirken mag, es war offenbar wichtig genug, um nach Ende der Kampfhandlungen in die Unbrauchbarkeit gesprengt zu werden. Die Wucht der Explosion im Inneren hob die meterdicke Decke hoch und ließ die Außenwände auseinanderbrechen.

04_Boden_1024

Das Gewicht der herunterstürzenden Decke hat die Wände teilweise niedergerissen. Was noch an Innenraum geblieben ist, wird durch die Betontrümmer auf dem Boden zum niedrigen Höhlenlabyrinth. Die Füße ertasten sich einen Weg über die Geröllhügel, während der Kopf den Brocken ausweicht, die an den abgerissenen Stahlstangen von der Decke hängen. Deren leuchtendes Rostrot ist das einzig Farbige in all diesem Grau und Schwarz.

98_Tube_1024

Halt, es gibt doch noch ein paar andere bunte Tupfer. Vereinzelter Abfall der Moderne beweist, dass im Lauf der Jahrzehnte noch andere Neugierige den Weg in diese Kaverne gefunden haben. Hier eine Bierdose, da eine Tube – was ist das, Gleitcreme? Im Taschenlampenlicht entziffern die Augen mühsam Worte auf Niederländisch. Papierleim. Warum auch immer.

Keine Schautafel erklärt dem Besucher die Geschichte des Baus. Was hier passiert sein mag vor fast 70 Jahren, bleibt offen.

Der Verfall ist fast zu atmen. Für die Ewigkeit wurde nicht gebaut im Tausendjährigen Reich. Doch vom Grauen, von der Angst, die die hier ausharrenden Soldaten empfunden haben müssen, ist nichts mehr zu spüren. Der Bunker ist nur noch Baudenkmal. Der Lichtfleck der Taschenlampe gleitet über unzählige Schnaken, die sich an den Wänden niedergelassen haben. Was die Nazis errichtet haben, erobert nun die Natur.

10_Schaedel_1024

Das große Morden, mit dem der Bau dieses militärischen Objekts verbunden war, ist zur Geschichte eines anderen Jahrhunderts geworden. Heute geistert nur noch ein kleiner Tod durch die Ruine.

Es ist kalt. Schaudernd klettert der Besucher aus der Gruft ans Freie. Doch das Frösteln vergeht schnell in der warmen Sonne. Der Schotter knirscht. Kein Blick zurück.

Ist Orange das neue Grün?

Und dann waren da noch die Piraten. Kamen vor ein paar Jahren wie aus dem Nichts gesegelt, um bei den Wahlen reichlich Beute zu machen – und dann ebenso flott wieder ins Nichts abzutauchen, unter die Wasserlinie der politischen Wahrnehmung. Doch jetzt reiben sich die Beobachter wieder erstaunt die Augen: Für die Senatswahl in Berlin am Sonntag werden der Internetpartei bis zu 6,5 Prozent vorausgesagt. Damit käme kein Wahlgewinner an ihnen vorbei. Sind die Freibeuter dabei, im Handstreich den Platz der untergehenden FDP im Parteienspektrum zu entern? Ist ihr Orange das neue Gelb? Oder gar: das neue Grün?

Piraten, das liegt in der Natur ihres traditionsreichen Gewerbes, setzen gerne auf das Überraschungsmoment. Doch das war zuletzt verpufft. An ihre großen Kaperzüge aus der Zeit der „Zensursula“-Proteste gegen Ursula von der Leyens Internetsperren hatten die Netzpiraten nie wieder anknüpfen können. Statt die offene Seeschlacht mit dem politischen Gegner zu suchen, ging sich die Mannschaft lieber gegenseitig an die Gurgel. Streit auf der Kommandobrücke und Ärger mit dem Online-Abstimmungssystem Liquid Feedback prägten das Bild. Das Wasser, so der Eindruck, stand den Piraten bis zum Hals.

Woher also der plötzliche frische Wind in den Segeln? In ihrer gerade fünf Jahre kurzen Geschichte war die als jung, online-affin und unverbraucht wahrgenommene Truppe vor allem in großen Universitätsstädten erfolgreich (in Aachen schickte sie zuletzt einen Vertreter in den Stadtrat, einer ihrer größten Erfolge). Derart urbanes Ambiente bietet Berlin wie keine andere Stadt im Lande. In der globalen Internetszene hat die deutsche Hauptstadt den Ruf, ein besonders munter blubberndes Zentrum der digitalen Welt zu sein. Diese Klientel stört es auch nicht, wenn ihr Spitzenkandidat in einer Talkrunde beim Anpeilen des städtischen Schuldenstandes mal um mehrere Schiffslängen danebenzielt.

Denn: Auch Beschränkung ist eine Kunst. Es ist erklärtes (und nicht unsympathisches) Programm der Piraten, zu Themen keine offizielle Meinung zu haben, von denen die Kandidaten nichts verstehen. Oder: noch nichts verstehen. „Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal Klappe halten“ – diesen Satz von Dieter Nuhr würde man gerne auch bei all den anderen Politikern verinnerlicht sehen, die unter der Behinderung leiden, nicht an einem Mikrofon vorbeigehen zu können.

Zudem sieht die etablierte Konkurrenz in der Hauptstadt offenbar für viel größere Teile der Wählerschaft grau und verbraucht aus, als bisher angenommen. Was immerhin den Grünen die wohlige Bestätigung geben mag, endlich mitten im bürgerlichen Hafenbecken vor Anker gegangen zu sein. Und sind sie, die Grünen, nicht auch ihrerzeit als Ein-Themen-Partei vom Stapel gelaufen? Was in den 80er-Jahren die Umwelt war, ist heute das Netz: von dunklen Mächten bedroht, gefühlte Heimat für Viele und von den Altparteien ignoriert. Ahoi da drüben, wir sind jetzt die Rebellen.

Doch zur Volkspartei mit eigenem Ministerpräsidenten ist es noch ein gutes Stück zu segeln – und die sturmzerzausten Piraten haben in den letzten Monaten reichlich Pulver verschossen. Wenn sie aber am Sonntag ihre Flagge im Berliner Senat hissen können, sind sie wieder auf Kurs. Zumindest als Regionalpartei hätten sie sich damit erst einmal etabliert. Und die Parteienlandschaft wäre um eine weitere Farbe bunter. Wer das bedauert, dem bleibt zumindest der Trost: Orange ist allemal schöner als Braun.

Mit einem Wisch ist alles App

Es gibt diese Dinge, die braucht kein Mensch. So ein iPad zum Beispiel. Zum ernsthaften Texteschreiben taugt es kaum, für Bildbearbeitung schon mal gar nicht. Als MP3-Player ist es zu sperrig, als Fernseher zu winzig, die Speicherkapazität ist zu gering, die Kamera ein Witz und telefonieren kann man damit auch nicht richtig. Es ist zu klein, zu groß und zu teuer sowieso. Ich habe schon einen Desktop-Rechner, ein Notebook, ein Netbook und ein iPhone. Warum um alles in der Welt will ich auf einmal unbedingt ein iPad haben? Womit wir beim neuen Magazin „Wired“ wären.

Die „Wired“ ist in den USA seit fast zwei Jahrzehnten das amtliche Pflichtblatt für alle Geeks, also die fröhlichen Technikbejaher (und von seiner deutschen Erstausgabe, die seit Donnerstag in den Kiosken liegt, lernen wir, dass der Geek im Englischen das positive Gegenstück zum eher eigenbrötlerischen Nerd ist). Ehrensache, dass ich gleich morgens um 8 Uhr in der Aachener Bahnhofsbuchhandlung stand, um einen der in Folie eingeschweißten Erstlinge ergattern zu können. (Okay, außerdem hatte ich um diese Zeit noch einen Termin bei der benachbarten Bürgerberatung.)

Die echten Fans sind nicht einmal dadurch abzuschrecken, dass sie den knallgelben 130-Seiter im Doppelpack mit dem Herren Männermagazin „GQ“ erwerben müssen. Auf Twitter hatten sie vorher schon gewitzelt, dass der Satz „Will jemand die neue GQ haben?“ am Donnerstag der meistgeschriebene im Netz sein würde.

Um’s kurz zu machen, die erste deutsche „Wired“ ist ein wunderbares Blatt geworden. Chefredakteur und Blogger Thomas Knüwer („Indiskretion Ehrensache„) hat dafür fast alles aufgeboten, das im deutschsprachigen Netz Rang und Namen hat: Mario Sixtus, Markus Beckedahl, Anke Gröner, Richard Gutjahr, Thomas Wiegold, und, und. Zusammen haben sie eine tolle Ausgabe geschaffen. Sie ist bunt, sie ist abwechslungsreich, sie macht Lust aufs Lesen. Da werden in der Rubrik „Fetisch“ Putzroboter getestet. Kult-Autor Jeff Jarvis stellt Johannes Gutenberg als den ersten Geek der Geschichte vor. Der Leser wird in die schlüpfrige Welt des Sexkontakt-Netzwerks Badoo geführt. Ich habe gelacht über das Foto von Darth Vader im Urlaub mit schwarzem Surfbrett, gestaunt über die retro-futuristischen Innenansichten des Atomkraftwerks Leibstadt und mich verloren in den unzähligen Details der „Sim-City“-artigen doppelseitigen Grafik eines Oktoberfest-Zelts. Eine Reportage beginnt sogar in der FH Aachen, wo über die Zukunft des Individualverkehrs nachgedacht wird. Kurz, die „Wired“ ist ein Blatt, das dem Couchtisch eines jeden Netizens zur Zierde gereicht. Sie ist so modern wie ein gedrucktes Magazin nur sein kann.

Und sie ist: veraltet.

Denn dann ist da noch die „Wired“-App für das iPad.

Wired1_800

Die kostet schlanke 2,99 Euro (Heft: 5 Euro) und ist mächtige 633 MB groß. Ist der Download endlich zu Ende, beginnt das Wunder (für das es sich übrigens lohnt, die WiFi-Funktion des iPad anzulassen). Alles, was das Heft kann, kann die App besser. Die große Weltkarte des organisierten Verbrechens ist interaktiv, die Ströme der Schmuggelwaren von Cosa Nostra und Yakuza lassen sich zwecks besserer Übersicht einzeln aufrufen. Auf dem Bild von Schnaps-Pionier Ulf Stahl blubbert es lustig im Reagenzglas. Die Techie-Spielzeuge in der Rubrik „Fetisch“ sind animiert – der Lego-Unimog rotiert per Fingerwisch um 360 Grad, auf dem Arcade-Tisch läuft ein kleines Pac-Man-Spiel.

Wired2_800

Doch die App kann mehr als zwitschern, piepsen und blinken. Sie bietet echten Mehrwert da, wo das Papier stumm bleiben muss. Der Artikel über die twitternde Eiche lädt gleich den aktuellen Nachrichtenstrom von @talkingtree_de. Die neue Raytrix-Kameratechnik wird auf einem Foto mit verschiedenen Tiefenschärfe-Zonen simuliert. Julia Probst, die Stimme der Gehörlosen, zeigt nicht nur wie in der Printausgabe auf drei Fotos die Gebärden für „Facebook“, „Wired“ und „Apple“. Auf der App demonstriert sie außerdem in einem kleinen Video die drei unterschiedlichen Gestik-Namen für Angela Merkel. Manche Sachen muss man einfach in Bewegung sehen, um darüber lachen zu können.

Wired3_800

Und so geht es weiter. Jede Seite, die man sich aufs Display zieht, enthält ein neues Wunder. Im Artikel über den kubanischen Zombiefilm „Juan of the Dead“ ist gleich der komplette Trailer zu sehen, in Hochauflösung. Der fliegende „Smart Bird“-Robotervogel schlägt in einem bezaubernden Filmchen seine künstlichen Flügel zwischen Hochhauswänden. Das Focaultsche Pendel im Gasometer Augsburg schwingt in majestätischer Stille. Selbst die Grafik auf der Titelseite, eine Art Rohbauhaus-Computerkonsole, surrt und rotiert, wenn man sie antippt. Das Entdecken und Ausprobieren der immer neuen Gimmicks macht einfach Spaß.

Zugegeben: Die „Wired“-Geeks haben viele Monate Zeit gehabt, die digitale Erstausgabe vorzubereiten. Sie konnten auf Material der amerikanischen Mutterausgabe zurückgreifen, etwa die tickenden Uhrwerks-Hirn-Animationen. Sie werden ein gewisses Budget gehabt haben. Ob dieser hohe Standard langfristig zu halten ist, zeitlich und finanziell, muss sich erst einmal zeigen.

Trotzdem war ich beim Blättern Wischen durch die App auf dem für das Wochenende ausgeliehenen iPad von dem Gefühl überwältigt: Das ist die Zukunft. Das ist die nächste Generation des Lesens. Die gedruckte Ausgabe, so prall und bunt sie ist, wirkt neben der App wie eine Grammophonplatte aus Bakelit neben der DVD eines Live-Konzerts.

Das sage ich als jemand, der seit 40 Jahren mit dem Gefühl von Papier zwischen den Fingern lebt. Der Zeitungen und Zeitschriften liebt und nicht einschlafen kann, ohne ein paar Seiten in einem Buch gelesen zu haben. Auf und mit Papier kann man wunderschöne Dinge tun und spannende Geschichten erzählen. Wir alle werden uns mit Sicherheit noch viele Jahre lang von Inhalten auf einem Datenträger faszinieren lassen, der beim Umblättern raschelt.

Doch letztlich ist es dieser Inhalt, der zählt, nicht seine äußere Form. Eine Geschichte ist aufregend, lustig oder herzergreifend, ob sie in Marmor gemeißelt, auf Papyrus geschrieben oder auf eine Webseite geladen wird. Die Form hat sich über Jahrtausende immer wieder unseren Lesebedürfnissen und den Möglichkeiten der Herstellung angepasst. Die Hochglanzzeitschrift im Vierfarbdruck ist nur eine Evolutionsstufe in dieser Kette.

Hat jemals ein gedrucktes Magazin die Grenzen seines eigenen Mediums deutlicher gemacht als dieses brandneue Fachblatt für Virtuelles? „Print lebt“ schrieb ein fröhlicher Chefredakteur Thomas Knüwer nach Redaktionsschluss der Druckausgabe am 11. August im „Wired“-Blog. Um dann sinngemäß anzufügen: Und jetzt kommen wir zu App. Wie symbolisch.

Am Donnerstag war ich noch fest entschlossen, die „Wired“ zu abonnieren. Einen Tag später wollte ich ein iPad. Auf einmal, unbedingt. Es gibt Träume, die entstehen mit einem Fingerschnippen. Oder einem Wischen.