Ans Ende der Welt (4): Die stille Stunde

Oldenburg. Donnerstag, 3. Juni 2010, kurz nach Mitternacht. Alles ist ruhig im Haus meiner Eltern. Die Mitfahrerin ist noch irgendwo auf der A1. In einer Stunde wird sie hier sein, sie hat es gerade gesimst. Dann werden wir komplett sein: Zwei Fahrer, zwei Maschinen, ein Ziel und noch 2900 Kilometer vor uns.Stille. Die Freewind steht in der Garageneinfahrt. Ihr Fahrer sitzt im ersten Stock in einem Raum, der vor 20 Jahren einmal sein Kinderzimmer war. Unten liegt der Flur übersät mit seinen Packtaschen, Seitenkoffern, Tankrucksäcken und Navigationsgerätehüllen, mit seinen Helm, Jacke, Hose, Stiefeln und minderen Ausrüstungsgegenständen wie Handschuhen, Halskrause und Nierengurt.

Marschgepäck, abmarschbereit. Und jetzt: Abmarsch!
Marschgepäck, abmarschbereit. Und jetzt: Abmarsch!

So sah es gestern Nachmittag in Aachen aus. Alles fein verpackt und verkorkt, aber es war ein harter Weg bis dahin. Was nämlich so voluminös aussieht, birgt in Wahrheit erschreckend wenig Platz. So wird manches Teil es nie ans Nordkap schaffen. Der kleine EeePC zum Beispiel. Oder die Jeans mit dem motorradtauglichen Kevlargewebe (und des komisch-chemischen Geruch, der ihm entströmt). Gewogen und für zu schwer befunden. Bitte wieder aussteigen, Ihre Reise endet hier, es gibt keine Karten mehr.

Das Zelt - neun Jahre im Verpackungskoma haben ihm nicht geschadet
Das Zelt – neun Jahre im Verpackungskoma haben ihm nicht geschadet

Mit im Kader für die Reise in den Norden ist dagegen das gute alte Zelt, im September 2001 beim Campingurlaub in der Provence gekauft (wegen dieses Urlaubs bin ich übrigens einer der ganz wenigen Menschen der westlichen Hemisphäre, die keine Ahnung haben, was sie gerade gemacht haben, als in New York die Flugzeuge ihre Ziele trafen).

Nach neun Jahren Dämmerschlaf in seiner Packtasche schimmerte das Leinwand-Teilzeitheim vorhin beim Probeaufbau so strahlend wie neu im Glanz von Sommersonne und frisch aufgesprühten Imprägnierspray.

Wenigstens eine Sache, die ich nicht neu kaufen musste. Ansonsten waren es teure Tage, die der vergangenen Wochen. Die neuen Reifen für die Freewind (250 Euro), das neue Kettenkit für die Freewind (170 Euro), die neuen Bremsbeläge, die neue Vergasereinstellung, die Seitenständerreparatur und die Heckhöherlegung (110 Euro), das neue Navi (190 Euro), das neue Bluetooth-Interkom (140 Euro), der neue Tankrucksack (45 Euro), die neue Ortlieb-Packtasche (65 Euro), der neue Regenkombi (50 Euro), die neuen Überschuhe (20 Euro), die neuen Überhandschuhe (10 Euro), die neue Halskrause (25 Euro), die zwei Paar neuen Socken (20 Euro), der neue Kamerachip (13 Euro), das Umfalltraining in Wuppertal… an dieser Stelle blenden wir die Musik für Sie aus, sonst werden Sie noch schwermütig.

Shawn, das Schaf von Ikea, vor seiner Rückkehr nach Schweden
Shawn, das Schaf von Ikea, vor seiner Rückkehr nach Schweden

Und dann ist da natürlich Shawn, das Schaf (15 Euro). Shawn heißt eigentlich Alleby, was aber nicht irisch oder auch nur englisch ist, sondern schwedisch, denn Shawn stammt aus dem Mitnahmelager eines großen blau-gelben SB-Möbelhauses in Heerlen. Shawn ist viereckig, wuschelig und wird meinen Hintern jenseits des Polarkreises hoffentlich besser wärmen als jede Sitzheizung.

Shawn ist eine Empfehlung der Mitfahrerin, deren Anruf in dieser Sekunde das Display meines Handys aufleuchten lässt: Sie steht vor der Tür. Die stille Stunde ist vorbei. Das Team ist komplett.