Ans Ende der Welt (3): Die Pylonen des Todes

Motorradfahren an sich ist bekanntlich keine ungefährliche Art, sich durch die Landschaft zu bewegen. Fast jeder Fahrer, den ich kenne, kennt jemanden, der jemanden kennt, dem schon einmal etwas Unangenehmes passiert ist.Mein ehemaliger Garagenmitnutzer Mathias zum Beispiel wurde in einer Saison gleich zweimal übersehen: Einmal fuhr ihm an einer Ampel ein Auto von hinten ins Moped, einmal humpelte ihm ein altes Mütterchen davor. Einerseits. Andererseits fährt Mathias ein böses, tiefes und vor allem mattgrau lackiertes Streetfighter-Bike mit Miniblinkern und weißem LED-Rücklicht. Und er trägt eine Jacke im coolen und ebenfalls grauen Urban-Camouflage-Tarnmuster. Man könnte also sagen, dass Mathias auf dem Weg zum unsichtbaren Motorradfahrer schon ziemlich weit ist. Leider nicht auf dem zum Unverletzlichen. Was ich damit andeuten will: Man ist auf zwei Rädern zwar seinen Unfallpartnern Mit-Verkehrsteilnehmern ein Stück weit ausgeliefert. Man hat aber auch einiges selbst in der Hand. Hoffe ich jedenfalls.

Was mich auf die bevorstehende Nordkapreise bringt. Noch gut zwei Wochen sind es bis zur Abfahrt. Auf den bevorstehenden 3200 Kilometern bis ans Ende der Welt und dem noch deutlich längeren Rückweg die norwegische Küste hinunter wird sich jede Menge Gelegenheit bieten, gegen malerisch in der Landschaft stehende Rentiere zu fahren oder in einen überraschend hinter einer Kurve herumlungernden Fjordarm zu fallen. So ließ ich mich gerne von der umsichtigen Mitfahrerin überzeugen, zehn Jahre nach bestandener Motorradführerscheinprüfung (im zweiten Anlauf) mal wieder an einem Sicherheitstraining teilzunehmen. Am vergangenen Samstag fand sich ein geeigneter Termin – wenn auch mit der Einschränkung, dass das Training im 120 Kilometer entfernten Wuppertal stattfand und ich von da aus direkt wieder nach Aachen fahren müsste, um beim Aufbau der Ein-Jahres-Geburtstagsparty unserer Community 5ZWO zu helfen. Volles Programm also. Aber schaffbar.

Kreiselkräfte in Aktion
Kreiselkräfte in Aktion

Das Trainingsgelände: der städtische Bushof von Wuppertal. Hatte ich erwartet, hier das Serpentinenwedeln mit 80 km/h zu lernen, werde ich etwas enttäuscht: Zunächst geht es brav in Schrittgeschwindigkeit um aufgestellte kleine Pylonen herum. Kreise, Achten, Abbiegemanöver. Erst am Nachmittag kommt Zug in die Sache: Bremsen steht auf der Tagesordnung. Immerhin, dass man bei Tempo 50 mit voll durchgetretener Hinterradbremse nicht gleich blockierend durch die Szenerie fliegt, das hatte ich tatsächlich vergessen.

Dann zum zweiten Teil der Übung: Vollbremsung nur mit dem Vorderrad. Zweimal sanft, dann zweimal etwas kräftiger und dann zweimal „mit allem was geht“, wie der Kursleiter sagt. Dabei gilt aber: Blockiert das Vorderrad, hat man umgehend die Bremse wieder zu öffnen.

Los geht’s. Einmal sanft, upps, aus Versehen das Hinterrad mitgebremst, haha, die Gewohnheit, jetzt nochmal sanft, aber richtig, dann zweimal kräftig. Hu, das kostet schon Überwindung. Und jetzt mal mit allem, was geht. Erster Gang, Gas, 30 km/h, zweiter Gang, mehr Gas, jetzt mitten durch die Pylonen – rechte Hand würgt den Bremshebel bis zum Anschlag – es haut das Vorderrad zur Seite – das Bild kippt nach rechts –

Dem Boden so nah
Dem Boden so nah

Aua.

„Pardauz“ hieß es in den Bilderbüchern meiner Kindheit immer, wenn sich jemand auf die Nase legte. An die Kindheit erinnert es auch, Pflastersteine aus so unmittelbarer Nähe und den Himmel aus der Froschperspektive zu sehen. Erwachsenen Menschen ist das nicht mehr oft gegönnt. Was für eine elementare Erfahrung: Dem Boden so nah zu sein. Boden ist gut. Boden bewegt sich nicht.

Pardauz ist ein viel zu nettes Wort für einen Aufschlag mit Tempo 50 aufs Pflaster. Erster Gedanke: Jetzt ist das schöne Motorrad im Eimer. Zweiter Gedanke: du auch?

Menschen eilen herbei, Kursteilnehmer. Das Motorrad wird von mir gehoben, besorgte Stimmen reden auf mich ein. Was wollt Ihr von mir, ich bin so müde. „Tut dir was weh?“ Lasst mich liegen. „Hast du dir was gebrochen?“ Man hilft mir auf. Auuh, der Fuß. Und die Schulter. Immerhin, stehen kann ich noch. Jemand drückt mir einen Schokoriegel in die Hand, der in den Tagen meiner Kindheit Raider hieß. „Hier, iss das, wegen Blutzucker und Adrenalin.“ Gerne, Schoko nehmen wir immer. Aber wie geht es Marit, meiner Freewind?

Noch etwas wacklig auf den Rädern, hm?
Noch etwas wacklig auf den Rädern, hm?

Auch sie kann noch stehen. „Morgen holen wir uns auch solche Sturzbügel“, raunt die Hondafahrerin ihrem Mann zu. Prüfende Blicke zeigen, dass mein treues Maschinchen überraschend wenig abbekommen hat. Zwar sind Lenkerende, Spiegel, Handprotektor und das Topcase verkratzt, auch einige andere Teile haben kleinere Schleifspuren abbekommen. Doch der massive Motorschutzbügel hat das Meiste abgefangen. Mehr noch: Das ausladende Stahlrohr hat mein Bein davor bewahrt, unter dem Motorrad eingequetscht zu werden. Nur für meinen großen Zeh – ihr erinnert euch, ich und meine großen Zehen – scheint es nicht mehr ganz gereicht zu haben: Er fühlt sich an, als hätte ihn jemand mal wieder mit einer Kommode bearbeitet. Am schlimmsten hat es aber die Jacke erwischt: Das Textilgewebe ist am Unterarm bös zerfetzt. Doch die Protektoren an Ellenbogen und Schulter haben den Sturz anscheinend gut abgefangen.

Fazit: Der Fahrer kann noch laufen, sein Untersatz noch fahren. Für meinen ersten Sturz ist die Angelegenheit ganz glimpflich abgegangen. „Meine Kiste wäre jetzt hin gewesen“, sagt der Fahrer der vollverkleideten Ninja. Stimmt – zumindest die metallic-blaue Eierschale rund um seinen Supersportler wäre empfindlich angeschmirgelt worden, hätte er sie so auf die Seite gelegt.

Den Rest des Trainings absolviere ich etwas zittrig und mit schmerzender linker Körperhälfte. Auf der Rückfahrt nach Aachen lasse ich mir dann auch wesentlich mehr Zeit als auf dem Hinweg und komme nur ein ganz kleines bisschen zu spät, um beim Aufbau der Party zu helfen. Das Leben geht ja weiter.

Es stimmt wohl: Man hat selbst in der Hand, wie man durchkommt. Das gilt auf zwei Rädern wie auch im Leben an sich. Seit Samstag weiß ich, dass es beim Fahren vor allem die rechte Hand ist, in der man es haben sollte. Und noch etwas haben Motorrad und Leben gemeinsam: Blockieren tut man sich meistens selbst.