Skandiblog 13: Übers Fjell

Rjukan war schön. Richtig schön – na gut, ich musste ja auch nicht im Winter hin. Nun möchte ich an die Küste, Fjorde gucken. Richtige Fjorde. Und ich will zum Preikestolen. Das ist Norwegens spektakulärste Felsklippe, 600 Meter hoch. Der Weg führt über die E134 westwärts, dann weiter nach Süden bis an die Küste. Das wird bestimmt eine angenehme Fahrt.

(Was unser abenteuerlustiger kleiner Berichterstatter nicht weiß: Die E134 führt über das rund 1150 Meter hohe Haukelifjell. Dieser Abschnitt, Haukelivegen genannt, ist im Winter gefürchtet. Selbst im Sommer liegt dort noch Schnee. Die Straße ist überhaupt erst seit 1968 ganzjährig befahrbar und streckenweise heute noch einspurig.)

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Letzter (Rück-)Blick auf den Gaustatoppen. So ein schönes Bild hat man schließlich nicht oft im Spiegel.

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Noch ein Spiegelbild, viele Kilometer weiter westlich. Raulandsvegen heißt dieses Stück der Landstraße 37. Sonderlich rau ist das Land allerdings nocht nicht – still ruht der See.

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Doch rauer wird es zusehends. Kälter auch. Über die 362 komme ich schließlich auf die E134, die wichtigste Ost-West-Verbindung im Süden Norwegens.

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Hinter einer Leitplanke, die schon viel Kummer erlebt hat, dräut in der Ferne nackter Fels. Oha, das kann ja heiter werden. So einsam es hier ist, es ist dennoch viel Verkehr unterwegs. Die E134 sieht zwar aus wie eine normale Landstraße in Deutschland, ist aber eine der Hauptschlagadern des Landes. Den weißen Tanklastzug auf dem Bild überhole ich ein halbes Dutzend Mal. Nach jedem Fotohalt hat er mich wieder.

Ansonsten sind aber meist die Einheimischen schneller als ich. Da mir furchtbare Dinge über die norwegischen Strafzettel erzählt wurden, angeblich mehrere hundert Euro schon bei geringsten Geschwindigkeitsübertretungen, halte ich mich ziemlich genau an das jeweilige Tempolimit. Mit dem Ergebnis, dass mich Autos, Lieferwagen und selbst Sattelschlepper überholen. Wartet, wenn ich erst wieder in Deutschland bin, dann fahre ich auch mal wieder 110 Sachen…

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Ein Gutes hat das Reisen mit dem Motorrad: Man kann immer mal rechts anhalten, um ein Foto zu machen. Wer dagegen mit dem Auto mitten auf der Straße stehenbleibt, riskiert mehr als nur ein Strafmandat.

Und ja, das da rechts im See sind Eisschollen.

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Plötzlich stehen riesige Schilder neben der Straße, Norwegisch und Englisch beschriftet. „WAIT FOR ESCORT VEHICLE“ lese ich noch, Warten Sie auf ein Begleitfahrzeug. Polizei steht auch am Wegesrand. Was hat denn das zu bedeuten?

Ich fahre weiter. Die Straße ist plötzlich einspurig.

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Vor mir kriecht eine lange Schlange aus Lastwagen und Autos im Schritttempo die Serpentinen hinauf. Ich verstehe, der Verkehr ist hier reguliert wie bei einer Baustelle: Erst hat die eine Seite freie Fahrt, dann die andere.

Es ist sicherlich höchlichst verboten, hier für ein Foto anzuhalten. Tut also bitte so, als hättet Ihr die Bilder oben nicht gesehen. Wenn jemand schimpft, sage ich halt, ich hätte ein Steinchen im Auge gehabt.

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Im Konvoi geht es über das schmale Sträßchen weiter. Schneefelder, Tunnel, starke Steigungen und Gefälle – im Winter, bei Schnee, Eis und Dunkelheit, ist das hier sicherlich ein ganz exquisites Vergnügen. Es gibt hierzulande Straßen, da werden die Autos in Gruppen abgezählt, ein Schneepflug fährt vorneweg, ein Sicherungsfahrzeug hinterher. Dies ist so eine Straße. Gibt es Schneeketten für Motorräder?

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Was für eine Strecke. Nach einer kleinen Ewigkeit passieren wir schließlich die Verkehrssammelstelle auf der Gegenseite. Kilometer um Kilometer stehen Lastwagen, Wohnmobile und Autos aufgereiht und warten auf Durchfahrt. Dann fängt endlich auch wieder die Vegetation an.

Eine Raststätte. Ich brauche eine Stärkung und meine Maschine Kettenspray. Während ich den unvermeidlichen Hotdog futtere (die kulinarische Auswahl ist etwas eingeschränkt), bewundere ich die große Leuchttafel am Straßenrand: „Haukelifjell Open“. Da haben wir ja wohl Glück gehabt.

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Am Røldalsvatnet-See verlasse ich die E134, unmittelbar bevor die nächste „Escort Vehicle“-Strecke anfängt. Jetzt geht es auf der kleinen Landstraße 13 nach Süden. Sie ist ebenfalls einspurig, aber nicht offiziell. Was heißt: Meist noch langsamer fahren als die erlauten 50 km/h, denn hinter jeder Kurve könnte einer der großen Volvo-Sattelschlepper entgegenkommen.

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Wir sind hoch im Norden. Trotzdem ist hier alles voller Blüten.

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Der erste große Wasserfall.

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Aus Seen werden Fjorde. Fjorde mit steilen Hängen.

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Die Straße bietet Ausblicke von beinahe geometrischer Schönheit.

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Sie endet in Nesvik. „Die Fähre geht alle halbe Stunde“, hatte mir die Empfangsdame von der Herberge in Preikestolen versichert. Das tut sie auch. Außer zwischen 18 und 19 Uhr. Wenn man also gegen 18.10 Uhr auf dem Kai steht, muss man fast eine geschlagene Stunde lang warten. Blöd, wenn man dann gerne in der Herberge sein möchte, bevor um 20 Uhr die Rezeption geschlossen wird.

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Reisen in Norwegen dauert lange. Für die ganze, nur wenig mehr als 300 Kilometer lange Strecke habe ich fast einen ganzen Tag gebraucht. Immerhin hat auf der Fähre niemand Geld von mir haben wollen.

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Doch die Zeit reicht. Ich bin zwar erst um Viertel nach acht auf dem Parkplatz, aber es herrscht so ein Betrieb, dass ich noch einchecken kann. Wobei „einchecken“ ein deutlich zu modernes Wort für die Unterkunft ist: Preikestolen ist eine Jugendherberge im traditionellen Sinn, mit kleinen Schlafbaracken und großen Schlafsälen. Immerhin wurde aus den Achtbetträumen die Hälfte der Schlafgelegenheiten entfernt.

Beim Abendbrot findet sich eine nette Runde zusammen: aus Kanada, Holland, Portugal und den USA. Das mag ich so an Jugendherbergen – man trifft sofort Leute, die ganz ähnlich ticken wie man selbst. Deren Abenteuerlust größer ist als ihr Reisebudget, die neue Menschen mögen und neue Kulturen. Wir tauschen Web- und Mail-Adressen aus. Ich gönne mir zwei winzige Fläschchen Tuborg zu einem um so größeren Preis: 55 Kronen, also rund 6 Euro das Stück. Was soll’s, man fährt wahrscheinlich nur einmal im Leben über das Haukelifjell.

Um Mitternacht gehen wir nochmal runter zum See. Es ist ganz still – bis auf das gelegentlich Klatschen, wenn jemand nach einer Mücke schlägt.

Richtig dunkel ist es immer noch nicht, die Felswände leuchten im Mondlicht. Morgen ist der Preikestolen dran.

Skandiblog 12: Ausblicke und Rückblicke

Am nächsten Morgen scheint freundliche Sonne direkt in mein Zimmer. Über Rjukan ist der Himmel fast wolkenlos blau – zum ersten Mal, seit ich Aachen verlassen habe.

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Beste Voraussetzungen, um diesen Ort zu besuchen, den jeder Norweger kennt. Denn einmal, vor 65 Jahren, wurde in Rjukan Weltgeschichte geschrieben.

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Der heutige Ort verdankt sein Entstehen dem 105 Meter hohen Rjukanfossen-Wasserfall, der schon im 18. und 19. Jahrhundert als Naturwunder Touristen ins abgelegene Vestfjord-Tal lockte. Als 1909 die Rjukanbahn gebaut wurde, wozu eine Eisenbahnfährverbindung über den 45 Kilometer langen Tinnsjø-See eingerichtet werden musste, begann die Industrialisierung des Tals. Mit dem schönen Wasserfall war es vorbei: Er wurde eingerohrt und trieb ab 1911 die Turbinen des Wasserkraftwerk Vemork an, des damals größten der Welt.

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Dort produzierte der Industriekonzern Norsk Hydro nicht nur Strom, sondern in den Dreißiger Jahren auch Deuteriumoxid – sogenanntes Schweres Wasser, ein Bestandteil der nuklearen Kettenreaktion. Wer Schweres Wasser besaß, konnte eine Atombombe bauen. Nachdem 1940 Nazideutschland Norwegen überfallen und besetzt hatte, nutzten deutsche Wissenschaftler Vemork für ihre Kernforschung.

Da die Alliierten nicht zulassen wollten, dass Hitler mit einer Atombome London oder New York auslöschte, versuchten sie 1943 in einer waghalsigen Geheimaktion, die Fabrik zu zerstören. Norwegische Widerstandskämpfer wurden von England aus im Winter auf der Hardangervidda-Hochebene nördlich von Rjukan abgesetzt. Monatelang hielten sie sich dort versteckt, bis sie im Februar über die steile Schlucht ins Kraftwerk eindrangen und wesentliche Teile des Werks in die Luft sprengten.

Nachdem die Deutschen die Anlage repariert hatten, wurde sie von amerikanischen Flugzeugen bombardiert. Im Frühjahr 1944 gaben die Deutschen auf und versuchten, das bereits hergestellte Schwere Wasser in Güterwaggons aus dem Land zu schaffen. Die Widerstandskämpfer wurden erneut aktiv. Als die Eisenbahnfähre Hydro mit den Waggons in den Tinnsjø-See ausgelaufen war, wurde sie durch Sprengladungen versenkt. Mit Hitlers Atombombe war es vorbei.

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Die Fähre Hydro am Kai von Mael. (Foto: Anders Beer Wilse/Norwegian Museum of Cultural HistoryWikipedia)

Nazideutschland kapitulierte im Mai 1945. Die einzigen jemals im Krieg eingesetzten Atombomben fielen drei Monate später auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki. Hätte sich der Krieg in Europa noch ein wenig länger hingezogen, wäre heute vielleicht das Ruhrgebiet eine radioaktive Wüste.

Die Fässer mit dem Schweren Wasser liegen noch heute auf dem Grund des 430 Meter tiefen Sees, des dritttiefsten in Norwegen. Während des Krieges versuchte der deutsche Wissenschaftler Werner Heisenberg, eine nukleare Kettenreaktion zu starten. Das Experiment scheiterte – wie man heute weiß, fehlte ungefähr soviel Schweres Wasser, wie mit der Fähre unterging. Die deutsche Forschung kam nie auch nur in die Nähe einer funktionierenen Bombe.

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Die Kämpfer von damals gelten in Norwegen als Nationalhelden. Ihre Sabotageaktion war der erfolgreichste koordinierte Schlag einer Widerstandsbewegung in den von Nazideutschland besetzten Ländern überhaupt. Mit dem Spielfilm „The Heroes of Telemark“ mit Kirk Douglas in der Hauptrolle setzte Hollywood ihnen ein Denkmal. Ein Denkmal aus Stein steht vor dem Wasserwerk.

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Fast sechzig Jahre nach diesen Ereignissen liegt das Schwesterschiff der versenkten Hydro, die Dampffähre Ammonia, am Anleger von Mæl, wenige Kilometer von Rjukon entfernt.

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Das Gelände ist unbewacht, man kann sich in Ruhe umgucken.

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Die historischen Güterwagen der 2000 stillgelegten Rjukanbahn stehen noch am Kai.

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Eitle Touristen nutzen das leere Gelände zu fantasielosen Fotos mit Selbstauslöser. Kämmen Sie sich mal die Haare, junger Mann. Außerdem hatten wir das Motiv schon in Ystad.

Genug Geschichte. Schauen wir uns Rjukan doch mal von oben an. Dafür gibt es die Krossobanen, Nordeuropas erste Seilbahn. Sie war ein Geschenk der Norsk Hydro an die Einwohner des Tals, damit sie auch im Winter Sonnenlicht sehen konnten.

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Denn das Leben in der Stadt dürfte in der dunklen Jahreszeit kaum zu ertragen sein: Auch am Tag verirrt sich kein Sonnenstrahl in die Schlucht, dazu produziert der Fluss eine Art gischtigen Dunst, der wie Nebel über den Häusern liegt. Schneemassen türmen sich auf, weil kaum Platz ist, sie aus dem Weg zu räumen. „Und alles ist schmutzig vom Streumaterial“, erklärt mir eine Anwohnerin.

Fast einen halben Kilometer hoch fährt die Seilbahn bis ans obere Ende der Schlucht. Und siehe da, die Deutschen haben in der Gegend nicht nur schlimme Erinnerungen hinterlassen: Wie eine große Blechtafel an der Bodenstation beweist, wurde die Anlage 1928 von der Firma Adolf Bleichert aus Leipzig gebaut. Die rote Kabine heißt übrigens Tyttebæret, Preißelbeere, ihre blaue Schwester ist natürlich die Blåbæret – die Übersetzung spare ich mir.

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Der Ausblick von der Besucherplattform ist grandios. Der Berg im Hintergrund ist der 1883 Meter hohe Gaustatoppen. Angeblich ist er der schönste Gipfel des Landes (auch wenn ich den Verdacht habe, dass die stolzen Nordländer hier das von jedem halbwegs geeigneten Hügel behaupten). Dieser Berg war es, an dem ich gestern Abend, ohne es zu wissen, vorbeigefahren bin.

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50 Kilometer südöstlich von Rjukan – also eine knappe Fahrstunde entfernt – liegt in Heddal Norwegens größte Stabkirche.

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Das zwar nur etwa 20 Meter lange, dafür aber 26 Meter hohe hölzerne Bauwerk wurde 1240 errichtet. Der älteste Balken hat sogar noch deutlich mehr hinter sich: Er stammt etwa aus dem Jahr 900.

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Das Gebäude wird immer noch als Kirche genutzt. Man kann hier im Sommer auch vor den Altar treten, erklärt mir eine Kirchenführerin. Es gibt sicher nur wenig so romantische Orte zum Heiraten wie eine alte Wikingerkirche.

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Ich ärgere mich, nicht meine große Kamera mit dem stärkeren Blitzlicht mitgenommen zu haben. Die kleine Pocket-Pentax ist im schummrigen Licht mit dem hohen Dachgestühl doch etwas überfordert.

Von Heddal aus fahre ich ein zweites Mal über Sauland und die kleine Nebenstraße nach Norden in Richtung Rjukan. Diesmal scheint am Gaustatoppen die Sonne und es weht kaum ein Wind – was für ein Unterschied zu gestern! Jetzt finde ich auch die Abzweigung, von der aus eine Stichstraße nach Kvitavatn führt.

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Gegen 21 Uhr stelle ich den Motor der Freewind ab. Die neue Jugendherberge ist einzigartig: Neben einem modernen Hauptgebäude ist eine Anzahl wunderhübscher Holzhütten im traditionellen norwegischen Stil über das Gelände verstreut. Auf ihren Dächern wächst zum Teil sogar Gras.

Wie man mir am Telefon angekündigt hat, ist niemand mehr da. Doch an der Tür des Haupthauses hängt ein Zettel: „Willkommen Marc H. Der Schlüssel ist in der Tür zu Hütte Nr. 51“.

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Hütte 51 ist ein winziges Einpersonenhäuschen mit kleiner Veranda und niedrigem, bewachsenen Dach. Es hat nur ein Fenster, aber das zeigt genau in die richtige Richtung: Freie Sicht auf den Gaustatoppen!

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Ich bin der einzige Gast in der ganzen Anlage. In der voll ausgestatteten Küche mache ich mir das mitgebrachte Abendbrot zurecht. Diesmal hatte in Sauland noch der Spar-Supermarkt geöffnet, darum gibt es jetzt Brötchen mit Käse, Krabbensalat, Schokoladenkekse und eine Flasche „Irn Bru“ (Eisen-Bräu), ein giftig-orangefarbenes Gesöff aus Schottland, das nach Kaugummi schmeckt und mich an meine Zeit in Glasgow erinnert. Gesund ist das alles natürlich nicht, aber wir sind ja im Urlaub. Frischobst und -gemüse sind hierzulande eh kaum bezahlbar, überhaupt liegt das ganze Preisniveau etwa ein Viertel bis ein Drittel über dem deutschen.

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Es wird Abend. Ein merkwürdiges Gefühl, alleine hier oben zu sein. In Kvitavatn entsteht gerade ein Wintersportgebiet mit vielen Hotels und Skihütten. In den umliegenden Berghängen sind Schneisen für Loipen und Lifte in die Wälder geschlagen. Jetzt, im Sommer, ist hier natürlich noch nichts los.

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Nachts werde ich wach. Es ist kurz vor drei. Draußen wird es schon wieder hell. Das Geräusch kenne ich doch? Es ist ein Kuckuck.

Wie schön das klingt. Wann habe ich so etwas in Deutschland zuletzt gehört?

Skandiblog 11: Berg und Tal

Warum man in Norwegen immer gute Straßenkarten dabei haben sollte, lerne ich am nächsten Tag. Ziel ist Rjukan, ziemlich mittig im Südteil des Landes gelegen, genauer: 180 Kilometer westlich von Oslo in der Telemark. Die Stadt ist berühmt für zwei Dinge: einmal ihre Lage in einer tiefen Schlucht, die im Winter jeden Sonnenstrahl von den Häusern fernhalten. Sowie für das Wasserkraftwerk Vemork, das im Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle spielte.

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Der Tag beginnt angenehm. Der Regen am Morgen lässt schnell nach und ich komme gut durch den Flaschenhals Oslo. Kurz darauf kommt auch die Sonne durch.

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Die zuerst nur sanft hügelige Landschaft wird bald immer bergiger. So ähnlich habe ich mir Norwegen vorgestellt.

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In Rjukan möchte ich im Vandrerhjem übernachten, der Jugendherberge. Die Telefonnummer steht im Internationalen Jugendherbergsführer. „Fahren Sie nicht über die 37“, rät mir eine freundliche Empfangsdame. „Die ist ab 20 Uhr gesperrt wegen Straßenarbeiten.“ Sie beschreibt mir eine Alternativroute über ein Örtchen mit dem schönen Namen Sauland und von dort über eine kleine Nebenstraße.

Als ich in Sauland ankomme, ist es schon kurz nach 20 Uhr. Überall stehen die großen Warnschilder zur Straßensperrung. Da nur noch die Tankstelle offen ist, hole ich mir dort ein improvisiertes Abendbrot: einen der allgegenwärtigen, vor Fett triefenden, mit Schinken umwickelten Hotdogs, dazu einen Trinkjoghurt und ein Muffin. Dann geht es über die angekündigte Nebenstraße.

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Sie ist ein Traum für Motorradfahrer. Eigentlich. Felswände, Schluchten, Hügel, kleine Seen, Kurven links, Kurven rechts, bergauf, bergab – wenn ich nur nicht so müde wäre und endlich ins Bett wollte. Leider setzt auch der Regen wieder ein.

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Generell geht es eher bergauf als bergab. Die Aussicht wird immer schöner, die Landschaft karger. In der Ferne tauchen immer mehr schneebedeckte Berggipfel auf. Toll. Die Gegend ist menschenleer, die letzten Ferienhäuschen liegen schon lange zurück. Was auf meiner Karte so nah aussah, zieht sich jetzt schon fast eine Stunde lang hin.

In dieser Höhe weht eine mächtig steife Brise. Beim Halt für das Foto oben bin ich heilfroh, dass meine Freewind nur etwa 168 Kilo Leergewicht hat. Eine Böe ist so stark, dass die beladene Maschine umkippt, als ich das Foto gerade gemacht habe. Ich kann sie gerade eben noch auffangen.

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Das ist langsam kein Spaß mehr. Hinter der letzten Serpentine ist nicht nur die Baum-, sondern auch die Buschgrenze. Über kahles Gelände führt die Straße steil hoch in die Berge, auf denen überall Schnee liegt. Mir wird mulmig. Für eine Winterfahrt bin ich nicht gerüstet. Wir haben schließlich Ende Juni.

Der Sturm bläst mich fast von der Straße. Die heftigen Böen treffen das Motorrad so hart und unvermittelt, dass ich nicht schneller als 10 oder 20 Stundenkilometer fahren kann. Der Anstieg wird zur Zitterpartie.

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Das Fotografieren ist auch kein Vergnügen. Dafür muss man nämlich die Handschuhe ausziehen. Der peitschende Regen ist eiskalt, ich kann die Finger kaum noch bewegen. Was zum Teufel mache ich hier eigentlich? Andere Leute fahren in ihren Sommerferien nach Spanien und lassen sich am Strand durchbräunen.

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Aber was für ein Naturerlebnis. Diese Berge. Diese Einsamkeit. Plötzlich läuft ein Fuchs direkt vor mir über die Straße und verschwindet zwischen den Schneefeldern am Hang. Ich halte an, fummele die Kamera wieder aus dem Tankrucksack, doch zu spät.

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Irgendwann führt die Straße wieder abwärts. Der Wind lässt nach. Die ersten Bäume. Endlich. Jetzt ist auch Rjukan zu sehen, der Ort in der Vestfjord-Schlucht, wo es im Winter immer dunkel ist. Wenn dies hier schon der Sommer ist, wie wird es dann erst im Winter sein? Man mag es sich nicht ausmalen.

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Nass, durchgefroren und erschöpft schaukele ich die engen Spitzkehren hinunter ins Tal. Seit über acht Stunden bin ich jetzt unterwegs. Bett, ich komme.

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Doch zum Schluss des Tages gibt es noch eine besondere Überraschung. Auch auf dieser Straße wird nämlich gebaut, und zwar kräftig. Schaufelbagger, Lastwagen, Berge von Steinen, Schutt auf dem Asphalt. Plötzlich versperrt mir ein Sattelschlepper den Weg, der Fahrer springt aus dem Führerhaus. „Hat Ihnen jemand erlaubt, hier durchzufahren?“ fragt er mich auf Englisch.

„Äh, nein…?“

Dann müsse ich zurückfahren, die Straße sei wegen der Bauarbeiten gesperrt. Ob ich die Schilder nicht gesehen hätte? Verwirrt erkläre ich ihm, dass doch eigentlich ganz woanders die Landstraße 37 gesperrt sein solle, weshalb ich eigens diese kleine Nebenstraße genommen hätte. Nein, antwortet er, dies hier sei die einzige Sperrung weit und breit. Da ich nicht zurück kann, es ist inzwischen fast 22 Uhr, kommen wir überein, dass er mich einfach nicht gesehen hat.

Irgendwas ist offenbar falsch gelaufen. Wie falsch, erfahre ich erst, als ich mich in Rjukan bis zum Hostel durchgefragt habe. An der Rezeption weiß man nämlich nichts von mir und eine Hütte, wie versprochen, hat man auch nicht zu vermieten. Mittlerweile restlos verwirrt rufe ich wieder die Nummer aus dem Herbergsführer an. „Sie sind am falschen Ort“, klärt mich die Dame auf, ihre Jugendherberge sei woanders – in einer Siedlung namens Kvitavatn, ganz oben am Berg. Jenseits der Straßensperrung. Unerreichbar.

So bleibe ich an Ort und Stelle im Rjukan Gjestegård. Wie ich später erfahre, war dies bis vor einigen Jahren die offizielle Jugendherberge, dann wurde die neue Anlage in Kvitavatn gebaut. Weil die Stadtverwaltung von Rjukan das ebensowenig verstanden hat wie ich, ist die Herberge oben den Bergen bis heute nicht richtig ausgeschildert – weshalb ich wiederum glatt an der unscheinbaren Abzweigung vorbeigefahren bin. Auf meiner eher groben Straßenkarte ist der winzige Ort Kvitavatn gar nicht erst verzeichnet, auch das Navi kennt ihn nicht.

Der Abend wird trotzdem noch nett. Außer mir ist nur eine Gruppe von Deutschen im Hostel, die mich einladen, mich zu ihnen in die Gemeinschaftsstube zu setzen. „Wo kommt Ihr her?“ frage ich. „Düren!“ kommt als Antwort. Ich muss grinsen: „Aachen.“

Die Welt ist klein. Die Leute sind allerdings nicht zum Vergnügen hier, sondern beruflich. Sie arbeiten für eine deutsche Firma, die in Rjukan eine Niederlassung hat. Auch an Feiertagen. Norweger sind nämlich teurer als Deutsche. Noch eine ungewohnte Erfahrung.

Skandiblog 10: Norwegen von oben

Zwischenspiel in Elverum. Das ist eine kleine Stadt rund 140 Kilometer nördlich von Oslo, und es gibt einen schönen Flugplatz mit Segelflugbetrieb dort. Zwei überaus entspannte Tage lang darf ich den Fans des lautlosen Fluges über die Schultern gucken.

Flugplatz Elverum

Das liebevoll eingerichtete Vereinsheim des Elverum Flyklubb Seil, hinten zu sehen, bietet Möglichkeiten zum Übernachten, Fernsehen, Kochen und Kleiderwaschen, eine große überdachte Terrasse sowie einen brandneuen und für einen Verein geradezu luxuriösen Sanitärbereich. Eine lokale Besonderheit ist, dass die Anlage auch für Rollstuhlfahrer zugänglich ist. Auch eines der Segelflugzeuge lässt sich für Betrieb ohne Beineinsatz umrüsten.

Anhängerparade in Elverum

Im Sommer wird der Flugplatz zum Zentrum der norwegischen Segelfliegerszene. Wie zu sehen ist, hat die Saison begonnen: Rund dreißig Flugzeuganhänger stehen vor dem Hangar geparkt.

Außerdem findet an diesem Wochenende ein Fliegertreffen statt. Dutzende von Motor-, Segel- und Ultraleichtflugzeugen aller Bauarten starten und landen den ganzen Tag…

Celier Xenon Gyrokopter

…und selbst einer der vom Schreiber dieser Zeilen so geschätzten Tragschrauber dreht seine Runden über dem Elverumer Hügelland. Es ist ein Celier Xenon, ein exotisches Modell mit geschlossener Kabine.

Norwegischer Buschflieger

Nicht ganz mein Fall – zumindest optisch – ist diese Zenair. Die winklige Bemalung unterstreicht noch den Ikea-Look der tollen Kiste.

Wild Thing

Nein, wenn schon Buschflieger, dann auch einer, der das Auge erfreut: eine Wild Thing.

Wild Thing Holzpropeller

Dieses Exemplar besticht außerdem durch seinen schönen polierten Holzpropeller. Ach, wenn man nur mehr Geld hätte…

Experimental

Noch ein seltener Vogel. Auf die Schnelle habe ich nicht herausbekommen, was für ein Typ dieses Experimental mit dem ungewöhnlichen geschleppten Dreibein-Einziehfahrwerk ist.

[UPDATE vom 8.12.2010: In den Kommentaren weißt Uwe darauf hin, dass es sich um eine Meta Sokol handelt.]

F-Schlepp in Elverum

Es ist Segelflugwetter. Andere machen F-Schlepp, die Elverumer haben etwas anderes.

Arn'ardo da Vinsji

Der Stolz des Clubs ist „Arn’ardo da Vinsji“. Die von einem Vereinsmitglied (mit dem Vornamen Arne) selbst konstruierte und gebaute Motorwinde zieht mit Hilfe eines Lastwagenmotors von 340 PS die Segelflugzeuge in die Luft.

Windenpult

Der Arbeitsplatz des Windenfahrers (oder der Windenfahrerin): eine bemerkenswert saubere Konstruktion. Gerade macht sich der Leppo mit den Seilen auf den Weg zum Start. Die gelben Bremsfallschirme stammen von einer F16.

Pneumant Windenreifen

Die von einem Traktor geschleppte Winde rollt auf Reifen aus bewährter volkseigener Produktion.

Tiger Moth

Während die Segelflieger ihre Ausrüstung – Motorwinde, Startwagen, Seilschleppfahrzeug („Leppo“) und die Flugzeuge – auf den Platz bringen, dreht die historische De Havilland Tiger Moth des Nedre Romerike Flyklubb aus Jarlsberg Platzrunden.

Für den Zaungast aus Deutschland gibt es herrlich wenig zu tun. Endlich Urlaub, endlich Ruhe. Genug Zeit, im Reiseführer zu schmökern, einen Norwegen-Krimi zu lesen („Schwarze Sekunden“ von Karin Fossum), mit den Piloten zu plaudern, die berühmten vereinseigenen Waffeln zu futtern… und die nächsten Etappen der Reise zu planen. Die Fjorde der Westküste warten.

Freundliche Klubmitglieder zeigen mir die Stadt. Sie war während des Zweiten Weltkriegs im April 1940 für ganz kurze Zeit Norwegens Hauptstadt, als während des deutschen Überfalls die Königsfamilie auf ihrer Flucht ins Ausland hier Halt machte. Mit dem so genannten „Elverum-Mandat“ ermächtigte das Parlament für die Dauer der deutschen Besetzung eine Exilregierung. Als Reaktion darauf wurde die Stadt von deutschen Flugzeugen bombardiert, die das historische Zentrum vollständig in Trümmer legten. Es gab über 50 Tote.

Später erklärt mir ein Vereinsmitglied, wie das moderne Norwegen funktioniert. Es sei zum Beispiel erklärte Politik der Regierung, das Leben in den entlegeneren Regionen des Landes – etwa im Norden – zu fördern und die örtlichen Lebensweisen und Traditionen zu erhalten. Mit erheblichem Aufwand würden die Siedlungen dort unterstützt. Im Vergleich dazu sei es im Norden des Nachbarlandes Schweden geradezu menschenleer, weil viele Bewohner mittlerweile in den Süden abgewandert seien.

Sogar bloggen darf ich abends am vereinseigenen PC. Der fünfte Teil über die Fahrt durch Schweden entsteht so. Es bleibt für längere Zeit das letzte Mal, dass ich ins Netz komme.

Elverum von oben

Auch in die Luft darf ich mitkommen und kann das Gelände aus der Vogelperspektive bewundern. Links der Flugplatz, im Vordergrund eine Trabrennbahn, dahinter ein Golfplatz und ein Go-Cart-Kurs. Vor Jahren hat es hier einen ausgedehnten Waldbrand gegeben. Die Elverumer machten das beste der Situation und schufen auf dem verwüsteten Gebiet eine Art Freizeitpark.

Waldgebiete bei Elverum

Lässt sich bestimmt gut leben hier. Norwegen ist auch von oben schön.

Skandiblog 9: Norwegen bei Nacht

Ihr habt es gemerkt, liebe Leute. Irgendwann bin ich nicht mehr mitgekommen mit dem Bloggen. Bis Hønefoss nördlich von Oslo ging es noch, weil immer irgendwo ein Rechner in der Nähe war. Danach führte der Weg aber nur noch über kleine Städte und Dörfer, wo es einfach keine Gelegenheit mehr gab, sich mal für ein Stündchen an einen PC zu setzen.

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Jedenfalls nicht zu bezahlbaren Preisen. Der Campingwirt in Lysebotn etwa verlangte für schlappe 15 Minuten Nutzung eines Laptops mit kaputter Maus sagenhafte 30 Norwegische Kronen – etwa 3,50 Euro. Da man für einen Blogbeitrag schnell ein, zwei Stunden braucht, habe ich auf das Vergnügen verzichtet. Anderswo gab es in der Herberge zwar W-LAN, aber keinen öffentlichen Computer. Und ein Laptop hatte ich denn doch nicht mit aufs Motorrad packen wollen, irgendwann ist ja auch mal Schluss.

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Inzwischen bin ich – nach zweieinhalb Wochen und 5.500 gefahrenen Kilometern – längst wieder zuhause in Aachen. Damit ist es mit dem Reisebloggen natürlich vorbei.

Egal. Da mir aber einige Leute zu verstehen gegeben haben, dass ihnen die Bilder bislang ganz gut gefallen haben, werde ich die Tour einfach nach und nach von hier aus abarbeiten. Das ist dann zwar nicht mehr live, aber wenigstens vollständig. Außerdem sind die Fotos von der 600 Meter hohen Preikestolen-Felsklippe wirklich nicht schlecht geworden (das ist kein Eigenlob – es wäre eine Kunst gewesen, so ein spektakuläres Motiv nicht brauchbar abzulichten).

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Die Fotos auf dieser Seite entstanden am Abend nach meiner Ankunft in Hønefoss. Nachts zwischen zwei und drei Uhr.

Wie man sieht, ist es zwar noch nicht ganz die berühmte Mitternachtssonne. Die bleibt nämlich ganz über dem Horizont stehen. Um sie zu sehen, muss man noch ein gutes Stück weiter nach Norden fahren.

Doch es ist kurz vor der längsten Nacht des Jahres, und dann geht auch in Hønefoss die Abenddämmerung nahtlos ins Morgengrauen über. Der Vollmond kommt noch dazu – man könnte fast noch ein Buch lesen, nachts um halb drei in Norwegen.

Oder etwas bloggen. Wenn es einen PC geben würde.